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       # taz.de -- Indierock mit Yo La Tengo: Nicht nur ein nostalgischer Moment
       
       > Wieso sollte Indierock keine relevante Größe sein? Im Kölner Gloria
       > fanden sich ältere Männer, Twens und Yo La Tengo in einem krachend
       > zärtlichen Abend.
       
   IMG Bild: Eine Band des allgemeinen Vertrauens: Yo La Tengo
       
       Zwei Vorstellungen schwirren offensichtlich durch den Raum, wenn es um Yo
       La Tengo geht. Dass die Konzerte ausschließlich von Musikkritikern
       (männliche Form bewusst gewählt) besucht werden. So mein Redakteur zu mir.
       Und/oder sie seien musicians’ musicians. So der Freund, der mir für den
       Abend dankenswerterweise eine Schlafstätte zur Verfügung stellt. Ich bin
       nämlich extra von Bremen nach Köln gefahren, um eine meiner Lieblingsbands
       zu sehen.
       
       So stehe ich also um kurz nach acht im Gloria – einem ehemaligen Kino,
       roter Plüsch an den Wänden, die Diskokugel über mir – und schaue mich um.
       Viel Zeit habe ich nicht, mir das Publikum genauer anzuschauen, denn kaum
       angekommen, betritt das [1][Trio aus Hoboken/New Jersey] auch schon die
       Bühne.
       
       Vor der ist das Publikum nicht uninteressant gemischt. Klar, da sind ältere
       Fans wie ich, das Haar, sofern noch vorhanden, grau. Da sind die
       mittlerweile fast obligatorischen Väter mit ihren Teenagertöchtern. (Da
       werde ich glatt neidisch, meine Tochter würde auf keinen Fall mit mir auf
       eines meiner komischen Konzerte gehen.) Hinter mir stehen drei weibliche
       Früh-Twens im Light-Emo-Look.
       
       Dies ist also kein reiner Nostalgietrip alternder Indierock-Fans. Yo La
       Tengo sind immer noch relevant. Aber: Sind das hier jetzt alles
       Musiker:innen? I doubt it. Oder gar alles Musikkritiker:innen? No way. Yo
       La Tengo haben Fans, die nichts mit der Business-Seite der Musik zu tun
       haben. Das Konzert ist seit zwei Monaten ausverkauft.
       
       Was beim Publikum im Gloria nicht sonderlich ausgeprägt ist, ist das
       Phänomen, das Konzert vor allem durch den Bildschirm des Smartphones
       wahrzunehmen. Die Einzelnen, die gelegentlich Fotos machen, gehören
       allerdings tatsächlich zur bereits erwähnten Spezies älterer Männer. Die
       Twens hinter mir machen das nicht. Der Typ neben mir checkt doch
       tatsächlich – nachdem er ein paar Minuten gefilmt hat – die
       Bundesliga-Ergebnisse. Das geht gar nicht.
       
       Schnell weg hier. Da vorne, näher an der Bühne, ist doch noch Luft. Ich
       lande pünktlich zum zweiten Set neben einem Mann im Anzug, der jedes Mal,
       wenn der Mensch vor ihm anfängt zu wippen, eine schützende Hand vor sich
       hält. Egal. Hier kann man gut sehen und bekommt akustisch die volle
       Breitseite ab. So soll es sein.
       
       Gestartet sind Yo La Tengo an diesem Abend mit einem einstündigen, ruhigen,
       psychedelisch-atmosphärischen Set. Um dann nach der Pause das Haus richtig
       zu rocken. Neben freieren Spielarten des Jazz gibt es keine bessere
       Livemusik als diese Mischung aus Melodie und Krach, wie sie Yo La Tengo
       besonders beherrschen.
       
       Wenn dazu noch ein steady Beat kommt, bin ich im Himmel. Der
       Standardvergleich, der für Schlagzeugerin Georgia Hubley immer bemüht wird,
       ist Maureen Tucker, legendäre Velvet-Underground-Drummerin. Das stimmt auch
       bei den Stücken, zu denen Georgia singt. Da hat es tatsächlich was von
       Tuckers atavistischem Getrommel.
       
       Bei den anderen Stücken hingegen muss ich an [2][Klaus Dinger von Neu!]
       denken: ein ultra-präziser motorischer Groove. Über den Gitarrist Ira
       Kaplan die verschiedensten Arten von Lärm schichten kann. Spätestens jetzt
       ist auch der bzw. die Letzte aufgetaut. Okay, der Typ, der Angst hat, dass
       ihn jemand anrempeln könnte, wohl nicht, zumindest nicht sichtbar. Immerhin
       applaudiert er.
       
       Das Trio wird nun auch schon seit über 30 Jahren durch Bassist James McNew
       komplettiert. Georgia und Ira sind seit den 80ern ein Paar. Kennengelernt
       haben sie sich über die Liebe zur Musik. Sie sind sich immer wieder auf den
       gleichen Konzerten eher obskurer Bands über den Weg gelaufen. Und seit
       Mitte der 80er machen sie gemeinsam diese wundervolle Musik irgendwo
       zwischen 60s-Garagen-Sound, New Yorker-Proto-Punk, Sun Ra und
       Feedback-Noise.
       
       Am Ende des Abends spielen sie nach den Zugaben als Rausschmeißer ganz zart
       und leise ihr „You Can Have It All“. Nach diesem Abend fühlt sich das
       tatsächlich so an.
       
       30 Apr 2023
       
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