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       # taz.de -- Kunstschau in vier Ruhrgebietsstädten: Flanieren im Hier und Jetzt
       
       > Die Kunstschau „Ruhr Ding“ an öffentlichen Orten im zersiedelten
       > Ruhrgebiet bringt schön irritierende Momente in leerstehende Kaufhäuser
       > oder Büdchen.
       
   IMG Bild: Sanft leuchtet die mit Schaum gefüllte Telefonzelle von Stephanie Lüning vorm 70er Jahre Wohnungsbau
       
       Miami Bass. Nun steht man in Mülheim unter den mächtigen Betonpfeilern
       einer Brücke – der Bass wummert von einem Schiffscontainer aus sechs kantig
       geschnittenen Boxen hin zum Parkplatz einer Werkanlage und weit über die
       Ruhr auf eine Insel. Dort, zwischen dem breiten Dach der Brücke und dem
       vernebelten Grün der Schwemmwiese versucht eine Entenfamilie neugierig zu
       verstehen, wo denn die tiefen Schallwellen herkommen.
       
       [1][Der Berliner Künstler Nik Nowak hat die Klangskulptur installiert], für
       die nächsten sieben Wochen während des Ausstellung „Ruhr Ding“ wird das
       Rauschen von vielen Teilen der Welt hier hinunterströmen. Der Titel dieser
       Kunstschau ist ein Understatement, vielleicht nehmen sie deswegen nicht so
       viele Leute wahr, wie es eigentlich sein müsste.
       
       „Ruhr Ding“ – was sagt das? Soll es diese nostalgische Runtergebrochenheit
       auf das Alltägliche, das Proletarische aufzeigen, mit dem sich das
       Ruhrgebiet so gerne vermarktet, wie der unerlässliche Kameraschwenk auf
       eine Trinkhalle beim Dortmund-„Tatort“?
       
       ## Der öffentliche Raum wird bespielt
       
       Dieser provinzielle Titel zumindest lenkt davon ab, wie groß die
       Ausstellungstrilogie eigentlich ist. 2019 fand sie erstmals statt, seither
       bespielt sie alle zwei Jahre über Wochen den öffentlichen Raum in mehreren
       Städten der Metropolregion und schließt nun mit diesem gerade eröffneten
       letzten Teil ab.
       
       Britta Peters, die künstlerische Leiterin, hat mit dem „Ruhr Ding“ eine
       Kunstschau nach einem ähnlichen Konzept wie die [2][Skulptur Projekte
       Münster] ins Leben gerufen. Doch anders als in Münster, das seit 1977 alle
       zehn Jahre zum Pilgerort der internationalen Kunstszene wird, grätscht
       Britta Peters’ Schau hier nicht in eine bürgerliche Zufriedenheit hinein.
       
       In Essen-Steele, in Gelsenkirchen-Erle oder Witten blickt man auf urbane
       Zustände. Da ist zum Beispiel dieses Büdchen in Mülheim auf dem Vorplatz
       des historischen Rathauses, eine neobarocke Burg und Kulisse für
       Hochzeitsfotos. Über Jahre gammelte es vor sich hin, wurde zum Gegenstand
       erregter Debatten in der klammen Stadt, die von der Ruhr in wohlhabende und
       arme Gebiete geteilt wird.
       
       ## Neonlicht und flauschiger Teppich
       
       Künstler Viron Erol Vert umbaute jetzt die Baracke mit grünen und pinken
       Modulen, beleuchtet die Decke mit grafischen Neonlicht, legt einen
       flauschigen Teppich aus. Sein „Köşk x Kiosk“ – ein Hinweis darauf, wie das
       Wort Kiosk aus dem Persischen über das Türkische in die deutsche Sprache
       einsickerte – ist ein auch nachts bunt leuchtendes Ufo. Für einige Wochen
       wird der soziale Kulminationspunkt zum Utopos – und verschwindet dann
       wieder.
       
       Nur einige Meter weiter im Vorraum zum ulkigen Fotokopie-Museum verschiebt
       sich in der Videoprojektion an der Wand die Dimension von Zeit.
       Arte-Povera-Künstlerin Laura Grisi, die 2017 verstarb und in den späten
       1960er Jahren ähnlich wie Joan Jonas oder die [3][gerade erst
       wiederentdeckte Margaret Raspé] in kurzen, experimentellen Filmsequenzen
       Naturphänomene festhielt, ließ in dem 6-Minuten-Film zählend Sandkörner am
       Strand durch die Finger rieseln. Die Absurdität dieses Sisyphosakts rückt
       Zeit in die Ferne, während sie gleichsam gemessen wird.
       
       ## Gewebe aus Autobahnen, Gleisen und Gärten
       
       „Schlaf“ nennt sich das letzte der drei Kapitel vom „Ruhr Ding“, zuvor
       hießen sie [4][„Klima“] und „Territorium“. Und auch wenn sich das Thema
       Schlaf in die 20 ausgestellten Projekte hineinlesen lässt, dies
       kuratorische Gerüst braucht die Schau nicht. Das Besondere der Ausstellung
       in vier Städten ist das suchende Herumstreunen, das die einzelnen
       Kunstinstallationen aus einem herauskitzeln; dieses Schlendern – zu Fuß,
       mit dem Rad, mit den Öffentlichen – entlang der beeindruckenden
       Zersiedelung des Ruhrgebiets, wo Urbanität ein Gewebe aus Autobahnen,
       Gleisen und Gärten ist. Um dann an einem bestimmten Ort zu verwahren, um
       sich bewusst zu werden, wo man sich, wo wir uns, eigentlich befinden in
       dieser Gegenwart.
       
       In einem stillgelegten Wasserwerk in Witten sind wir zwischen realen
       Datenströmen und virtueller Welt. Der schottische Künstler Yuri Pattison
       lässt auf einem metergroßen LED-Screen in der imposant gekachelten Halle
       Gaming-Landschaften ablaufen. Immer fließt Wasser in den Szenerien düsterer
       Kanalisationen oder idyllischer Auen.
       
       Seine Farbe changiert mit dem Sauerstoffgehalt in der daneben fließenden
       Ruhr, mal ist das Wasser klar, mal gelb und suppig. Von einem automatischen
       Klavier erklingt eine minimale Melodie, auch sie ändert sich mit den
       Messwerten. Das, was außen passiert, es dringt immer zu uns durch, auch im
       Versuch, dem zu entfliehen.
       
       Traumartig bewegen sich überlebensgroße Hände und Arme im Schaufenster der
       leerstehenden Galeria Kaufhof in Witten. Zärtlich, in kleinstmotorischer
       Bewegung streichelt ein Finger einen Baumstamm entlang. Die sympathisch
       ruckelnden, mechanischen Figuren von Joanna Piotrowska aus reproduzierten
       Fragmenten von Fotos ihres Familienarchivs erinnern an die surrealistische
       Fotografie Anfang des 20. Jahrhunderts.
       
       ## Das desolate Objekt von Immobilieninvestoren
       
       Doch es sind intime Momente aus der persönlichen Geschichte der Künstlerin,
       die hier als Versatzstücke aus der Vitrine in die Öffentlichkeit gelangen.
       Von einem Gebäude aus, das einst mit seinen charakteristischen
       Hortenkacheln das Konsumzentrum der Innenstadt symbolisierte und heute ein
       desolates [5][Objekt von Immobilieninvestoren] ist.
       
       Ohnehin ziehen sich die leerstehenden Kaufhäuser wie ein Leitmotiv durch
       die Ruhrgebietsstädte. Das Wertheim in Essen-Steele musste schon bald nach
       der Eröffnung 1972 schließen. Kameelah Janan Rasheed hat für das „Ruhr
       Ding“ auf der Fassade des Warenhauses eine scheinbar überdimensionale
       Fotokopie appliziert.
       
       Eine Menge sich überlagernder und überblendender Hände vereinnahmen mit
       diesem DiY-artigen Poster die trostlose Architektur. Essen Steele ist von
       den großen Phasen der Stadtplanung geprägt. Im späten 19. Jahrhundert
       strebte man hier mit zwei neogotischen Kirchen das historistische Stadtbild
       der Kaiserzeit an, dann legte sich die Tabula-rasa-Moderne der 1960er und
       1970er Jahre dazwischen.
       
       ## Radikale Stadterneuerung, doch ohne Frauen
       
       Den damals entstandenen Betongroßstrukturen mit Parkplatz, Ladenzeile und
       abgetreppten Wohnebenen fielen ganze Straßenzüge aus der Gründerzeit zum
       Opfer. Eine solch radikale Stadtsanierung wie in Essen-Steele hat es im
       Ruhrgebiet seither nicht gegeben.
       
       In einer dieser 70er-Jahre-Wohnungen hat Alicja Rogalska nun ein Interieur
       eingerichtet. Man steht in dem schönen, durchlichteten Apartment, das ja
       mit seiner Entstehungsgeschichte geradezu verdammt ist, und wird beim Blick
       auf Rogalskas Zimmerpflanzen, Kaffeemaschine oder Bügelbrett auf eine
       Leerstelle aufmerksam. Denn bei all den Planungen und Fehlplanungen für die
       Stadt bleibt die weibliche Perspektive aus. Jede Entscheidung zum
       Stadtumbau in Essen-Steele sei nur von Männern getroffen worden, erzählt
       eine örtliche Architektin in Rogalskas Film „Sister Flats II“, der in der
       Wohnung auf einem der Flatscreens abläuft.
       
       Dabei gab es zum Zeitpunkt des Steelener Großprojekts einen ausgeprägten
       feministischen Architekturdiskurs. Die seit der Pandemie so viel
       diskutierte „Care-Arbeit“, wie sie sich auch räumlich organisieren lässt,
       das wurde schon damals debattiert („Wie könnte eine nicht-sexistische Stadt
       aussehen?“, fragte etwa Dolores Hayden 1981 in ihrem viel zitierten
       Aufsatz). Doch offenbar braucht es auch heute noch einen so plakativen
       Verweis wie Alicja Rogalskas Gardine aus BHs und Korsetts, um darauf
       aufmerksam zu machen.
       
       Nora Toratu, Maximiliane Baumgartner – die Namen der teilnehmenden
       Künstler:innen tauchen in den vergangenen Jahren immer mehr auf den
       Listen musealer Einzelausstellungen auf. Das ist auch ein Unterschied zu
       den Skulptur-Projekten in Münster. Britta Peters setzt für das „Ruhr Ding“
       nicht auf die etablierten, sondern die jüngeren Stimmen der Kunstszene.
       Obwohl mit dem Oscar-prämierten Filmregisseur Michel Gondry ein veritabler
       Star dabei ist. Die Anziehungskraft dieser Schau entsteht durch die Kunst
       selbst, durch ihr irritierendes Moment [6][an manchmal ganz beiläufigen
       Orten].
       
       Die Recherchen wurden unterstützt von Urbane Künste Ruhr
       
       7 May 2023
       
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