URI: 
       # taz.de -- 30 Jahre World Wide Web: Megageile Kükenfarm
       
       > Vor 30 Jahren wurde das World Wide Web der Öffentlichkeit erstmals zur
       > Verfügung gestellt. Ein Rückblick auf Irres, Krasses und Erstaunliches.
       
   IMG Bild: Der erste Social-Media-Star: Tardar Sauce, auch bekannt als Grumpy Cat
       
       ## 
       
       ## 30. April 1993
       
       Schon vor vier Jahren hat Tim Berners-Lee am Europäischen
       Kernforschungszentrum Cern eine schöne Sache entwickelt: das World Wide Web
       (WWW). Es macht [1][das Internet] für die Masse nutzbar. Bis dahin war es
       vor allem für E-Mails brauchbar und als komplexer Netzverbund, den vor
       allem Expert*innen bedienen konnten. Das WWW aber ist Netz aus vielen
       Seiten, die mit Hyperlinks miteinander verbunden sind und auf die man
       einfach so zugreifen kann – auch als Normalo. 1993 schenkt Cern den Code
       der Öffentlichkeit – ohne Lizenzgebühren, ohne Patentierung. Ein verrückter
       Schritt!
       
       ## 10. November 1993
       
       Um das WWW nutzen zu können, braucht es Browser, am besten welche, die
       grafisch sind, also so gestaltet, dass sich Nutzer*innen auch wirklich
       zurechtfinden. Einen der ersten liefern Eric Bina und Marc Andreessen mit
       NCSA Mosaic. Und zack, wissen die Menschen, dass und wo sie klicken können.
       
       ## 1994
       
       Jeff Bezos [2][gründet Amazon]. [3][Tschüs Fußgängerzone], hallo ungezählte
       Vorwürfe über miese Arbeitsbedingungen für [4][Lieferant*innen] und
       [5][Lagerarbeiter*innen].
       
       ## 12. Mai 1995
       
       Bezos bekommt Konkurrenz: taz.de
       
       ## 15. September 1997
       
       Google geht online – und nie wieder weg. Stand Januar 2022 laufen weltweit
       circa 80 Prozent aller Desktop-Suchanfragen über die Suchmaschine.
       
       ## 30. September 1997
       
       „Ultima Online“ wird veröffentlicht. Es ist das erste moderne Massively
       Multiplayer Online Role Playing Game. Bedeutet: Viele viele
       Spieler*innen interagieren in einer erfundenen Welt, als würden sie
       gerade ein klassisches Rollenspiel spielen. Einer der bekanntesten Ableger:
       World of Warcraft.
       
       ## 9. September 1999
       
       Es wird gesellig. „Knuddels“ geht online und wird eine der ersten
       erfolgreichen deutschen Social-Media-Plattformen. Massen chatten, finden
       Wahlfamilien und Sexualpartner*innen. Aber auch Gefahren: Immer wieder
       gerät die Plattform wegen Grooming, Mobbing und sogar Mord in die
       Schlagzeilen. Hier und bei vielen anderen Social Medias wie StudiVZ und
       Lokalisten lernen wir: Nicht alle sind so nett, wie sie tun.
       
       ## März 2000
       
       Die Dotcom-Blase platzt.
       
       ## 2001
       
       [6][Die Wikipedia] macht sich im Internet breit. „Aber nicht mit Wikipedia
       arbeiten“, ist seitdem ein häufiger Ratschlag von Lehrer*innen. Unsinn!
       Wikipedia macht Wissen für viele Menschen billiger (Ciao Brockhaus!),
       breiter, aktueller und auch demokratischer, denn alle dürfen mitschreiben,
       vorausgesetzt, sie liefern glaubwürdige Quellen.
       
       ## 2002
       
       Auf einer Fischfarm in Brandenburg wird gedreht. „Die megageile Küken-Farm“
       hat einige Plot Holes und ein bekanntes Nebenprodukt: eines der frühesten
       deutschsprachigen Memes. Ein Handwerker soll einen Stromkasten im Stall
       reparieren. „Warum liegt hier überhaupt Stroh?“, fragt er die
       Auftraggeberin, die direkt kontert: „Und warum hast du ne Maske auf?“ „Dann
       blas mir doch einen“. Die Geschichte des WWW ist teils dadaistisch und auch
       die Geschichte der [7][Pornografie].
       
       ## Januar 2003
       
       Ein Student der Psychologie und Informatik in Harvard stellt ohne Erlaubnis
       Bilder von Studentinnen online, damit Besucher*innen sie nach ihrem
       Aussehen bewerten. Nach wenigen Tagen geht die Seite offline. Ein Jahr
       später veröffentlicht der gleiche Student den Nachfolger der Seite: Mark
       Zuckerberg hat [8][Facebook] erschaffen.
       
       ## Später im Jahr 2003
       
       Kreative bekommen eine neue Plattform: MySpace. Besonders Musik ist dort zu
       Hause. Szenen können sich länderübergreifend miteinander entwickeln, Fans
       mit Idolen in Kontakt treten, Schulbands zeigen, was sie so (nicht) können.
       Für manche wird die Seite zum Start der Karriere. [9][Bei einem großen
       Server-Umzug gingen 2019 allerdings alle Fotos, Videos und Audiodateien
       verloren, die bis 2016 hochgeladen wurden]. Das digitale Album der eigenen
       subkulturellen Jugend in Pop-Punk, Emo- oder Hardcore: verloren.
       
       ## 2004
       
       Der Begriff „Web 2.0“ geht um. Er bezeichnet das WWW, wie wir es seit den
       späten 1990ern kennenlernen, in dem Menschen nicht nur konsumieren, sondern
       selbst Beiträge erschaffen und teilen.
       
       ## März 2005
       
       Megaupload geht an den Start. Hier kann man Daten hoch- und auch
       runterladen. Prä Netflix ideal, um entgegen dem Urheberrecht Filme und
       Serien zu schauen. Es folgen Verfahren gegen viele Beteiligte, [10][unter
       anderem gegen einen der Drahtzieher hinter der Seite, die vielleicht
       schillerndste WWW-Persönlichkeit Deutschlands: Kim Dotkom]. 2012 wird die
       Seite wegen Ermittlungen des FBIs abgeschaltet. Ihr Nachfolger Mega ist
       weiterhin aktiv.
       
       ## 23. April 2005
       
       In „Me at the zoo“, dem ersten YouTube-Video überhaupt, erklärt
       Youtube-Mitgründer Jawed Karim vor einem Gehege, warum er Elefanten cool
       findet.
       
       ## 21. März 2006
       
       [11][Twitter] geht online und durch die Decke. [12][Seit der Übernahme
       durch Elon Musk geht’s aber bergab].
       
       ## 2008
       
       [13][Die Hacktivist*innen von Anonymous] werden so richtig aktiv – auch
       analog. Weltweit demonstrieren sie, etwa gegen Scientology. Anonymous
       selbst ist ein schwer zu greifendes Phänomen aus Individuen und Gruppen.
       Sie setzen sich unter anderem gegen Zensur und repressive Gesetze ein. Zu
       ihren Strategien gehören besonders DDoS-Atacken, mit denen sie Websites
       lahmlegen, so etwa die der Polizeistation, [14][deren Polizist George Floyd
       getötet hat].
       
       ## Mai 2008
       
       Die ARD Mediathek startet. Bis heute ist sie nicht nett zu ihren
       Nutzer*innen.
       
       ## 2010
       
       [15][Chelsea Manning], Angehörige der US-Streitkräfte, lädt knapp eine
       halbe Million Dokumente über den Irakkrieg und Afghanistan aus einer
       Militärdatenbank herunter und brennt sie auf CDs. Eine davon beschriftet
       sie mit „Lady Gaga“. Sie gibt die Daten an die Enthüllungsplattform
       Wikileaks weiter, die sie veröffentlicht. Unter anderem auch das Video
       „Collateral Murder“, das einen Angriff auf Bagdad zeigt, bei dem
       Zivilist*innen und Journalist*innen getötet werden. Die Dokumente
       zeigen zudem Hunderte Fälle von Folter. 2013 wird Manning zu 35 Jahren Haft
       verurteilt, nach knapp 7 Jahren ist sie wieder frei – begnadigt von Barack
       Obama.
       
       ## Dezember 2010
       
       Der Arabische Frühling beginnt. Blogs und Social Media unterstützen bei der
       Mobilisierung.
       
       ## 4. April 2012
       
       Tardar Sauce wird geboren. Im September wird sie weltweit berühmt als
       Grumpy Cat.
       
       ## 2013
       
       WWW gibt es jetzt auch mit Hunden. Das Meme „Doge“ wird populär, bald gibt
       es auch die Dogecoin, eine Krypto-Währung. Die Syntax des Memes setzt sich
       später auch ohne Bild durch und prägt Sprache. Much Doge, So Love!
       
       ## Juni 2013
       
       ## Sommer 2014
       
       Menschen schütten sich Eimer voller Eiswasser über den Kopf. Bei der Ice
       Bucket Challenge wollen sie auf die Nervenkrankheit ALS aufmerksam machen –
       und Likes abräumen. Aber es hilft: Die ALS-Ambulanz der Charité etwa
       bekommt innerhalb von zwei Wochen eine halbe Million Euro Spenden.
       
       ## September 2014
       
       Netflix kommt nach Deutschland! Sieben Jahre zuvor war es in den USA
       gegründet worden – als DVD-Verleih.
       
       ## 2015
       
       Gold und weiß oder blau und schwarz? „The Dress“ möchte verändern, wie wir
       die Welt sehen, schafft es aber nur zum Diskussionsthema um 4 Uhr morgens
       bei den letzten Betrunkenen auf der WG-Party.
       
       ## 2017
       
       Vor den Bundestagswahlen macht [16][„Reconquista Germanica“] mobil. Das
       rechtsextreme Netzwerk will mit gezielten Kampagnen auf Social Media
       Algorithmen nutzen und Trends generieren, um die AfD zu stärken.
       
       ## 2018
       
       Panik! Pädagog*innen, Eltern und irgendwie eh fast alle Erwachsenen haben
       Angst vor der Momo Challenge. Im WWW und bei WhatsApp soll die gruselige
       Person Momo plötzlich auftauchen und dann unter Anwendung psychologischer
       Gewalt Kinder und Jugendliche zu gefährlichen Aufgaben zwingen. Aber: Alles
       nur eine Lüge. Die Momo Challenge hat es nicht gegeben – erst die
       gesellschaftliche und mediale Panik hat Nachahmer*innen inspiriert. Das
       Gleiche wiederholt sich dann noch mal 2016/17 als „Blue Whale Challenge“.
       
       ## 15. März 2019
       
       In Christchurch (Neuseeland) tötet der Rechtsterrorist Brenton Tarrant 51
       Menschen bei einem Anschlag auf zwei Moscheen. Seine Taten streamt er live
       auf Facebook. [17][Das Video wird millionenfach auf diversen
       Social-Media-Plattformen hochgeladen]. Die Plattformen kommen mit dem
       Löschen nicht hinterher. Kurz vor dem Terroranschlag hat ein anonymer
       Account auf 8chan, das für rechtsradikale und -extreme User*innen bekannt
       ist, einen Anschlag angekündigt und die Facebook-Seite des Attentäter sowie
       sein Manifest verlinkt. Expert*innen gehen mit Blick auf Tarrants Daten
       davon aus, dass er sich wie viele andere [18][im WWW radikalisiert] hat.
       
       ## 9. Februar 2021
       
       Das 394. District Court von Texas lädt das Video einer Online-Anhörung auf
       Youtube. Anwalt Rod Ponton kämpft darin verzweifelt gegen den Filter eines
       niedlichen Kätzchens. „I'm not a cat!“ erzählt von digitalen Treffen
       während Corona, Filtern, mit denen wir schlechte Zeiten verdrängen wollen,
       und vom Unwohlsein, plötzlich nicht mehr Mensch, sondern
       computergeneriertes Süßmö zu sein.
       
       ## 2022/23
       
       KIs betreten massenwirksam Bildflächen im WWW. Sie schreiben Programme,
       generieren Bilder, Töne, Videos und Texte. Wohin es geht? Bisher nicht
       absehbar.
       
       30 Apr 2023
       
       ## LINKS
       
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