# taz.de -- Ein Bürgerbahnhof
> Es gibt Bahnhofsprojekte im Land, die die Bürger entzweien – wie
> Stuttgart 21. Es gibt aber auch Bahnhofsprojekte, die die Bürger einen –
> wie in Leutkirch im Allgäu. Dort hat eine Genossenschaft mit mehr als
> einer Million Euro Bürgerkapital dazu beigetragen, dass das verfallende
> Empfangsgebäude des Bahnhofs saniert werden konnte
von Rudi Schönfeld
Visionäre werden gerne als Spinner verunglimpft oder als Fantasten
belächelt. Christian Skrodzki kann ein Lied davon singen. Über viele Jahre
hinweg ging der 45-jährige Unternehmer mit seiner Idee von einem „Bahnhof
in Bürgerhand“ hausieren. Im Leutkircher Gemeinderat, dem er selbst eine
Zeit lang angehörte, stießen seine Argumente jedoch auf taube Ohren; das
Konzept verschwand schnell in der Schublade. Und dort läge es vermutlich
heute noch, hätte Skrodzki nicht hartnäckige Mitstreiter gefunden, die
seine Idee unterstützten.
Dass Bürger sich einsetzen für etwas, das ihnen erhaltenswert erscheint,
oder gegen eine Sache sind, von der sie meinen, dass sie nicht dem
Gemeinwohl entspreche, das haben auch die Leutkircher erst üben müssen.
Bürgerschaftliches Engagement ist in der 22.000 Einwohner zählenden Stadt
in jüngerer Zeit erstmals erkennbar geworden, als es um die Ansiedlung
eines Großsägewerks auf dem Areal eines ehemaligen Munitionsdepots der
Bundeswehr ging. Der Sägekonzern Klenk aus Oberrot im Kreis Schwäbisch Hall
stellte zwar an die 300 neue Arbeitsplätze in Aussicht, trotzdem bildete
sich eine Bürgerinitiative, die vor allem wegen der zu erwartenden
Verkehrszunahme durch Schwerlastfahrzeuge gegen das Projekt zu Felde zog
und den ersten Bürgerentscheid in der Geschichte der Stadt durchsetzte. Der
ging für die Gegner zwar verloren, doch die Bürgerschaft war vom Virus des
Mitredens und Mitentscheidens infiziert: Bei der Kommunalwahl 2009 zogen
gleich fünf Mitglieder der Bürgerinitiative in den Gemeinderat ein.
Das im Kommunalwahlergebnis dokumentierte neue bürgerschaftliche
Selbstbewusstsein wurde zusätzlich befördert durch den Einzug eines überaus
kommunikationsfreudigen Oberbürgermeisters ins Leutkircher Rathaus.
Hans-Jörg Henle hat in seiner jetzt dreieinhalbjährigen Amtszeit nachhaltig
bewiesen, dass es ihm ernst ist mit der Bürgerbeteiligung. Als der
Sägereikonzern Klenk sein Leutkircher Werk ganz auf Eis legte, nachdem ihm
die Wirtschafts- und Finanzkrise schon kalte Füße gemacht hatte, zauberte
Henle über Nacht ein neues Projekt aus dem Hut und präsentierte es der
staunenden Öffentlichkeit in einer Bürgerversammlung: einen Ferienpark mit
800 bis 1.000 Bungalows samt Badelandschaft auf dem 180 Hektar großen
Gelände des Munitionsdepots. Der holländische Ferienkonzern Center Parcs
versprach 800 neue Arbeitsplätze und Investitionen in der Größenordnung von
280 bis 300 Millionen Euro. Die Aussicht auf eine Million zusätzlicher
Übernachtungen und die Chance, endlich das Image der grauen Maus im
touristischen Käsedreieck Isny-Leutkirch-Wangen abzulegen, begeisterte vor
Ort nicht nur Handel und Gastronomie, sondern die ganze Bevölkerung. In
einem neuen Bürgerentscheid wurde die Ansiedlung von 95 Prozent der
Abstimmenden gutgeheißen.
## Die Bahn wusste nichts mehr mit den Bahnhof anzufangen
Die Aufbruchstimmung nutzte der neue Oberbürgermeister sogleich für ein
Modellprojekt des Bundes, das mittelfristig aus Leutkirch eine
energieautarke Kommune machen soll. Das Interesse an den Workshops, in
denen die Leitlinien zur künftigen unabhängigen Energieversorgung
entwickelt werden sollten, war so groß, dass die zur Verfügung stehenden
Plätze ausgelost werden mussten. Und reichlich Bürgerkapital fließt derzeit
im Rahmen des Nachhaltigkeitsprojekts auch einer Energiegenossenschaft zu,
die sich an einem um die Jahreswende in Betrieb genommenen Solarpark
beteiligt.
Dieses Potenzial an bürgerschaftlichem Engagement hat letztlich auch der
Initiativgruppe um den Visionär Christian Skrodzki genutzt. Denn mit dem
Bahnhof aus wilhelminischer Zeit mit seinen drei typischen Spitzgiebeln und
der gelben Schindelfassade wusste die Deutsche Bahn schon lange nichts mehr
anzufangen. Die Gastwirtschaft im Erdgeschoss hatte in den 1960er-Jahren
geschlossen. Dann wurde die Güterabfertigung abgezogen und der
Fahrkartenverkauf nach und nach auf Automaten umgestellt. 50 Jahre lang
hatte die Bahn in das Gebäude nichts mehr investiert. Doch auch die Stadt,
die den 1889 erbauten Bahnhof 1998 schließlich kaufte, tat sich schwer mit
einer neuen Nutzung. Der vom Gemeinderat erwogene Plan, aus dem inzwischen
denkmalgeschützten Bahnhof eine Stadthalle zu machen, scheiterte an den
Kosten von über fünf Millionen Euro, mit der Folge, dass das historische
Gemäuer mehr und mehr verrottete.
Skrodzki und seine Mitstreiter fanden im Gemeinderat aber erst Gehör, als
sie mit einem detailliert durchgerechneten Vorschlag aufwarteten: Der
Bahnhof sollte mit Zuschüssen von Stadt, Land und Denkmalpflege sowie den
Einlagen einer Bürgergenossenschaft gerettet und von dieser in Eigenregie
erneuert werden. Von den zweieinhalb Millionen Euro errechneter Baukosten
sollte die Genossenschaft eine Million Euro aufbringen. „Uns war klar“,
sagt Skrodzki, „dass dies keine Privatveranstaltung weniger Bürger sein
darf.“ Die Genossenschaft schien ihm die beste Möglichkeit der
Bürgerbeteiligung, „weil da alle die gleichen Mitspracherechte haben.
Keiner wird vom anderen über die Zahl seiner Anteile dominiert.“
## Die Leutkircher „Mutbürger“ packten einfach selbst an
Während im Streit um Stuttgart 21 der Begriff des „Wutbürgers“ die Runde
machte, der sich gegen Fremdbestimmung wehrt, prägte in der fernen Provinz
der Bürger Christian Skrodzki den Begriff des „Mutbürgers“, den der Wille
zur Selbstbestimmung antreibt. Binnen weniger Monate hatte die
Genossenschaft die angepeilte Million Euro auf ihrem Konto. „Es ging den
Leuten nicht um die in Aussicht gestellte Kapitalverzinsung von zwei bis
drei Prozent“, weiß Skrodzki heute. „Die Menschen wollten dabei sein und
zeigen, dass sie als Genossen etwas auf die Beine stellen können, was die
öffentliche Hand nicht zuwege bringt.“ Der Run auf die Anteilsscheine war
so groß, dass die Genossenschaft weitere Anteile ausgeben musste.
Schließlich wurden von 650 Genossen 1,11 Millionen Euro Kapital
eingesammelt.
Eine immer noch vorhandene Warteliste von beträchtlicher Länge ist für
Skrodzki der schlagende Beweis dafür, dass die Leutkircher den Bahnhof als
ihren Bahnhof angenommen haben. Das Vertrauen sei auch deshalb da, weil die
Genossenschaft auf absolute Transparenz bedacht sei, selbst als Arbeitgeber
auftrete und so die Kosten im Griff behalte. Rund 30 Handwerksfirmen hat
die Genossenschaft in den 16 Monaten Bauzeit dirigiert und 17 eigene
Angestellte beschäftigt, die meisten davon Arbeitslose, von denen einige
nach Skrodzkis Angaben inzwischen eine Festanstellung bekommen haben.
Lob kommt von vielen Seiten. Ministerpräsident Kretschmann bezeichnete das
Projekt in einem Grußwort zur Einweihung als „Leuchtturm für
bürgerschaftliches Engagement“, der Leutkircher Oberbürgermeister hob das
Unternehmen gar auf die „höchste Stufe der Bürgerbeteiligung“, und die
Denkmalstiftung Baden-Württemberg hat den Bahnhof zum „Denkmal des Monats
April 2012“ gekürt.
Kretschmann hatte in seinem Grußwort auch den Wunsch geäußert, das
Leutkircher Beispiel möge Nachahmer finden. Und so geschieht es
offenkundig: In Sulzfeld im Kreis Karlsruhe restaurieren Bürger ebenfalls
nach dem Genossenschaftsmodell zurzeit ihren Bahnhof, in Wedel (Kreis
Pinneberg) will eine Genossenschaft die historische Bibliothek retten, und
in Murnau am Staffelsee (Kreis Garmisch-Partenkirchen) soll der Bahnhof
nach Leutkircher Muster saniert werden.
Vor und während der Bauphase hat es freilich auch Stimmen gegeben, die dem
Unternehmen die baldige Pleite prophezeiten. Die Frage nämlich, was sich
aus dem „alten Kasten“ an sinnvoller oder mindestens wirtschaftlicher
Nutzung machen ließe, wurde heiß diskutiert. Immerhin ging es nicht nur um
die denkmalgerechte Sanierung, sondern auch um die Vermarktung von 1.600
Quadratmeter Nutzfläche. Tatsächlich taten sich die Genossen anfänglich
schwer mit der Vermietung. Inzwischen sind sie guten Mutes, dass der
Bahnhof auf Dauer schwarze Zahlen schreiben und die Stadtkasse nicht
belasten werde. Im Gegenteil, rechnet der Aufsichtsratsvorsitzende der
Genossenschaft, Jörg Kuon, vor: 10.000 Euro im Jahr fließen der Stadt als
Erbpacht zu. Außerdem seien mittelfristig 100.000 Euro an Mieten pro Jahr
gesichert. Im Erdgeschoss, wo es früher eine Bahnhofsrestauration zweiter
und dritter Klasse gegeben hat, ist eine Wirtshausbrauerei eingezogen, das
Obergeschoss teilen sich sieben Medien- und Designfirmen, und unterm Dach
gibt es künftig ein „Informationszentrum nachhaltige Stadt“, in dem 14
Unternehmen Ideen und Angebote zum Thema Energiewende präsentieren.
Die Potenziale der Zivilgesellschaft seien an dem Projekt sichtbar
geworden, hat Ministerpräsident Kretschmann festgestellt. Und die
Leutkircher haben erfahren, dass Verantwortung fürs Gemeinwesen zu
übernehmen auch Befriedigung verschafft. An der Stelle, wo man abfährt in
die große, weite Welt und wo man zurückkehrt in die heimatlichen Gefilde,
haben engagierte Bürger sich einen neuen Treffpunkt geschenkt.
12 May 2012
## AUTOREN
DIR Rudi Schönfeld
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