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       # taz.de -- „Tatort“ und die Wahl in Bremen: Bremer Ermittlung
       
       > Wie macht sich Bremen im Fernsehen, und was lernt man von der Stadt im
       > Krimi kennen? Eine „Tatort“-Begehung vor der Bremer Bürgerschaftswahl.
       
   IMG Bild: Gesichter für Bremen: Oliver Mommsen und Sabine Postel als Ermittler im „Tatort: Stille Tage“, 2006
       
       Warum nicht der „Tatort“? Warum sollte man nicht dieses so lange
       Gemeinschaft stiftende Sonntagabendritual heranziehen, um Bremen zu
       verstehen? Das kleinste unter den Bundesländern, diesen stolzen
       Hanseat*innenstadtstaat, in dem demnächst gewählt wird. Das leuchtet
       doch mindestens so sehr ein wie, sagen wir, die Geschicke örtlicher
       Fußballvereine zu berücksichtigen, das internationale Containeraufkommen
       oder den Zustand der Röstkaffeebranche. Wie also sieht die Stadt, das
       Bundesland aus, betrachtet eine*r es durch die Linse dieses TV-Format
       gewordenen Gradmessers fürs Normale?
       
       Vier Ermittler*innen beziehungsweise -teams haben seit 1973 in
       Bildschirm-Bremen das fiktive Verbrechen bekämpft. Oder fünf. Oder auch nur
       drei, je nach Zählweise. Dazu aber später mehr. Jedenfalls überstrahlt alle
       anderen dabei die Paarung Lürsen/Stedefreund, schon wegen deren
       Langlebigkeit: Von 2001 bis 2019 waren die beiden zusammen im
       Bildschirmeinsatz. Erzählt das etwas über Bremen? Oder wenigstens über
       seinen öffentlich-rechtlichen Sender?
       
       Aber zurück zum Anfang: 1973 wurde die Freie Hansestadt zum ersten Mal
       Schauplatz des (west)deutschen Fernsehlagerfeuers, das war im dritten Jahr
       der langlebigen Krimireihe. Da hatten andere Sender – und Schauplätze –
       schon mehrere Folgen hinter sich, selbst Kiel war zweimal Schauplatz
       geworden. „Ein ganz gewöhnlicher Mord“ erreichte bei seiner ersten
       Ausstrahlung deutlich über 50 Prozent der an jenem Abend Fernsehenden – es
       waren andere Zeiten.
       
       ## Mit dem Einstieg groß vorgelegt
       
       Der Film legte aber durchaus groß vor, mit Günter Strack, Peter Schiff und
       Hans Brenner in tragenden Rollen, aber auch etliche Nebenfiguren machten
       dann noch jahrzehntelang das die deutschen Bildschirme bevölkernde
       Personal aus. Regie führte Dieter Wedel, damals noch nicht der „Meister der
       TV-Mehrteiler“, ein Titel, den ihm seine Arbeit in den 1990er Jahren
       verschaffte; aber halt auch noch nicht [1][Deutschlands prominentester
       #MeToo-Verdachtsfall].
       
       Avantgarde sei der produzierende Sender Radio Bremen damals gewesen, sagt
       ein filmbeflissener – allerdings auch Bremer – taz-Kollege. In der Tat: Der
       kleine ARD-Sender brachte nicht viel später auch Loriot zur vollen Blüte.
       Und bereits vorher [2][hatte Radio Bremen] von 1965 bis 1972 den
       „Beat-Club“ produziert, also ein für deutsche Verhältnisse nicht
       selbstverständliches Interesse an Popkultur bewiesen.
       
       So ist auch „Ein ganz gewöhnlicher Mord“ gerade kein ganz gewöhnlicher
       Fernsehkrimi mit seiner verschachtelten Struktur und dem Spiel mit
       Erzählperspektiven.
       
       Aber vor allem legt diese eindeutig fiktionale Geschichte um einen
       erdrosselten und beraubten Vertreter für Damenoberbekleidung es darauf an,
       für abgebildete Realität gehalten zu werden. Immer wieder unterbrechen da
       Rückblenden den eigentlichen Plot, Beteiligte sind erklärend im Off zu
       hören oder sprechen direkt in die Kamera, ihre Namen und Funktionen werden
       eingeblendet, auch mal Ortsangaben – ein wenig „Stromberg“, nur halt
       weniger komisch.
       
       Von größerem dokumentarischem Wert mögen andere Facetten gewesen sein: Als
       die Leiche gefunden ist, bricht im Polizeirevier Betriebsamkeit aus – von
       den offenbar knappen Einsatzfahrzeugen ist kein Dienstwagen frei. Ein Taxi
       nehmen hieße sich schrecklich viel Papierkram aufhalsen, und außerdem
       bekommt man gerade eh kein „Amt“, keine Leitung, um irgendwo anzurufen.
       Dafür verstehen sich Polizei und Staatsanwaltschaft „hier sehr gut
       miteinander“, sagt Kommissar Böck (Hans Häckermann). Und auch mit der
       Lokalpresse besteht ein gut geöltes Geben und Nehmen: Die „Bremer Zeitung“
       – gedreht hat Wedel einige Einstellungen in den Räumen des heutigen
       Platzhirschen Weser Kurier – druckt, wenn es der Polizei hilft, deren Fotos
       ab, „dafür müssen wir es ja auch ertragen, dass jeden Tag Lauscher im Haus
       sind“, so Böck.
       
       Dieser Ermittler blieb eine „Tatort“-Eintagsfliege, Darsteller Hans
       Häckermann immerhin durfte ein paar Jahre später noch einen Fall aufklären
       – allerdings in Lübeck und unter dem irritierenden Rollennamen Beck. So
       blieb der erste Bremer „Tatort“ für eine ganze Weile schon wieder der
       letzte. Betrachtet man es durch die Brille der ARD-Sender-Logik, war die
       Pause sogar noch länger. Denn 1980 und 1984 ermittelte mit Jochen Piper
       (Bernd Seebacher) zwar wieder ein Bremer Kriminalist am Sonntagabend,
       produziert allerdings wurden beide Filme vom NDR, ebenso der manchmal als
       Bremerhaven-„Tatort“ bezeichnete „Wat Recht is, mutt Recht bliewen“ von
       1982. Darin reist der Kommissar aus Bremens Seehafen an, die Handlung
       selbst trägt sich aber in einem fiktiven Örtchen an der Elbmündung zu.
       
       Richtig weiter – oder eigentlich wieder los – ging es erst 1997, da war
       Henning Scherf zum ersten Mal Bremer Bürgermeister, seit 1995 und nach
       schon fast zwei Jahrzehnten als Senator. Bis 2005 stand der
       sozialdemokratische Zweimetermann an der Spitze des politischen Bremen, die
       nun eingeläutete „Tatort“-Ära sollte erheblich länger dauern: Ihren
       Einstand gab Inga Lürsen (Sabine Postel) mit einem, ehrlich gesagt,
       ziemlich trashigen Fall zwischen teils ziemlich hölzernen
       Nebendarsteller*innen. In die Herzen des lokalpatriotischen
       Fernsehpublikums hatte Postel sich durch die Radio-Bremen-Familienserie
       „Nicht von schlechten Eltern“ gespielt, mindestens so bekannt wie sie
       dürfte allerdings der Darsteller von Lürsens Assistent gewesen sein: Rufus
       Beck. Dem ersten von Lürsens Assistenten, um genau zu sein.
       
       „Drei Mal ist Bremer Recht“, das ist so eine sprachliche Bremensie, unter
       deren Erklärungen sich juristische finden – ein Rechtsweg mit drei
       Instanzen, drei Zeugen für die Beweiskraft, dreimalige Proklamation zur
       Erlangung der Rechtsgültigkeit, so was in etwa. Aber auch eher diffus
       Bremer Liberalität bemühende: Demnach steht es Bremer*innen zu, eine
       Sache nach zwei Fehlschlägen stets noch ein drittes Mal versuchen zu
       dürfen. Was mit – zugegeben ein wenig gutem Willen – auf
       „Tatort“-Kommissarin Lürsen und ihre Personallage passt: Auf zweimal Stefan
       Stoll (Rufus Beck) folgte als Assistent einmal Henning Kraus (Heikko
       Deutschmann) sowie zweimal Tobias von Sachsen (Heinrich Schmieder). Erst ab
       2001 hatte sie Nils Stedefreund (Oliver Mommsen) an ihrer Seite, das dann
       aber 18 Jahre und 33 Fälle lang.
       
       ## Kaum ein Blick für die Markenzeichen
       
       Dass Präsidium und Pier manchmal ein einziger Schnitt trennt, dass aber
       schon so manches Mal auch innerhalb Bremens die Geografie der wirklichen
       nicht mal entfernt entspricht: geschenkt. Da geht es Bremer
       Zuschauer*innen nicht anders als denen in Münster oder München, und ein
       Problem ist das ja immer nur für die relativ wenigen Ortskundigen vor den
       Geräten. Durchaus unterschiedlich ist aber, wie der Bremer „Tatort“ das
       einsetzt, worauf vielleicht die erwähnten Einwohner*innen stolz sind,
       sicher aber die Marketing- und Touristikverantwortlichen: Die allzu
       naheliegenden Markenzeichen und Hotspots kommen eher selten vor, das ist
       etwa in Münster anders. Wer will, mag daran Bremer Bescheidenheit ablesen.
       Aber vielleicht auch das Gegenteil, eine Art Sauber-halten-Wollen von Dom
       und Stadtmusikanten von niederer Unterhaltung? Immerhin: Wer heutzutage
       Bremen besucht, kann gleich aus mehreren Stadtrundgängen mit sanftem
       Gruselfaktor auswählen, da ist von realem Deutschen Herbst bis
       [3][historischer Giftmörderin] alles drin, auch ein Schlenker zu,
       wenigstens, einzelnen „Tatort“-Locations.
       
       Die haben sich, [4][glaubt man dem Weser-Kurier], nur relativ selten
       wiederholt – und doch bekommt, wer den „Tatort“ verfolgt, sicher nicht alle
       Bremer Ecken und Quartiere gleichermaßen vor Augen – ein paar pittoreske
       Straßen und die eine, ganz nach hippem Berlin aussehende Kreuzung (die
       Sielwallkreuzung) umso öfter, und, wenn’s etwas sozial sensibler sein
       sollte, auch noch ein, zwei 70er-Jahre-Großwohnsünden. Ein sehr
       spezifisches Highlight vielleicht: In „Requiem“ (2005) wird die
       Investitionsruine „Space Park“ – auch eine Hinterlassenschaft des
       Bürgermeisters Scherff – zur Wirkstätte eines B-Movie-tauglichen
       skrupellosen Wissenschaftlers.
       
       Lürsens Sidekick Stedefreund, einst Nachwuchshoffnung bei Werder Bremen,
       hatte es nach Bremerhaven verschlagen, karrieremäßig eine Sackgasse,
       weshalb er dringend wegwollte, zurück nach Bremen; das wog schwererer als
       die erkennbaren teaminternen Startschwierigkeiten. Die kleinere Stadt im
       Bundesland, der vom Strukturwandel arg gebeutelte Hafen, norddeutsche
       Mittelstadttristesse, gekreuzt mit Ruhrgebietsambiente: Bremerhaven also
       kam im Bremen-„Tatort“ lange einzig als Kaimauer mit Kränen vor. Hier
       bestieg man mal ein Boot oder erfragte einen Containerinhalt. Dass hier
       auch Häuser standen mit Menschen drin, die kriminell werden können, und das
       vielleicht sogar mit etwas höherer Wahrscheinlichkeit: Am Krimisonntagabend
       wurde das nur sehr selten abgebildet über die Jahrzehnte. Der vorerst
       letzte Bremer „Tatort“, Anfang April auf Sendung, spielt allerdings in
       Bremerhaven in der dortigen Autoposerszene.
       
       ## Ein Brokdorf-gestähltes Leben
       
       Lürsens Lebenslauf indes dürfte in vielen Ohren noch spezifischer bremisch
       klingen: friedensbewegt und Brokdorf-gestählt – dass so jemand zu Kripo
       geht?! Wer nur einen Bremer „Tatort“ ansehen könnte, dem wäre „Schatten“ zu
       empfehlen aus dem Jahr 2002: Da holt ein Quartett alter Freund*innen eine
       Jahrzehnte zurückliegende Bluttat ein. Aber mindestens so sehr geht es um
       linke Biografien und darum, welchen Preis eine*r zu zahlen bereit ist
       fürs Ankommen im einst verhassten Establishment: Nicht alle der
       Genoss*innen sind Staranwalt geworden oder Kriminalhauptkommissarin
       oder gar Staatssekretär in Berlin. Einer nahm einst Schuld auf sich und
       opferte die Karriere und muss heute – diskret – unterstützt werden von
       seinem New-Economy-Unternehmer-Sohn.
       
       So eine Konstellation, so eine (west)deutsche Geschichte wäre auch an
       anderen „Tatort“-Standorten vorstellbar, Frankfurt am Main etwa oder
       Berlin. Aber sie anzusiedeln im linksliberalen Justemilieu an der Weser, in
       einer Stadt der kurzen Wege und schnell eingeschlagenen Hände, wo auch
       manch blutige, nämlich kolonial verdiente Mark etwa in die erst 1971
       eröffnete und lange als rot verschriene Universität floss: Das war
       besonders stimmig – zumal für den, der die Stadt eben kaum anders kennt,
       als aus dem „Tatort“.
       
       11 May 2023
       
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