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       # taz.de -- Kapitel aus „Morgenland Brandenburg“: Doppelt hält besser
       
       > Für sich genommen sind sowohl Frankfurt (Oder) als auch sein polnisches
       > Gegenüber Słubice tiefste Provinz. Zusammen aber stehen sie für ein
       > Experiment.
       
   IMG Bild: Links Frankfurt, rechts Słubice, in der Mitte verbindend die Oder
       
       An ihren ersten Tag an der Viadrina kann sich Dagmara Jajeśniak-Quast noch
       gut erinnern. Es war der 16. Oktober 1992, ein Freitag. 20 Jahre alt war
       die Krakauerin, als sie sich an der Frankfurter Europa-Universität
       einschrieb. Im Studentenwohnheim in Słubice teilte sie sich das Zimmer mit
       einer Kommilitonin, die ebenfalls aus Krakau stammte. „Frankfurt und
       Słubice waren schrecklich“, erinnert sich Jajeśniak-Quast. „Wir haben die
       ganze Nacht nur geheult. In Krakau hatten wir alles, Kultur, Clubs, einfach
       alles. Und hier hatten wir nichts.
       
       Es ist ein Eindruck, von dem viele berichten, die in den neunziger Jahren
       in Frankfurt ankamen. Dagmara Jajeśniak-Quast sagt, alles sei damals grau
       gewesen, kaputt, verschmutzt, in Słubice sei noch der Kitsch dazugekommen.
       „In Krakau wurde ich manchmal gefragt: Wie bitte? Frankfurt? Warum machst
       du nichts aus deinem Leben?“
       
       Dagmara, damals noch Jajeśniak, hätte sich auch anders entscheiden und in
       Krakau bleiben können. An der altehrwürdigen Jagiellonen-Universität hatte
       sie bereits einen Studienplatz an der juristischen Fakultät. Nur ein wenig
       Startkapital brauchte sie noch, um sich eine eigene Wohnung leisten zu
       können. Deshalb war sie im Sommer 1992 mit ein paar Freunden in England
       jobben. Doch dann kam die Nachricht, die alles änderte. Ihre Mutter meldete
       sich. „Sie hatte im ersten polnischen Fernsehen gesehen, dass in Frankfurt
       an der Oder eine neue Universität gegründet wurde. Auch Polen könnten dort
       studieren.“
       
       Krakau oder Frankfurt, das war die Wahl, vor der Dagmara Jajeśniak in jenem
       Sommer 1992 stand. Die 1364 gegründete Jagiellonen-Universität oder die
       Europa-Universität, die bis dahin nur auf dem Papier bestand und im Herbst
       mit dem Studienbetrieb starten sollte. Die junge Polin entschied sich gegen
       das Alte und für das Neue. Sie entschied sich für Frankfurt. Und für die
       Zukunft.
       
       ## Provinz an der Grenze oder Großstadt und mittendrin?
       
       Frankfurt oder doch besser eine andere Stadt? [1][Provinz an der Grenze
       oder Großstadt und mittendrin?] Nicht nur Dagmara Jajeśniak-Quast, heute
       Vizepräsidentin der Viadrina und Leiterin des Zentrums für
       Interdisziplinäre Polenstudien, stand vor einer solchen Entscheidung. Fiel
       die Wahl schließlich auf Frankfurt, kam das Ja-Wort nicht immer von ganzem
       Herzen. Oft war es nur ein „ja, aber“. Das „aber“ war die Stadt. Anfang der
       neunziger Jahre trieben Nazis ihr Unwesen, die Brücke, die die Viadrina
       nach Polen schlagen sollte, wurde von Grenzschützern bewacht. Frankfurt war
       eine raue Stadt an einer Grenze, die weitaus mehr teilte als verband. Und
       dort sollte plötzlich so etwas Zukunftsweisendes entstehen wie eine
       Europa-Universität?
       
       Diese Zukunft war das „ja“ beim „ja, aber“. Als das ganze Gegenteil zum
       „Grauen, Kaputten und Verschmutzten“ in Frankfurt und Słubice empfand
       Dagmara Jajeśniak die Stimmung an der Uni. Es war eine Aufbruchstimmung.
       Vieles, was de jure nicht möglich war, wurde de facto möglich gemacht. Vor
       allem für die Studentinnen und Studenten der Europa-Universität, die wie
       Dagmara Jajeśniak aus Polen kamen. 479 Studierende nahmen am 16. Oktober
       1992 ihr Studium an der Viadrina auf, 169 von ihnen kamen aus Polen.
       
       ## Kann Frankfurt noch Zukunft?
       
       Viele von denen, die damals wegen der Viadrina nach Frankfurt gekommen
       waren, haben die Atmosphäre der Gründerzeit noch gut in Erinnerung.
       Frankfurt hat gezeigt, dass es Zukunft kann. Aber kann es das immer noch
       oder schon wieder?
       
       Würde man mir eine solche Frage stellen, würde ich lange zögern mit der
       Antwort. Ich kenne Frankfurt noch aus den neunziger Jahren, den
       „Baseballschlägerjahren“, wie sie rückblickend genannt werden, und wenn ich
       ehrlich bin, empfinde ich Frankfurt heute oft noch genauso traurig wie
       damals. Dort, wo eigentlich das Zentrum hingehört, ist ein Parkplatz,
       obwohl sich unter dem Parkplatz noch ein Parkplatz befindet. Ein bisschen
       viel Parkplatz für eine nach wie vor schrumpfende Stadt, denke ich dann,
       und wenn ich mich hineinsteigere in diesen Frankfurt-Blues, sehe ich nur
       noch das, was nicht passiert ist. Keinen richtigen Campus hat die Viadrina,
       kein studentisches Leben, die städtebauliche Wiederanbindung der Innenstadt
       an die Oder ist auf halber Strecke stehen geblieben.
       
       An der Oder aber hellt sich die Stimmung auf. Die Promenade zeigt Frankfurt
       und Słubice von ihren Schauseiten. Und in der Mitte thront die Brücke, die
       schon immer ein Doppeldasein führte zwischen realem Bauwerk und
       metaphorischer Projektionsfläche. Wo, wenn nicht hier, ist Europa mit
       Händen zu greifen?
       
       Peggy Lohse möchte die Brücke und die Möglichkeiten, die sie bietet, nicht
       mehr missen. Nur ungern erinnert sie sich an das erste Jahr der Pandemie,
       als die Grenze zwischen März und Juni 2020 geschlossen war. „Damals dachte
       ich, okay, wenn das jetzt zum Dauerzustand wird, dann ist das hier genauso
       eine olle graue ostdeutsche Kleinstadt wie jede andere, und dann kann man
       echt auch woanders hingehen.“ Schließlich sei es gerade das auf der
       gegenüberliegenden Seite der Oder gelegene Słubice, das das Besondere an
       Frankfurt ausmache.
       
       ## Werbeslogan „Ohne Grenzen“ stimmt nur bedingt
       
       Ich treffe Peggy Lohse und ihre Lebenspartnerin Nancy Waldmann in ihrer
       Wohnung in Altberesinchen, dem Gründerzeitquartier nahe dem Frankfurter
       Bahnhof. Durchs Fenster geht der Blick auf die Leipziger Straße, den
       Highway, wie Peggy sagt. Ein bisschen Großstadtfeeling muss sein. Aber ein
       bisschen Grenzstadt darf es auch sein, meint Nancy. „Der Werbeslogan ‚Ohne
       Grenzen‘ stimmt nur bedingt, weil das Spannende gerade die Grenze ist“,
       betont sie. Allerdings müsse sie offen sein. „Wenn man dann von der einen
       Seite genug hat, kann man immer wieder in die andere Hälfte gehen.“
       
       Lohse und Waldmann sind Frankfurterinnen aus Überzeugung. Waldmann kannte
       Frankfurt bereits vom Studium der Kulturwissenschaften 2004 bis 2008.
       Damals, sagt sie, habe sie sich nicht sonderlich für die Stadt
       interessiert. Übellaunig empfand sie Frankfurt, nur an der Viadrina sei die
       Stimmung gut gewesen. Inzwischen habe sich viel verändert. Dass sich
       Frankfurt und Słubice ganz ungeniert und offiziell als Doppelstadt
       vermarkten, findet die Redakteurin der Märkischen Oderzeitung (MOZ), sei
       keine Anmaßung. „Die Blase, die sich auf beiden Seiten nicht nur zum
       Einkaufen bewegt, ist größer geworden, die machen auch die Doppelstadt
       aus.“
       
       Peggy Lohse lebt seit 2019 in Frankfurt. Inzwischen ist sie freie
       Journalistin, für die taz berichtet sie in einer Kolumne mit dem Titel
       „Grenzwertig“ aus der Doppelstadt. „Die Metropole kommt auch ohne uns
       klar“, hat sie in der ersten Kolumne geschrieben. „Die Grenzregion aber
       braucht uns Menschen hier.“ Was genau meint sie damit? „Hier werden Leute
       gebraucht, die vor Ort sind und was machen wollen“, antwortet Peggy Lohse.
       
       Was machen, das haben sich Lohse und Waldmann schon 2020 gedacht, als sie,
       gemeinsam mit anderen, die Idee zum ersten Pride in der Doppelstadt hatten.
       Nicht nur durch Frankfurt sollte der bunte, queere Demonstrationszug
       führen, sondern auch durch Słubice. „Wir waren total aufgeregt und wussten
       nicht, wie sie in Słubice drauf reagieren“, erinnert sich Nancy Waldmann.
       „Wir dachten, wir müssten das halbwegs gut durchkriegen in Słubice, und
       dann sind wir in Frankfurt und damit save. Aber dann waren da Leute, die
       haben von den Balkonen gewunken. Es war eine schöne Stimmung.“
       
       Vielleicht sind es Initiativen wie der Pride, die zeigen, dass das gelebte
       Zusammenleben längst weiter ist als der Frankfurt-Blues, der mich manchmal
       anfällt. Ohne seine andere Hälfte wäre Frankfurt Provinz, dasselbe gilt für
       Słubice. Zusammen aber ist die Doppelstadt ein Experiment.
       
       ## Die Geschichte des Blues
       
       Zurück auf dem Weg zum Bahnhof frage ich mich, ob ich Frankfurt gegenüber
       vielleicht ungerecht bin. Gerade für Außenstehende ist der gelebte Alltag
       einer Doppelstadt nicht immer sichtbar. Vielleicht gibt es eine
       Frankfurt-Erfahrung, die das ganze Gegenteil meines Frankfurt-Blues ist:
       ein grenzüberschreitender Erfahrungsraum, von dem uns in vielen Jahren
       diejenigen erzählen werden, die auf zweisprachige Kitas und Schulen
       gegangen sind. Die sich auf der anderen Seite genau so sicher bewegen wie
       auf der eigenen, sich manchmal sogar fragen, was ist das eigentlich, das
       Eigene und das Andere? Vielleicht muss sich diese Frankfurt-Erfahrung erst
       noch ausbreiten, ein Versprechen auf die Zukunft ist sie schon jetzt.
       
       Der Frankfurt-Blues dagegen hat viel mit der Geschichte zu tun. Mit der
       Grenzziehung 1945 und der Teilung Frankfurts in eine deutsche und eine
       polnische Stadt. Mit der zaghaften Öffnung der Grenze 1972, auf die schon
       1980 wieder die Schließung folgte, weil das SED-Regime Angst hatte vor dem
       polnischen „Bazillus“ der Solidarność. Mit der Einführung des visafreien
       Reiseverkehrs 1991, auf den in Frankfurt manche mit Steinwürfen auf
       polnische Reisebusse antworteten.
       
       Mit den Erfahrungen der Nachwendezeit, die in Frankfurt ganz anders erlebt
       wurden als in Polen. In Frankfurt schloss nicht nur das Halbleiterwerk, und
       8.000 Beschäftigte landeten auf der Straße. Es begann auch der große
       Aderlass. Von 88.000 Einwohnerinnen und Einwohner schrumpfte Frankfurt auf
       60.000. Dünnhäutig ist Frankfurt seitdem und auch skeptisch gegenüber
       großen Versprechungen. In Słubice dagegen wuchs die Bevölkerung von 17.000
       auf über 22.000. Hier ist keine Zeit für Blues, hier wird einfach gemacht.
       
       Auch wegen dieser doppelten Geschichte hatte sich Frankfurt für das
       „[2][Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation]“
       beworben, für das die Bundesregierung 200 Millionen Euro bereitstellt. Man
       könne hier, heißt es von Seiten der Viadrina, die das Konzept der Bewerbung
       mit der Stadt entwickelt hat, die Erfahrung einer doppelten Transformation
       einbringen. Die in Ostdeutschland und die in Polen. Doppelt hält besser.
       
       Die Jury der Bundesregierung hat das am Ende nicht überzeugt. Sie gab am
       14. Februar 2023 Halle den Zuschlag für das Zukunftszentrum. Nicht
       europäisch votierte die Auswahlkommission, sondern vor allem deutsch.
       Seitdem wissen sie in Frankfurt, dass sie sich auch ohne Hilfe vom Bund fit
       machen müssen für die Zukunft und auch für die Transformation, die der
       Doppelstadt noch bevorsteht.
       
       ## Letzter Platz in Brandenburg
       
       Ein Selbstläufer wird das nicht werden. Mit knapp 20.000 Euro liegt das
       durchschnittliche verfügbare Pro-Kopf-Einkommen in Frankfurt (Oder) an
       siebtletzter Stelle der 401 deutschen Landkreise und kreisfreien Städte in
       Deutschland. In Brandenburg rangiert Frankfurt damit auf dem letzten Platz.
       Tabellenführer in diesem Ranking ist Frankfurts Partnerstadt Heilbronn mit
       einem durchschnittlichen verfügbaren Pro-Kopf-Einkommen von 42.275 Euro.
       
       Mateusz Weis-Banaszczyk kennt diese Zahlen. Der gebürtige Danziger ist in
       Heilbronn aufgewachsen. Für die Viadrina begleitete der
       Kulturwissenschaftler die Bewerbung Frankfurts um das Zukunftszentrum. Die
       vergangenen 30 Jahre, hat Weis-Banaszczyk immer wieder zu hören bekommen,
       seien für die Stadt eine einzige Berg- und Talfahrt gewesen.
       „Wirtschaftlich setzte Frankfurt Anfang der Zweitausender große Hoffnungen
       in die Solarindustrie und die Chipindustrie“, sagt er bei unserem Gespräch
       im repräsentativen Hauptgebäude der Viadrina. „Aber auch die neue
       Aufbruchstimmung endete, nachdem sich herausstellte, dass der Standort
       Frankfurt bei der Chipproduktion und Solarindustrie nicht konkurrenzfähig
       ist.“
       
       Weis-Banaszczyk kann darin aber auch etwas Positives sehen. „Trotzdem
       schaffte es die Stadt immer wieder, den Blick nach vorne zu richten“, sagt
       er. „Was die Frankfurter Stadtgesellschaft von anderen Stadtgesellschaften
       in Deutschland unterscheidet, ist die Fähigkeit, mit Schmerz und
       Verlusterfahrungen umzugehen und sich trotzdem immer wieder neu zu
       erfinden.“ Nicht nur dünnhäutig ist die Stadt. Sie ist auch zäh, wie ein
       Boxer, der im Ring getroffen wird, aber immer wieder aufsteht und
       weiterkämpft, um nicht k. o. zu gehen.
       
       Und dann sagt der 26-Jährige etwas, das mich aufhorchen lässt. „Vielleicht
       ist Frankfurt ein Start-up, das noch nicht ganz auf dem Markt angekommen
       ist, aber immer wieder neue Projektideen entwickelt, bis die eine Idee
       gefunden wird, die dann alle vorantreiben und zum Erfolg führen.“
       
       8 May 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Stadt-versus-Land/!5903592
   DIR [2] /Zukunftszentrum-Deutsche-Einheit/!5876646
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uwe Rada
       
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