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       # taz.de -- Reiseproviant regt an und auf: Nehmen Sie Stullen mit in den Zug?
       
       > Harte Eier, belegte Brote – Reiseproviant ist ein Vergnügen. Wäre da
       > nicht der Groll der Backshop-Fraktion. Ein Pro und Contra.
       
   IMG Bild: Kaum fährt der Zug los, steht die Frage im Raum: „Was haben wir zum Essen dabei?“
       
       ## Ja!
       
       Ich packe unsere Provianttasche und drin sind vier Käsestullen. Ich packe
       unsere Provianttasche und drin sind vier Käsestullen und zwei hartgekochte
       Eier … Ich packe unsere Provianttasche und drin sind vier Käsestullen, zwei
       hartgekochte Eier, drei Äpfel, eine Packung Haferkekse, eine Dose
       Kartoffelsalat, ein Joghurt mit Löffel, eine Tafel Schokolade, zwei
       Flaschen Wasser, Nüsse mit Maulbeeren, eine Tüte mit Linsenchips und
       Turkish Delight. Mindestens. Denn das Erste, was mich und meine Freundin
       interessiert, [1][sobald wir es uns in unseren Sitzen im Zug] in den Süden
       bequem gemacht haben, ist die Frage: „Was haben wir eigentlich zum Essen
       dabei?“
       
       Dieser Reflex, ans Essen zu denken, sobald der Zug losfährt, befällt viele.
       Schlimm, wenn dann nur eine klitschige Brezel von Ditsch und eine
       überzuckerte Cola der Coca-Cola-Company vor einem stehen. Wobei „schlimm“
       untertrieben ist, denn das, was dann da steht, sind keine Nahrungsmittel,
       sondern Füllstoff und Kloreiniger.
       
       Selbstversorgung ist der Ausweg, weil auch aufs Bordrestaurant nicht immer
       Verlass ist – zumal es kostet. Aber was sich noch herumsprechen muss: Der
       Provianttasche sollte beim Packen mindestens so viel Aufmerksamkeit
       zuteilwerden wie dem Koffer. Es geht dabei nämlich nicht nur ums leibliche
       Wohl. Es geht auch darum, Durststrecken durchzustehen. Und darum, mit Essen
       Kontakte zu knüpfen und soziale Kompetenz zu zeigen.
       
       Es geht auch darum, sich einzurichten in den Stunden, in denen jemand
       anderes dafür sorgt, dass die Wünsche nach dem Ortswechsel erfüllt werden.
       Und darum, dass dies in einer Art Geborgenheit geschieht. Denn das Abteil
       ist wie ein Mutterkuchen, die Zugstrecke wie ein Tunnel, die Ankunft wie
       eine Geburt. Ist so. Wenn ich Liebeskummer hatte, habe ich es nur in Zügen
       ausgehalten, weil ich mich geschützt fühlte. Nur dort konnte ich etwas
       essen, außerhalb war mein Magen verschlossen.
       
       Weil das hier ein ehrlicher Text ist, muss ich zugeben, dass auch ich die
       Bedeutung der Provianttasche erst lernen musste. Ich lernte es von meiner
       Freundin. Sie ist gebürtige Westberlinerin. Wenn sich ihre Familie
       aufmachte in den Urlaub und dabei zwangsläufig „die Zone“ durchfahren
       musste, war Proviant lebensrettend. „Konnte doch sein, dass wir stundenlang
       an einer Grenze feststeckten“, sagt sie. Seither packt sie sogar etwas zum
       Essen ein, wenn sie vom Wedding nach Charlottenburg fährt. Man wisse ja
       nie.
       
       Gut, das finde ich jetzt auch etwas übertrieben, aber was den Zug angeht,
       hat sie recht. Denn nicht selten steckt man auch heute fest. Signalstörung,
       Weichenstörung, Erdrutsch, Tiere auf dem Gleis. Wer Proviant dabeihat, kann
       sich zurücklehnen, Verspätung sammeln und auf diese Weise ganz relaxt: Geld
       verdienen mit der Deutschen Bahn. Eine Stunde 25 Prozent, zwei Stunden 50
       Prozent des Fahrpreises. Das läppert sich.
       
       Der allerschönste Moment aber: wenn man im Zug in solch unsicheren
       Verspätungsmomenten Proviant dabeihat und mit anderen teilen kann. Neulich
       war so eine chaotische, nächtliche Fahrt mit Strom- und Systemausfall. Und
       später, als doch wieder ein Zug fuhr, stiegen Hunderte gestrandeter,
       leidensfähiger Herthafans zu, müde von einer verlorenen Partie. Einer von
       ihnen schenkte mir eine Mandarine. Und ich schwöre, ich habe noch nie
       vorher eine so süße gegessen. Waltraud Schwab
       
       ## Nein!
       
       In den Zug kiloweise Reiseproviant mitzunehmen und ausgiebig zu essen ist
       egoistisch und gehört sich nicht. Wem nach Brotzeit ist, der soll zu Hause
       bleiben – oder ein Picknick machen. Doch stattdessen kommt bei fast jeder
       Zugfahrt mindestens eine Person den Gang entlanggeschlurft, der man ihre
       Proviantliebe an der Nasenspitze ansieht. Keine zwei Minuten nach Abfahrt
       knallt die ihre giftgrüne Thermoskanne auf den Tisch, wühlt in ihrem
       Rucksack und holt eine Tupperdose hervor. Darin matschige Pampe mit harten
       Brocken, die laut krachen, wenn die Person sie im Mund zerkaut. Sie
       stochert darin rum, schmatzt und füllt sich Tee nach, der übel nach
       gammliger Erde stinkt.
       
       Konkreter? Hier ein Beispiel aus der Vorwoche: Neben mir eine Gruppe von
       drei Frauen kurz vor dem Rentenalter. Sie sitzen laut schnatternd am
       Vierertisch. Umgeben von Plastikbehältern mit geschnittenem Gemüse.
       Paprika, Möhren und – das Schlimmste überhaupt – [2][Kohlrabi]. Sie
       knuspern, sie lachen, sie kauen laut und plaudern in tiefstem Schwäbisch.
       Sie nehmen mit ihren Boxen und Flaschen, mit ihren Gläsern voll
       Brotaufstrich und Kekstüten beinahe den ganzen Tisch ein, der schüchterne
       Anfangzwanzigjährige, der neben ihnen sitzen muss, rückt seinen Laptop so
       nah an die Tischkante, dass der beinahe runterfällt.
       
       Oder, erinnern Sie sich noch an die Coronazeit, als die sich für besonders
       schlau Haltenden die [3][Maskenpflicht im Zug] umgingen, indem sie
       pausenlos Salzstangen, Nüsse oder Chips in sich hineinstopften?
       
       Andere brauchen keine Pandemie, um sich im Zug danebenzubenehmen. Ein
       Bekannter erzählte kürzlich von zwei Frauen, die einen Wasserkocher
       dabeihatten und sich eine Tütensuppe zubereiteten. Ernsthaft?! Wurstbrote,
       die stinken. Kekse, die krümeln. Hartgekochte Eier, die noch geschält
       werden müssen, vereinen beides: den schlimmen Geruch und die schlimmen
       Geräusche. Dazu die Hinterlassenschaften auf den Tischen.
       
       Menschen, die im Zug speisen und alle 30 Minuten im Jutebeutel nach neuer
       Nahrung kramen, sind häufig Gelegenheitsfahrer. Für sie ist eine Zugfahrt
       ein Ereignis, das mit zu Hause liebevoll zubereitetem Proviant zelebriert
       wird. Oh, was haben wir denn hier noch? Ah, darauf hab ich nun Lust.
       Heidrun, gibt’s noch Tee?
       
       Nichts gegen Gelegenheitsfahrer, sie wissen es ja vielleicht nicht besser,
       aber der Zug ist öffentlicher, nicht privater Raum. Und in dem hält man
       sich an sozial vereinbarte Normen. Nimmt Rücksicht auf Mitmenschen.
       
       Man richtet sich also nicht häuslich ein, man telefoniert nicht stundenlang
       mit dem Freund, man zieht seine Schuhe nicht aus und man lackiert sich
       nicht die Nägel. Man schnarcht nicht laut, man unterhält sich auch nicht
       angeregt über die miese Beziehung, den ungeliebten Job oder die autoritären
       Grünen. Und man isst auch kein üppiges Abendbrot. Es ist übergriffig und
       nervt die Mitfahrer.
       
       Man kauft sich vor Fahrtbeginn ein nicht stinkendes, nicht zu knackiges
       Gebäckstück, isst es in den ersten zehn Minuten nach Start und guckt dann
       [4][Netflix] mit Kopfhörern oder liest ein Buch. Und dann gibt es ja auch
       noch ein Bordbistro. Das wurde erfunden, um dort zu essen. Paul Wrusch
       
       30 Apr 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Waltraud Schwab
   DIR Paul Wrusch
       
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