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       # taz.de -- Repression in Nicaragua: Doppelte Kriminalisierung
       
       > Das diktatorische Regime hat Journalismus in Nicaragua unmöglich gemacht.
       > Unabhängige Medien versuchen aus dem Exil weiterzuberichten.
       
   IMG Bild: Vor dem Exil: Carlos Fernando Chamorro (M) in Nicaraguas Hauptstadt umringt von Polizisten
       
       Am 15. Februar wurde uns, [1][94 nicaraguanischen Staatsbürgern], von dem
       Regime Daniel Ortegas und seiner Ehefrau Rosario Murillo die
       Staatsbürgerschaft entzogen. Es war ein illegaler, verfassungswidriger Akt,
       der zudem internationale Abkommen verletzt, denen Nicaragua beigetreten
       ist.
       
       Auf der Liste der 94 sind 11 Journalisten, Chefredakteure im Exil von
       Medien wie [2][Confidencial], [3][100% Noticias], [4][Artículo 66],
       [5][Nicaragua Investiga], [6][Radio Darío], [7][Divergentes], [8][Café con
       Voz] und anderen.
       
       Sechs Tage vorher, am 9. Februar, waren [9][222 Personen], allesamt
       politische Gefangene, aus dem Gefängnis entlassen, in die USA verbracht und
       ausgebürgert worden – darunter 12 Medienschaffende von [10][La Prensa],
       Doble Play, canal 10, 100% Noticias und einigen Lokalmedien.
       
       Sie alle waren ohne jeden Beweis für Delikte wie „Verschwörung gegen die
       nationale Souveränität“, „Geldwäsche“ oder „Verbreitung von
       Falschnachrichten“ verurteilt worden und saßen bis zu 600 Tage im Gefängnis
       El Chipote ein.
       
       ## Staatliche Repressalien auf allen Ebenen
       
       Als Ergebnis der politischen Verfolgung gibt es in Nicaragua keine
       unabhängigen Informationsquellen mehr, die eine Nachricht bestätigen
       würden, denn sie alle fürchten staatliche Repressalien. Diese doppelte
       Kriminalisierung sowohl der Presse- als auch der Redefreiheit – um
       Journalisten, ihre Quellen und die Meinungsfreiheit zum Verstummen zu
       bringen – ist die letzte Etappe eines langen Prozesses der Zerstörung des
       Rechtsstaats.
       
       Unter dem Polizeistaat, der de facto nach dem Aufstand von 2018 entstanden
       ist, gibt es in Nicaragua weder Versammlungs- noch Demonstrationsfreiheit.
       Das Regime [11][verfolgt die katholische Kirche] und verbietet religiöse
       Umzüge. Im Jahr 2021 wurden freie Wahlen annulliert, und seit 2022 werden
       zivilgesellschaftliche Akteure rigoros verfolgt und über 3.200
       [12][Nichtregierungsorganisationen] wurden verboten. Trotzdem leistet der
       Journalismus aus dem Exil als letzte Bastion der zerstörten Freiheiten
       Widerstand.
       
       Die Repressionen gegen Journalisten in den vergangenen fünf Jahren
       schließen Morde und körperliche Angriffe ein, Zensur des Fernsehens,
       physische Zerstörung von Medien, Zollblockaden gegen Zeitungen bis hin zur
       Beschlagnahme von Medien, der Einführung neuer repressiver Gesetze und der
       Inhaftierung von Journalisten.
       
       In einer Diktatur Journalismus zu betreiben, ist ein Akt des Widerstands,
       um weiterhin zu informieren und die Wahrheit zu berichten. Meine eigene
       Redaktion von Confidencial wurde beschlagnahmt und zweimal von der Polizei
       überfallen, im Dezember 2018 und im Mai 2021. Aber wir haben nicht einen
       Tag aufgehört, über unsere digitalen Plattformen und die sozialen Netzwerke
       Informationen zu verbreiten.
       
       ## Reorganisation im Exil
       
       Das Regime hat auch La Prensa und 100% Noticias beschlagnahmt und mehr als
       50 lokale Radio- und Fernsehstationen geschlossen. Über 150 Journalisten
       wurden ins Exil gezwungen. Ein Teil von ihnen hat sich in etwa 25 digitalen
       Medien reorganisiert, vor allem in Costa Rica, Spanien und den Vereinigten
       Staaten. Aber etwa 30 Prozent der Journalisten widmen sich anderen
       Tätigkeiten, um zu überleben, oder haben aus Angst vor Repressalien gegen
       ihre Familien ihren Beruf aufgegeben.
       
       Seit Mitte 2021 bin ich zum zweiten Mal im Exil in Costa Rica, weil ich
       nicht in Nicaragua mit einer unverschämten Anklage und einem Haftbefehl zum
       Schweigen gebracht werden will. Meine ganze Redaktion und praktisch alle
       unabhängigen Medien arbeiten aus dem Exil heraus.
       
       Im Jahr 2023 ist das Exil längst keine vorübergehende Notsituation mehr,
       sondern eine ständige Bedingung. Aus dem Exil begegnen wir der
       Herausforderung, unsere Quellen und Mitarbeiter zu schützen und weiter
       Qualitätsjournalismus zu betreiben, trotz politischer Polarisation und
       Desinformation. Wir stellen uns auch der Aufgabe, nachhaltig zu
       wirtschaften und über Spenden und Zuwendungen internationaler Stiftungen
       und Institutionen, Beiträge unserer Leser und Werbeanzeigen neue
       Finanzierungsmodelle für unabhängigen Journalismus zu entwickeln.
       
       Der Zusammenbruch des Rechtsstaats in Nicaragua ist auch ein Spiegel
       Zentralamerikas, wo die Presse durch autoritäre Tendenzen auch in [13][El
       Salvador], [14][Guatemala] und [15][Honduras] bedroht ist.
       
       Carlos Fernando Chamorro leitete bis 1994 die sandinistische Parteizeitung
       Barricada. Nach Differenzen mit der Führung um Daniel Ortega wurde er
       gefeuert und gründete 1996 die Website Confidencial. Seit Mitte 2021 ist
       er im Exil in Costa Rica. 
       
       Aus dem Spanischen von Bernd Pickert 
       
       Dieser Artikel ist am 3. Mai 2023 als Teil einer gemeinsamen Sonderbeilage
       der taz Panter Stiftung und Reporter ohne Grenzen zum Tag der
       Pressefreiheit erschienen.
       
       3 May 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Diktatur-in-Nicaragua/!5916636
   DIR [2] https://confidencial.digital/
   DIR [3] https://100noticias.com.ni/
   DIR [4] https://www.articulo66.com/
   DIR [5] https://nicaraguainvestiga.com/
   DIR [6] https://www.radiodario893.com/
   DIR [7] https://www.divergentes.com/
   DIR [8] https://www.youtube.com/channel/UCQwKSYfg1X6ny80G7_vssEQ
   DIR [9] /Nicaragua-schiebt-politische-Gefangene-ab/!5914966
   DIR [10] https://www.laprensani.com/
   DIR [11] /Bedrohte-Religionsfreiheit-in-Nicaragua/!5875565
   DIR [12] /Nicaragua-geht-gegen-NGOs-vor/!5842510
   DIR [13] /Pressefreiheit-in-El-Salvador/!5927239
   DIR [14] /Pressefreiheit-in-Guatemala/!5923427
   DIR [15] /Schutz-der-Presse/!5879387
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Carlos Fernando Chamorro
       
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