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       # taz.de -- Bellingcat-Recherchen zu Pentagon-Leaks: „Eine gewisse Besessenheit“
       
       > Die Gruppe Bellingcat ist auf Recherche in frei verfügbaren, offenen
       > Quellen spezialisiert. Sie hat die Quelle der Pentagon-Leaks aufgedeckt.
       
   IMG Bild: Festnahme des Mitarbeiters des US-Militärs, der sicherheitsrelevante Dokumente aus dem Pentagon veröffentlicht hatte
       
       In einem Gamer-Chat hat ein Mitarbeiter des US-Militärs geheime Dokumente
       gepostet. So kamen die [1][als Pentagon-Leaks bekannten Papiere] an die
       Öffentlichkeit. Herausgefunden hat das Aric Toler, Investigativjournalist
       bei Bellingcat.
       
       Bellingcat ist ein weltweit agierendes Recherche-Kollektiv mit Sitz in
       Amsterdam. 30 feste Mitarbeiter*innen hat das Projekt mittlerweile,
       die in über 20 Ländern weltweit leben und arbeiten. Einer breiteren
       Öffentlichkeit bekannt wurde es 2014. Am 17. Juli des Jahres wurde [2][die
       Passagiermaschine MH17 über der Ostukraine abgeschossen.] An Bord des
       Malaysia-Airlines-Flugs waren 298 Menschen, die von Amsterdam nach Kuala
       Lumpur unterwegs waren: 283 Passagiere und 15 Crewmitglieder. Sie alle
       starben.
       
       Für den Abschuss wurden schnell pro-russische Milizen beschuldigt. Beweise
       gab es zunächst keine. Im August begann ein von offiziellen Stellen
       eingesetztes internationales Team aus niederländischen, malaysischen,
       australischen, belgischen und ukrainischen Ermittler*innen, die
       Hintergründe zu ergründen.
       
       Bereits im Juli begann auch Bellingcat zu recherchieren, angeführt von
       Eliot Higgins, der die Rechercheplattform 2014 gegründet hat. Higgins, ohne
       journalistische oder militärische Ausbildung, hatte zuvor in einem anderen
       Blog in Syrien eingesetzte Waffensysteme analysiert. Seine Recherchen
       stützte er vor allem auf Videoclips. Waffen, die darin zu sehen waren,
       identifizierte er beispielsweise aufgrund ihrer Form oder Gravuren, die den
       Typ angaben. Wusste er nicht weiter, fragte er Nutzer*innen auf Facebook
       oder Twitter.
       
       ## Bellingcat nutzt Informationen aus frei verfügbaren, offenen Quellen
       
       Recherchen, die auf Youtube-Videos, Social-Media-Postings, Instragram-Fotos
       und ähnlichem beruhen, nennt man OSINT-Recherchen – Open Source
       Intelligence. Man nutzt Informationen aus frei verfügbaren, offenen
       Quellen. Bilder werden wiederum mit frei verfügbaren Tools auf ihre
       Echtheit geprüft. Auf den Bildern selbst suchen die Journalist*innen
       dann nach Hinweisen, beispielsweise danach, wo sie aufgenommen wurden. Man
       schaut nach Straßenschildern, Hausnummern, Gebäuden oder anderen
       Auffälligkeiten in der Landschaft.
       
       Helfen können dabei Satellitenbilder oder Aufnahmen von Google Earth. Für
       tiefere Recherchen gibt es noch weitere Webseiten, zum Beispiel solche, auf
       denen die Windrichtung zu einem bestimmten Zeitpunkt verzeichnet ist. Auch
       die Höhe eines Gebäudes kann man mit freien Tools errechnen – mittels
       Sonnenstand und Schattenwurf.
       
       Oft kooperiert Bellingcat mit größeren Zeitungen oder Zeitschriften.
       Während Bellingcat die OSINT-Analyse beisteuert, ergänzen die Partner deren
       Ergebnisse mit Vor-Ort-Recherche. Bellingcat veröffentlicht seine
       Ergebnisse immer auch auf der eigenen Webseite. „Wir haben auch eine
       Bildungsmission: Wir wollen Open-Source-Techniken allen zugänglich machen“,
       sagt Bellingcat-Redakteur Maxim Edwards der taz. „Deshalb erklären wir
       unsere Recherchen Schritt für Schritt. Das dient auch der Transparenz.“
       
       Bei der Recherche zum Absturz der MH17 schaute sich Higgins wieder Videos
       an. Verglich anhand von Bildern aus Überwachungskameras aus der Gegend, ob
       der vom ukrainischen Militär behauptete Ort stimmen kann, analysierte
       Satellitenbilder. So kam Bellingcat schließlich zum Schluss: Eine
       Buk-Rakete aus dem Rebellengebiet wurde auf die Boeing abgefeuert. Das
       bestätigt später auch die offizielle internationale Ermittlungsgruppe.
       Russland streitet das ab.
       
       ## Giftanschlag auf Skripal
       
       Am 4. März 2018, einem Sonntagnachmittag, fanden Passant*innen in der
       englischen Kleinstadt Salisbury einen Mann und eine junge Frau
       [3][bewusstlos auf einer Parkbank] und holten Hilfe. Es sind Sergei
       Skripal, ein in Großbritannien aufgenommener Überläufer des russischen
       Geheimdienstes, und seine Tochter. Sie sind vergiftet worden. Bellingcat
       untersuchte Fotos von den Pässen von zwei Verdächtigen, die die britische
       Polizei herausgegeben hat: Sie wurden 2009 ausgestellt, vorher waren die
       Männer in keiner Passdatenbank zu finden. Die Pässe hatten fast identische
       Passnummern, aus einer Serie, die der russische Militärgeheimdienst GRU
       ausstellt. So wurden die Täter identifiziert.
       
       Auch in Berlin wurde Bellingcat aktiv. Am 23. August 2019 wurde der
       georgische Staatsbürger tschetschenischer Herkunft Selimchan Changoschwili
       erschossen. Ein Russe wurde [4][für den „Tiergartenmord“] festgenommen.
       Bellingcat konnte auch seinen Pass dem russischen Geheimdienst zuordnen.
       Gemeinsam mit Partnern von Spiegel und „The Insider“ identifizierten sie
       ihn schließlich per Gesichtserkennungssoftware.
       
       Knapp eineinhalb Jahre später konnte Bellingcat – wiederum in der Ukraine –
       beweisen, dass über zivilen Gebieten in der Ukraine Streumunition zum
       Einsatz gekommen ist. [5][Auch andere Medienhäuser recherchierten mit Hilfe
       von OSINT zum Krieg in der Ukrain]e. Mittels Aufnahmen von
       Überwachungskameras konnte unter anderem die Financial Times russische
       Soldaten identifizieren, die für die Massaker in Butcha verantwortlich
       sind.
       
       „Die Invasion in der Ukraine nimmt uns besonders in Anspruch“, sagt Edwards
       der taz. Aber Bellingcat habe in letzter Zeit auch zu anderen Themen
       gearbeitet: „Wir haben über den Aufenthaltsort der Angolanischen damaligen
       Milliardärin Isabel Dos Santos berichtet und öffentlich gemacht, dass
       rechte US-Milizen auf mexikanisches Territorium vordringen. Für beide
       Recherchen haben wir uns auf Fotos auf Social-Media-Kanälen gestützt.“
       Viele der Tools seien einfach zu benutzen. Für eine gute Recherche brauche
       es aber oft Tage und „eine gewisse Besessenheit, um wirklich jeden Tropfen
       Information aus dem Material herauszuholen“, sagt Edwards.
       
       ## Ein Gamer leakt Pentagon-Papiere
       
       Am 9. April 2023 veröffentlichte Bellingcat die nächste große Recherche:
       Geheimdokumente des Pentagon wurden geleakt. Das
       US-Verteidigungsministerium nennt sie „ein sehr hohes Risiko für die
       nationale Sicherheit“, andere sprechen von einer Gefahr für die Ukraine.
       Ein paar der Dokumente sollen gefälscht worden sein. Wie groß der Schaden
       tatsächlich ist, ist nicht bekannt.
       
       Aric Toler von Bellingcat hat das Leak nicht aufgedeckt, aber er erzählt,
       wie es zu dem Leak kam: Nach einer kurzen Auseinandersetzung über den Krieg
       in der Ukraine in einem Discord-Chat zum Spiel „Minecraft“ habe einer der
       Spieler geschrieben: „Hier, nimm ein paar geleakte Dokumente“ und
       veröffentliche zehn Dokumente auf dem Kanal, einige davon waren als „Top
       Secret“ markiert.
       
       Von da verbreiteten sie sich über das Imageboard 4Chan und kamen danach
       auch auf Telegram, Twitter – und schließlich an die großen Medien. Die
       Dokumente seien nicht kopiert oder gescannt, sondern abfotografiert worden,
       heißt es im Bellingcat-Artikel. Am Rand seien Ausschnitte von der Unterlage
       und aus der Umgebung zu sehen. Einige der Fotos sind auf ihrem Weg durch
       die Plattformen offenbar manipuliert worden, findet Tolar heraus. Er
       bezieht sich auf das Uploaddatum, der Qualität des Foto und Uploads auf
       anderen Kanälen. In den gefälschten Dokumenten sind die Zahlen getöteter
       ukrainischer Soldaten nach oben manipuliert, und die russischer nach unten
       manipuliert worden.
       
       Von Guardian bis Washington Post berichteten alle großen Medien über die
       Recherche. Toler identifizierte schließlich den Täter, sein Artikel dazu
       erschien in der New York Times. In der Nacht zu Freitag verkündete das
       US-Justizministerium die Festnahme eines 21-jährigen Angehörigen des
       US-Militärs als Urheber des Leaks.
       
       14 Apr 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Johanna Treblin
       
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