URI: 
       # taz.de -- Neues Album von Everything But The Girl: Zündschnur aus dem Orbit der Weisen
       
       > Das britische Duo Everything But The Girl veröffentlicht „Fuse“: Seine
       > gelassene Musik öffnet der Stimme von Sängerin Tracey Thorn neue
       > Freiräume.
       
   IMG Bild: Klasse Kombination: Tracey Thorn und Ben Watt
       
       Ab wann gilt das Werk von eingeführten Popstars als Alterswerk? Kann man es
       isoliert vom Frühwerk betrachten? Oder muss es im Zusammenhang beurteilt
       werden? Im Falle des britischen Duos Everything But The Girl, das heute
       nach 24-jähriger Pause ein neues Album veröffentlicht, bietet sich diese
       Lesart an: „Fuse“ wird seinem Titel – fuse bedeutet Zündschnur, Sicherung,
       verschmelzen, aber auch durchbrennen – auf allen Bedeutungsebenen gerecht.
       
       Es ist die Verschmelzung eines musikalischen Outputs von 1981 bis 1999, das
       die Solokarrieren der beiden 62-jährigen Künstler*innen Tracey Thorn und
       Ben Watt vor und nach dem vorläufigen Band-Aus im Jahr 2000 miteinbezieht,
       dabei in der Gegenwart verankert ist und furchtlos in die Zukunft zündelt.
       
       Die Songtexte von Sängerin Tracey Thorn kreisen schon immer um
       Persönliches, beschreiben häufig konkrete Situationen und Gefühle – wie
       etwa im Song „We Walk The Same Line“ von dem Album „Amplified Heart“
       (1994): „If you lose your faith, babe / You can have mine.“ Es ist eine
       Liebeserklärung an Watt und zugleich Durchhalteparole.
       
       1992 drohte Watt an einer seltenen Autoimmunerkrankung zu sterben. Öfter
       noch schöpfen Thorns Texte universelle Kraft aus dem Nichtgesagten: „What
       is it that I think I need? / Is there love in me that wants to be freed?“
       („I Don’t Understand Anything“, von „Amplified Heart“).
       
       Mit dem Text der ersten Singleauskopplung von „Fuse“, „Left To Lose“,
       schlägt die Künstlerin einen Bogen zurück zum größten Hit des Duos,
       „Missing“, der im Remix von US-House-Produzent Todd Terry 1995 monatelang
       in den Charts platziert war. Wie schon in „Missing“ kehrt die Stimme des
       Songs zum Haus des besungenen „Du“ zurück.
       
       Während sie in „Missing“ ihre Unzulänglichkeiten für den Kontaktabbruch
       verantwortlich macht, bittet sie in „Fuse“ um Hilfe: „Tell me what to do /
       ’Cause nothing works without you.“ Die Sehnsucht von „Missing“ wird in
       „Left To Lose“ mit abgeklärtem Fatalismus abgepuffert. „What is left to
       lose? /Nothing left to lose.“
       
       ## Angenehm leer
       
       Thorns nach wie vor überwältigende Stimme stellt einen vor vollendete
       Tatsachen. Der Song hebt zwar nicht gerade die Stimmung, aber die Leere,
       die er hinterlässt, fühlt sich angenehm an. Das liegt an den Sounds. Watts
       züngelnde Hi-Hats und klickernde Drumbeats, die eine gewisse Hektik
       erzeugen, ab und zu eingestreute Subwooferbässe, dazu ein Sound wie aus
       diesen Plastikrohren, die man über’m Kopf schwingt, und melodische
       Dissonanzen vermitteln: kein Aufgeben, niemals. „Kiss me while the world
       decays/Kiss me while the music plays.“ Sind das die Segnungen des Alters?
       
       Der Weg dahin war lang: Als sich Tracey Thorn und Ben Watt 1981 in der
       nordenglischen Universitätsstadt Hull kennenlernen, haben die beiden 20-
       und 19-Jährigen unabhängig voneinander einen Plattenvertrag mit dem
       Londoner Indielabel Cherry Red in der Tasche. Thorn hat dort mit ihrer
       All-Girl-Band Marine Girls das Album „Beach Party“ veröffentlicht. Seiner
       entspannt-obstinaten DiY-Attitüde ist anzuhören, dass Punk Thorn und ihren
       Kolleginnen den Weg raus aus der Vorstadt geteert hat. Watts 1981
       erschienene Single „Can’t“ wurde von [1][Kevin Coyne] produziert und
       offenbart seine im experimentellen Folkjazz liegenden Wurzeln.
       
       Thorn schreibt in ihrer Autobiografie „Bedsit Disco Queen“ (2013), der
       A&R-Manager von Cherry Red, Mike Alway, hätte in ihrer Stimme ein Talent
       gehört, das ihn an den brasilianischen Fußballstar Pelé erinnerte. Deshalb
       bringt er Watt dazu, Thorn in Hull aufzuspüren. Die beiden sollen gemeinsam
       eine Single aufnehmen, A-Seite ein Marine-Girls-Song, B-Seite einer von
       Watt. Am Ende der Session jammen sie Cole Porters „Night and Day“ – dabei
       heraus kommt der erste Hit von Everything But The Girl (EbtG). Die
       zurückgelehnte Rauchglasversion des Klassikers hält sich 30 Wochen in den
       britischen Charts.
       
       ## Werbung für Möbelgeschäft
       
       Hätten sie geahnt, dass aus EbtG ein Langzeitprojekt würde, hätten sie nach
       einem etwas geschmeidigeren Namen gesucht und ihn nicht von einem
       Werbeplakat eines Möbelgeschäfts abgekupfert, erinnert sich Thorn in
       „Bedsit Disco Queen“. Mit der Veröffentlichung ihres Debütalbums „Eden“
       lässt sich das Duo, inzwischen auch privat ein Paar, bis 1984 Zeit, beide
       verfolgen ihre Soloprojekte, und Thorn bringt mit den Marine Girls noch ein
       Album heraus. Auch als EbtG beschränken sie sich nicht auf Zweisamkeit,
       rekrutieren Gastmusiker und mischen anderswo mit.
       
       In der Folgezeit orientiert sich das Duo musikalisch weg vom herben
       Folkjazzpop von „Eden“, über luftigen Gitarrenpop („Love Not Money“, 1985)
       und eine orchestrale Wall-of-Sound – („Baby, The Stars Shine Bright“, 1986,
       Thorns Stimme besteht spielend neben dem Orchester des Radiohits „Come On
       Home“), bis hin zum etwas beliebigen Elektronikpop von „Idlewild“ (1988).
       Danach Ausflüge in den Mainstream, einige Flops.
       
       Kurze Verschnaufpause, und dann der Meilenstein: „Amplified Heart“ (1994) –
       nicht nur das unsterbliche „Missing“, jeder Song wirkt wie eine Statue, die
       Arrangements leicht, rhythmische Gitarren treffen auf elektronische
       Hydrauliksounds, die bei [2][„Walking Wounded“ (1996)] stilvollen Schrittes
       zum Drum ’n’ Bass aufschließen. Zwischendrin wurde Thorn [3][von Massive
       Attack] um einen Gesangsbeitrag gebeten. Sie bekommt ein Demo, hört sich
       die Skizze eine Woche lang an und schreibt dann in 15 Minuten den Text, an
       dem sie nichts mehr ändert. Mit Bedacht wendet sich Thorn darin gegen den
       seinerzeit salonfähigen stumpfen Hedonismus. Die Gesangsmelodie kommt wie
       von selbst zu ihr. Der Song heißt „Protection“ und wird zum Hit.
       
       ## Blame it on the Bühnenangst
       
       Als der hochglänzende Dancefloor-Chiller „Temperamental“ 1999 erscheint,
       sind die Zwillinge des Paares schon geboren, Thorn entscheidet sich, zu
       pausieren und zu Hause zu singen. Auf einer Bühne hat sie seitdem
       tatsächlich weder gesungen noch ihre Soloalben vorgestellt – blame it on
       the Bühnenangst.
       
       Dafür bestreitet sie Lesungen – aus ihren inzwischen vier autobiografischen
       Büchern, die mitreißend sind, weil Thorn darin Haltungen und
       [4][Entwicklungen in der britischen Independent- und
       Mainstream-Musikindustrie] der achtziger Jahre an ihrer Biografie spiegelt.
       Ben Watt gründet derweil ein Dance-Label, wird Clubbetreiber,
       veröffentlicht Soloalben und zieht als House-DJ um die Häuser.
       
       Musikalischer Wandel in ihrer Karriere vollzieht sich nicht nur am
       Zeitgeist, sondern auch aus Lust am Experiment. Sie wollten die Wirkung von
       Thorns Stimme in unterschiedlichen Soundgefilden erforschen, schreibt sie
       2015 in „Naked At The Albert Hall“. In dem Buch denkt sie über verschiedene
       Aspekte des Singens und der Stimme nach, den psychischen und physischen
       Auswirkungen sich als auf Sänger*in und die Zuhörenden und der bewussten
       Steuerung des Gesangs.
       
       ## Im Körper wohlfühlen
       
       Die luftigen Arrangements auf „Fuse“ sind darauf ausgerichtet, Thorns
       Stimme zu tragen. Vielleicht ist auch das ein Aspekt von Alterswerk: Tracey
       Thorn verkündet in „Naked“, sich wohl in ihrem Körper zu fühlen. Passend
       dazu sind die Songs in der Gegenwart verortet, die Zukunft kann ruhig
       kommen, die Vergangenheit trägt sie selbstverständlich und bar jeder
       Nostalgie mit sich herum.
       
       Everything But The Girl strahlen Zufriedenheit aus – im Gegensatz zur
       hilflosen Verzweiflung, die 1996 etwa das Album „Walking Wounded“ ummantelt
       –, aber machen es sich dabei nicht bequem. Beats und Handclaps im Song
       „Caution To The Wind“ suggerieren Vorwärtsdrang. „I’ve waited all my life
       for such a night / I’m home“. Der Song „Run A Red Light“ plädiert dafür,
       loszulassen: „Forget the morning / This is the night“, über den
       Pianoteppich lässt sich zu sparsamen Keksdosen-Beats und verzerrten
       Synth-Sounds in den Sonnenaufgang taumeln, während die auf- und
       absteigenden Pianoakkorde in „When You Mess Up“ das Gefühlschaos der
       beratenen Person spiegeln.
       
       Er oder sie sieht wieder jung aus, weil in sozialen Nöten – merke: Mit
       zunehmendem Alter sind gesellschaftliche Bekneifungen schnurz. Die
       Absolution zum Ausschweifen wird per Autotune erteilt – wie eine
       allwissende Stimme aus dem Orbit der Weisen. Ähnlich durchdacht ist der
       (hörbare) Autotune-Einsatz bei „Lost“ und „Forever“. Bisher hatte Thorn
       eher den (nicht hörbaren) korrigierenden und daher den Aufnahmeprozess
       beschleunigenden Effekt von Stimmeffekten zugelassen.
       
       „No One Knows We're Dancing“ kreuzt relaxte Beats mit hyperaktiven
       Synthieschlaufen und löst damit die upliftenden Versprechen des Dancefloors
       ein. Thorn, die sich weniger als Sängerin sieht, sondern eher als eine
       Person, die singt, spricht in „Naked“ mit [5][Romy Madley Croft von the xx]
       über Schüchternheit (bei beiden enorm) und Bühnenangst.
       
       Und ihre gemischten Gefühle beim Karaoke, die sie im gleichnamigen Song
       besingt: „I like the mike / I like the dark / I like the mood“, dabei kommt
       es zum Call-and-response-Zwiegespräch von Backingvocals und Leadstimme. „Do
       you sing to heal the broken hearted?“ Antwort 1: „Faces to the wall.“
       Antwort 2: „Oh, you know I do.“ – „Or do you sing to get the party
       started?“ – Antwort 1: „Oh, not at all.“ Antwort 2: „And I love that, too.“
       Es wirkt nicht, als würde Thorn der Rückkehr auf die Bühne entgegenfiebern.
       Aber vielleicht wäre die Angst inzwischen auszuhalten.
       
       20 Apr 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Kevin-Coyne-zum-75-Geburtstag/!5567886
   DIR [2] /Archiv-Suche/!1448443&s=Tracey+Thorn&SuchRahmen=Print/
   DIR [3] /Ruhrtriennale-in-Duisburg/!5060428
   DIR [4] /Dub-von-Roisin-Murphy-und-Crooked-Man/!5780654
   DIR [5] /The-xx-mit-neuem-Album/!5373875
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sylvia Prahl
       
       ## TAGS
       
   DIR Pop
   DIR England
   DIR Neues Album
   DIR Soundtrack
   DIR Pop
   DIR Elektro
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Avantgarde-Filmmusik aus Italien: Tanzende Körper einfangen
       
       Francesca Bono und Vittoria Burattini liefern mit „Suono in un tempo
       trasfigurato“ faszinierende Soundtracks zu US-Experimentalfilmen von Maya
       Deren.
       
   DIR Biografie über Britband TV Personalities: Der Wäschebote mit heimlichen Hits
       
       „Dreamworld“ von Benjamin Berton ist eine ergreifende Biografie der
       britischen Band Television Personalities und ihres tragischen Helden Dan
       Treacy.
       
   DIR The xx mit neuem Album: Intimität als Show
       
       Am Freitag erscheint „I See You“, das neue Album von The xx. Und
       tatsächlich hat sich die britische Band damit neu erfunden.