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       # taz.de -- Lauschen ist menschlich: Das Ohr zur Welt
       
       > Wir alle lauschen in die Welt hinein. Das gehört zum Leben dazu, auch
       > wenn wir dadurch Dinge erfahren, die nicht für uns bestimmt sind.
       
   IMG Bild: Wegsehen geht, weghören nicht: Blume im Ohr der Statue „Die Kugelspielerin“ in Düsseldorf
       
       Neulich im Café. Eine Freundin und ich haben uns seit Langem nicht mehr
       gesehen. Wir teilen, was uns die letzten Monate beschäftigt hat. Worte für
       uns, die sonst für keinen bestimmt sind.
       
       Ein junger Mann sitzt etwa einen Meter entfernt allein an einem Tisch und
       liest in einem Buch. Wir sehen seinen Hinterkopf und seine Ohren: groß und
       rot. Sie sehen aus, als würden sie nach hinten hören. Von Zeit zu Zeit
       dreht sich der Mann zu uns um, als wollte er abgleichen, wie die Person
       aussieht, die gerade gesprochen hat. Es wirkt, als würde ein einziges,
       riesiges Ohr vor uns sitzen.
       
       Während wir sprechen, sehen wir beide mehrmals zu ihm: „Er lauscht“, sagen
       wir zueinander. Es ist uns etwas unbehaglich zumute. „Die Menschen in
       Deutschland lauschen“, sagt die Freundin. Ein Bekannter von ihr hätte das
       gemeint: „Das hätte noch mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun, dass die
       Menschen mit vier Ohren hören und aufpassen würden. In anderen Ländern sei
       das nicht so.“
       
       Meine Freundin war gerade in Indien. Sie erzählt, dass sie dort ständig von
       verschiedensten Menschen angesprochen worden war. Die Cafés seien dort
       nicht so still, dass dort einzelne Stimmen im Raum erkennbar seien.
       
       Zuhause denke ich noch über das Ohr des Mannes nach. Ich denke darüber
       nach, was ich gesagt habe. Dann wird mir bewusst, dass ich der Welt auch
       schon etwas abgerungen habe. Dass ich auch in sie hineinlausche. Nicht
       absichtlich und spionierend. Aber auch ich schnappe auf, was um mich herum
       gesprochen wird, und manchmal behalte ich diese Stimmen in Erinnerung.
       
       Vor Kurzem im Café war ich die Frau, die einen Meter entfernt saß. Vor mir
       saß eine Freundinnengruppe, eine von ihnen erzählte von ihrer Fehlgeburt
       und die anderen hörten zu. Ich hätte mich wegsetzen müssen, um ihre Worte
       nicht zu hören. [1][Es ging gar nicht anders.] Wir Menschen können nicht
       aktiv weghören, so wie wir wegsehen können. Denn die Ohren können wir nicht
       verschließen, so wie wir mit unseren Lidern die Augen bedecken können.
       
       Die Frau im Café senkte nicht ihre Stimme, als sie von sich erzählte. Ich
       bemühte mich, nicht hinzuhören, doch noch später blieben mir die Antworten
       ihrer Freundinnen im Gedächtnis. Ich fragte mich, welche Gefühle in ihren
       Reaktionen mitgeschwungen hatten. Ich überlegte, wie das wohl für die Frau
       im Nachhinein gewesen sein muss, dieses persönliche Erlebnis im Café zu
       erzählen. Und ich überlegte, ob sie mich wohl auch bemerkt hatte.
       
       Aber lauschen wir nicht alle? Nicht in einem spionierenden Sinne. Doch
       ringen wir nicht immer der Welt etwas ab? Wir hören unweigerlich zu: den
       Stimmen, der Sprache, der Musik der anderen, dem Rauschen der Gesellschaft,
       allem, was um uns herum ist. Durch dieses In-die-Welt-Lauschen entstehen
       Moderichtungen, soziale Strömungen, ein gesellschaftliches Wir und jedes
       einzelne Ich. Ja, sobald wir vor die Tür gehen, beginnen wir unweigerlich
       zu lauschen.
       
       Interessant ist auch, dass es keinen Begriff für das Zuhören im ähnlich
       negativ konnotierten Sinne wie für das Gaffen, das voyeuristische Zuschauen
       gibt. Denn Lauschen kann auch etwas Positives, Zärtliches sein. Ich lausche
       dem Flüstern des Windes. Ich lausche dem Rauschen der Blätter. Ich lausche
       der zärtlichen Stimme eines vorlesenden Menschen.
       
       Ein äquivalenter Begriff für das Gaffen wäre vielleicht das „Ab-hören“. Es
       ist das Gegenteil von Zuhören. Denn das Zu-hören gibt der erzählenden
       Person etwas, es gibt ihr Raum. Während das Ab-hören nur etwas [2][aus dem
       Raum der anderen klaut].
       
       Aber vielleicht ist es auch gleichgültig, ob andere ab-hören oder
       belauschen. Das Eigentliche bleibt ja doch für uns allein. Die anderen
       können es uns nicht weghören. Vielleicht ist es wie beim [3][„kleinen
       Prinzen“]. Man hört nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die
       Ohren unhörbar.
       
       9 May 2023
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Christa Pfafferott
       
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