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       # taz.de -- Hamburger Sozialausschuss: Leid von Gehörlosen sichtbar machen
       
       > Bis in die 1980er Jahre wurde Gebärdensprache systematisch unterdrückt.
       > Im Hamburger Sozialausschuss wurde am Donnerstag über die Folgen
       > diskutiert.
       
   IMG Bild: Wurde lange unterdrückt: Gebärdensprache
       
       HAMBURG taz | Wie ist die Situation von gehörlosen Senior*innen in
       Hamburg? Und werden diese wirksam für das ihnen angetane Leid entschädigt?
       Darüber wurde am Donnerstag in der Sitzung des Hamburger Sozialausschusses
       diskutiert. Der Vorsitzende Michael Gwosdz (Grüne) begrüßte die Anwesenden
       in einem „für uns etwas ungewöhnlichen Setting“. Denn die Sitzung wurde vor
       Ort und im Livestream von Gebärdensprachdolmetscherinnen übersetzt.
       
       Die rund 50 anwesenden Interessierten füllten den Zuschauer*innenraum
       auf der Empore des Sitzungssaals voll aus. Eine Mehrzahl von ihnen war
       gehörlos. Im Saal wurde über zwei große Anfragen der Linksfraktion zur
       Entschädigung von Gehörlosen, die Unrecht erfahren hatten, und zur
       Situation von gehörlosen Senior*innen heute diskutiert.
       
       In ihrem Eingangsstatement legte Cansu Özdemir (Linke), die die
       anlassgebenden Anfragen gestellt hatte, dar, „warum es auch heute noch
       wichtig ist, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen“: Seit 1880 war auf
       Beschluss des Mailänder Kongresses – einer internationalen Zusammenkunft
       von hörenden Gehörlosen-Lehrer*innen – die Gebärdensprache systematisch
       unterdrückt worden. Mit der „Deutschen Methode“, welche bis in die
       1980er-Jahre praktiziert wurde, sollten gehörlose Kinder „normal“ gemacht
       werden, indem ihnen unter Zwang Lippenlesen und die Lautsprache beigebracht
       wurde.
       
       „Ungefragt und auch gegen den Willen der Kinder wurde ihnen zum Beispiel am
       Mund ‚herumgefingert‘, an den Wangen gezogen oder es wurden Gegenstände in
       den Mund eingeführt und bewegt“, heißt es in der Anfrage der Linken. Die
       [1][Kommunikation mit Gebärden] wurde als „Gefuchtel“ abgewertet, verboten
       und unter Strafe gestellt. Die Folge war, laut Özdemir, sprachliche
       Deprivation – also der Entzug von Sprache, der bei Kindern in der
       Gehirnentwicklung dazu führen kann, dass die für die Sprache wichtigen
       Systeme nicht ausgebildet werden.
       
       ## Andauerndes Unrecht
       
       „Das Unrecht wirkt bis heute fort“, sagte Özdemir und legte dar, dass
       gehörlose Menschen so keine guten Kompetenzen sowohl in Gebären- als auch
       Lautsprache erlernen konnten. In der Folge seien sie von akademischen und
       höher bezahlten Berufen ausgeschlossen gewesen, hätten heute niedrigere
       Renten und seien „auffällig“ von Armut betroffen. Sozialsenatorin Melanie
       Schlotzhauer (SPD) widersprach und wollte nicht von „auffälliger Armut“
       sprechen. In der Antwort des Senats hatte dieser mitgeteilt, das 64
       gehörlose Hamburger*innen Grundsicherung im Alter erhalten.
       
       Die Zahl sei aber höher, sagte Özdemir der taz. Das habe der
       Gehörlosenverband ihr mitgeteilt. Zudem bekämen nicht alle von Armut
       betroffenen älteren Gehörlosen die Grundsicherung, da alleine der
       notwendige Antrag für einige eine Hürde darstelle, die sie ohne Assistenz
       nicht überwinden könnten.
       
       Ein weiterer Diskussionspunkt war die Entschädigung von Gehörlosen, die in
       ihrer Kindheit und Jugend Unrecht erfahren haben. Menschen die von 1949 bis
       1975 in Einrichtungen der stationären Behindertenhilfe untergebracht waren
       und dort Unrecht erfahren haben, konnten über die Stiftung Anerkennung und
       Hilfe eine Entschädigung beantragen. Für die Zeit [2][ab 1976 gilt das
       Opferentschädigungsgesetz] (OEG) – ein Bundesgesetz, über das Betroffene
       Ansprüche einklagen können.
       
       Das Problem: Um nach dem OEG Ansprüche geltend machen zu können, muss ein
       „vorsätzlich rechtswidriger tätlicher Angriff“ passiert sein. „Im Falle
       (rein) psychischer und kultureller Gewalt liegen in aller Regel keine
       tätlichen Angriffe vor, sodass sich in diesem Fall keine Ansprüche nach dem
       OEG ergeben“, heißt es in der Senatsantwort. Die Senatorin betonte zwar,
       dass man sich „dafür stark gemacht“ habe, dass auch diese Gewaltformen von
       OEG abgedeckt werden, was aber „nicht mehrheitsfähig“ gewesen sei. „Das
       bedauern wir“, sagte Schlotzhauer.
       
       Die Senatorin versprach das Thema 2024, wenn Hamburg den Vorsitz der
       Sozialminister*innenkonferenz innehat, auf der Bundesebene
       einzubringen. Dass psychische und kulturelle Gewalt nicht anerkannt werden,
       sei ein generelles Problem, das für eine größere Personengruppe wie etwa
       von sexistischer Gewalt Betroffene gelte. Deshalb sei es nicht sinnvoll,
       für dieses Problem eine Lösung auf Landesebene zu suchen.
       
       ## Linke fordert schnelle Entschädigung auf Landesebene
       
       Genau diese Landeslösung forderte Özdemir, die betonte, dass es sich nicht
       um Einzelfälle, [3][sondern strukturelle Unterdrückung] gehandelt habe, da
       die „Deutsche Methode“ ja ein Konzept gewesen sei. Die Linkenpolitikerin
       forderte zweigleisig zu fahren und für Hamburg eine eigene
       Entschädigungs-Stiftung ins Leben zu rufen. Unterstützung erhielt sie dafür
       auch von der CDU. Özdemir befürchtet, dass der Prozess auf Bundesebene
       „Jahre dauern“ könnte. Und „es geht ja auch um ältere Menschen“, sagte sie
       der taz.
       
       Cansu Özdemir will nun auf die inklusionspolitischen Sprecher*innen der
       Fraktionen zugehen und sich für eine Expert*innenanhörung einsetzen.
       In dieser sollen Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen zu Wort
       kommen sowie „[4][Betroffene, die sich intensiv mit dem Thema befasst
       haben]“.
       
       21 Apr 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Uebertragung-von-Poesie/!5810653
   DIR [2] /Konsequenzen-aus-den-Heim-Skandalen/!5883786
   DIR [3] https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/Leben-ohne-Muttersprache-Gehoerlose-in-Ost-und-West,gehoerlose110.html
   DIR [4] /Gehoerloser-Politiker-ueber-seinen-Hungerstreik/!5811647
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Franziska Betz
       
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       bezahlen gehörlose Menschen ihre Dolmetscher:innen aber selbst,
       kritisiert Steffen Helbing.