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       # taz.de -- Aktionstag Record Store Day: Von der Musikindustrie verdreht
       
       > Am Samstag soll der Record Store Day Lust auf Vinyl wecken. Doch viele
       > Plattenläden nehmen an der alljährlichen Werbeaktion nicht mehr teil.
       
   IMG Bild: Kundin beim Testhören im Plattenladen: Musik auf Vinyl zieht nach wie vor Leute an
       
       Hamburg taz | In der Feldstraße 48 im Hamburger Karolinenviertel gründete
       [1][Klaus Maeck] 1979 „Rip Off“, Deutschlands ersten Plattenladen für
       Punkmusik. Das Viertel im Schatten von Hochbunker und Fernsehturm war
       damals vielleicht der, mindestens aber ein wichtiger Nukleus der deutschen
       Punk- und Avantgarde-Szene. Rip Off hielt sich fünf Jahre, Punk schaffte es
       nicht mal so lange, zumindest in manchen Augen; auch die legendäre
       „Marktstube“ ganz in der Nähe schloss 2001. Gestiegen ist seitdem aber die
       Dichte an Plattenläden im Viertel.
       
       [2][Groove City] ist einer davon: 1992 eröffnet, ist der Store seit 2004 in
       der Marktstraße beheimatet, ein Jahr später übernahm [3][Marga Glanz] das
       Geschäft. „Den ersten Record Store Day erinnere ich als wahnsinnig schönen
       Tag“, erzählt sie. „Im Laden haben DJs aufgelegt, unsere Stammkunden waren
       hier. Nach dem letzten Mal, an dem wir teilnahmen, fehlten vier Bier – die
       haben wir selber getrunken, weil hier niemand war, mit dem wir Bier trinken
       wollten.“
       
       Glanz erzählt von Kundschaft, die nur Augen für die Kiste mit
       Record-Store-Days-Veröffentlichungen hatte, also für die besonderen
       Veröffentlichungen zu diesem Datum; Kundschaft, die den Laden selbst, seine
       Mitarbeiter:innen und deren Arbeit nicht wertschätzte.
       
       Danach entschied sich Groove City, nicht mehr an dem Aktionstag
       teilzunehmen. Der RSD findet seit 2007 in den USA statt, bald folgte die
       erste Ausgabe in Deutschland. Jeden Nutzen für unabhängige Plattenläden
       will Glanz ihm nicht pauschal absprechen. Ihre Erfahrungen sind persönlich
       und haben auch mit dem Sortiment zu tun: „Wir haben auch beim ersten Mal
       schon Schwierigkeiten gehabt, geeignete Sachen zu finden. Das ist für
       Läden, die auch Rock, Pop und Indie anbieten, sicherlich einfacher.“
       
       Bei Groove City hingegen werden Liebhaber:innen von Jazz, Hip-Hop, Soul
       oder Afro-Sounds fündig. Für das Team und die Kund:innen habe es von
       Anfang an eher wenige interessante RSD-Veröffentlichungen gegeben. Und wenn
       doch, waren diese teuer. „Wenn ich eine Al-Green-Single auf der Liste
       sehe, möchte ich sie schon in den Laden stellen“, sagt Glanz. „Wenn die
       dann aber 38 Euro im Einkauf kostet, frage ich mich: Warum? Und vor allem:
       Wer soll das bezahlen?“ Ihre Kund:innen hätten das Geld für solche
       Releases nicht.
       
       Die Idee hinter dem Aktionstag: Unabhängige Labels stöbern vorab in ihren
       Archiven, um dann konzertiert im späten April vergriffene Scheiben, seltene
       Schätze, unveröffentlichtes Material, Live-Mitschnitte oder Demo-Aufnahmen
       ihrer Künstler:innen über unabhängige Vertriebe und ebensolche
       Plattenläden anbieten zu können.Seit jeher sind die Einkaufspreise dabei
       hoch, eine vorgeschriebene Abnahmemenge gibt es nicht – zurückgeben, was
       sie nicht loswerden, können die Läden allerdings auch nicht.
       
       Den Grundgedanken sieht Glanz weiterhin positiv: „Das war eine schöne
       Sache. Aus unserer Sicht hat sich das geändert, als die Industrie mit
       hineingenommen wurde.“ Inzwischen sind nämlich auch Universal, Warner und
       Sony Teil des RSD.
       
       Vorgeworfen wird ihnen, den Tag als Möglichkeit der Gewinnmaximierung zu
       nutzen – indem sie planlos Platten herausbringen oder Aufnahmen ohne echten
       Repertoirewert veröffentlichen. Etwa den RSD-Release von Superstar Taylor
       Swift, einer von mehr als 400 in diesem Jahr: Eine nun erstmals auf Vinyl
       gepresste, aber schon seit 2020 digital erhältliche Studiosession eines
       millionenfach verkauften Albums; ein Videomitschnitt wurde zudem bereits
       auf Disney+ verwertet.
       
       Die Kritik an Veröffentlichungen dieser Art teilen auch Christof Jessen vom
       Hamburger Plattenladen [4][Michelle Records] und Mike Lambert, A&R bei
       [5][Broken Silence], einem der teilnehmenden Indie-Vertriebe. Beide haben
       ihre eigenen Strategien, dem entgegenzuwirken. So werde nur disponiert,
       sagt Jessen, was man auch für sinnvoll halte. Mit der Auswahl den Geschmack
       der Käufer:innen zu treffen und die Einkaufsmenge richtig einzuschätzen,
       das fordere ihn heraus.
       
       Ob die gewünschten Platten in der bestellten Stückzahl am Ende auch im
       Laden stehen, das bleibt am RSD jedoch Glückssache. Bei Michelle kann
       jede:r Kund:in dann nur jeweils ein Exemplar erwerben. So soll der
       Weiterverkauf zu Mondpreisen verhindert werden. Um den gehe es vielen
       Käufer:innen nämlich, das ist so ein Vorwurf rund um das Event.
       
       Die Teilnahme sei natürlich Werbung für die Firma und eine Möglichkeit,
       Geld zu verdienen, sagt Lambert vom Vertrieb Broken Silence. Man berate die
       Plattenfirmen aber auch dabei, welche Veröffentlichungen sich für sie
       lohnen und wie diese aufgemacht werden könnten. „Andersherum kommen auch
       Labels auf uns zu wie das der Krautrocker Kraan mit Aufnahmen eines
       Konzertes aus dem Jahr 1975, von deren Existenz die Band selbst bis vor
       Kurzem nichts wusste. Wir ermöglichen dann das Release.“
       
       Plattenhändler Jessen zufolge kann, wer gut arbeitet, durch den Record
       Store Day Geld verdienen; dieses helfe dann dabei, durch die traditionell
       schlecht laufenden Sommermonate zu kommen. Ihm geht es nicht nur beim RSD
       darum, dass Musik wieder Einzug in den Alltag hält – die aber werde immer
       mehr zur Special-Interest-Angelegenheit.
       
       Den besonderen Tag sieht er auch als Möglichkeit, um Strukturen zu
       unterstützen: „Das Geld, das eingenommen wird, geht in die Minimalgehälter
       von Leuten, die Labels machen, die sich um die Grafiken kümmern, die
       Tonstudios betreiben“, so Jessen. „An all diejenigen, die hinten sitzen,
       aber unfassbar nötig sind, um etwas auf die Beine zu stellen, um Halbgares
       ein wenig garer zu machen.“ Ob und für wen sich der RSD lohnt, ist am Ende
       wohl eine individuelle Frage.
       
       21 Apr 2023
       
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