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       # taz.de -- Retrospektive Antonio Pietrangeli: Spott übers Frauenbild gießen
       
       > Eine Retrospektive des Regisseurs Antonio Pietrangeli im Arsenal erzählt
       > von ungerechten Geschlechterverhältnissen, aber charmant und mit guter
       > Musik.
       
   IMG Bild: Das Spiel mit den Männern, das Bild der Frau: „Il magnifico cornuto“, 1964, von Antonio Pietrangeli
       
       Ein kleiner Fiat, mit ihm durch Rom zu sausen, schien unabdingbar für die
       Suche junger italienischer Frauen nach Unabhängigkeit in den 1950er und
       1960er Jahren. So wichtig wie ein Stiftrock, ein lang gezogener Lidstrich
       und der Twist, bei dem auch in enger Kleidung alle erotisierbaren
       Körperteile in Vibration gerieten. In den Filmen von Antonio Pietrangeli
       wird viel Auto gefahren, Party gefeiert und Twist getanzt. Tempo, Tempo.
       Die Musik swingt oder jazzt cool, die Episoden sind oft so lang wie ein
       Song. Schon dieser musikalische Drive macht Spaß an der Retrospektive der
       Filme von Antonio Pietrangeli im Arsenal.
       
       Die Moderne hält Einzug in Italien. Mit Hochhäusern aus Beton,
       Kühlschränken und Fernsehern, die der Regisseur immer wieder ins Bild
       setzt. Ein reicher Hutfabrikant baut sich eine riesige Villa und bangt
       doch, die Hutträger könnten der Vergangenheit angehören. Die Stadt Rom ist
       ein Versprechen, das junge Frauen und Männer ohne weiteren Plan für das
       Leben anzieht. Zwischen ihren Heimatdörfern in der Provinz und der Stadt
       scheint ein Abstand von Jahrzehnten zu liegen. Doch der Sprung in ein neues
       Freiheitsversprechen wird überschattet; patriarchale Machtverhältnisse
       holen die Aufbrechenden in kurzer Zeit ein.
       
       Der Trauer um die Vergangenheit und verlorenen Glanz gilt eine Komödie,
       eine Ausnahme in der Retrospektive: „Fantasmia a Roma“ von 1961 ist eine
       vergnügliche Geschichte um einen alten und verarmten Prinzen, der sich
       einen verfallenen römischen Palast mit ein paar Gespenstern teilt. Als der
       Prinz bei der Explosion seines Heizboilers stirbt, müssen die Gespenster
       aktiv werden, um das Haus mit den hohen Decken und Gewölben vor dem Abriss
       zu retten. Marcello Mastroianni und Vittorio Gassmann gehören zu den
       temperamentvollen Spukgestalten.
       
       Die [1][meisten Filme des Autors und Regisseurs Pietrangeli] aber spielen
       in modernen Architekturen; doch die neue Ausstattung des Lebens und der
       Beziehungen gelingt nicht so leicht wie die der Wohnungen. Die Männer
       scheitern an den verengten Narrativen in ihrem Köpfen; Pietrangeli gießt
       reichlich Spott über ihr reduziertes Frauenbild, mit dem sie sich zum
       Trottel machen. Aber tragischerweise bremsen sie damit auch den Aufbruch
       der Frauen aus.
       
       ## Unzuverlässigkeit mit Freiheit verwechseln
       
       Paolo ist „Lo Scapolo“ in einem Film von 1955. Er ist ein Aufschneider und
       Angeber, der seine Unzuverlässigkeit mit Freiheit verwechselt, und ein
       Feigling noch dazu. Immer überzeugt davon, dass jede Frau ihn begehrenswert
       findet, stößt er sie reihenweise vor den Kopf und merkt nicht einmal, dass
       sie ihm in Charakter und Bildung überlegen sind. Eine Stewardess, eine
       Verkäuferin aus dem Kiosk, eine Angestellte aus der Wäscherei, eine
       Studentin, eine junge Geschäftsfrau; sie alle sind fleißig,
       abenteuerlustig, zupackend, temperamentvoll – aber dennoch darauf gepolt,
       Mann und Familie für das Glück zu brauchen.
       
       Ein zweites Prachtexemplar männlicher Ignoranz führt Pietrangeli in „Il
       Magnifico Cornuto“ von 1964 vor. Der Hutfabrikant Andrea (Ugo Tognazzi)
       betrügt seine Frau Maria Grazia (Claudia Cardinale) mit einer verheirateten
       Frau. Weil das so einfach geht, kann er anschließend nicht mehr glauben,
       dass seine Frau ihm treu ist, verfällt irren Vorstellungen, sie könnte die
       männlichen Gäste, die ihr bei der Besichtigung der neuen Villa folgen, mit
       einem Striptease verführen.
       
       Schon wie die Filmbilder sich der Musik des Komponisten Armando Trovajoli
       anschmiegen ist großartig, wie Claudia Cardinale in schwarzer Federboa
       tanzt in seiner angstlustbesetzten Fantasie, und die Männer ihr wie in der
       Revue bald zu Füßen liegen, ist hinreißend. Am Ende geht wenigstens sie
       siegreich aus dem Gefecht mit seinen Wahnvorstellungen hervor.
       
       Auch der Soundtrack von „Io la Conoscevo Bene“ von Piero Piccioni ist
       großartig. Die junge Adriana driftet durch Träume von Aufstieg und Ruhm,
       wechselt Männer, Frisuren und Kostüme, bezaubert alle, hält niemanden.
       Einmal wird sie nach einem Flirt mit Freunden Zeugin eines Autounfalls, ein
       Transporter voller unruhiger Pferde steht am Straßenrand neben einem
       überfahrenen Radfahrer. Ab diesem Moment wartet man auf das Unglück in
       ihrem Leben.
       
       ## Tragisches Ende der Geschichte
       
       Doch zunächst sind [2][Modenschauen], [3][Boxkämpfe], Partys und
       Filmaufnahmen die Schauplätze ihrer Suche nach einer eine Liebe und einer
       Karriere. Und lange spielt sie das Spiel mit, über Kontakte zu Männern nach
       Verbindungen zu suchen, bis sie merkt, dass ihre Offenheit und sexuelle
       Freigiebigkeit ihr auch Verachtung eintragen. Ihre Geschichte endet
       tragisch.
       
       Dieser Film von 1965, mit dem die Retrospektive im Arsenal begann (noch mal
       am 27. Mai) gilt als Pietrangelis Meisterwerk; wenige Jahre später
       verunglückte er tödlich mit 49 Jahren beim Baden. Rückblickend zeichnen
       seine Filme ein stets von Humor und Melancholie getragenes Bild einer
       Gesellschaft. Deren alte Rollenbilder von Frau und Mann waren nicht mehr
       haltbar, für Veränderungen fehlte aber zugleich der Mut.
       
       Es sind die Frauen, die den Preis für diesen Zwiespalt zu tragen haben. Und
       die sind in seinen Filmen alle ausgesprochen schön, sexy und witzig. Ein
       Jammer, dass man dem schnellen italienischen Originalton im Lesen der
       englischen Untertitelung mühsam hinterherstolpert.
       
       10 May 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Katrin Bettina Müller
       
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