URI: 
       # taz.de -- Tolia Astakhishvili im Kunstverein Bonn: Geister zwischen Abriss und Neubau
       
       > Die Künstlerin Tolia Astakhishvili übt im Bonner Kunstverein
       > Institutionskritik und versetzt ihn in einen schaurigen Schwellenzustand.
       
   IMG Bild: Ein Heizungskeller? Aus der digitalen Animation von Tolia Astakhishvili und James Richards, 2023
       
       Seit einigen Monaten erfahren verwaiste Häuserblocks, ausgestorbene Flure
       und verlassene Parkhäuser eine ungewohnte Aufmerksamkeit im Internet. Unter
       Schlagworten wie „the Backrooms“ und „liminal spaces“ versammeln sich auf
       Tiktok und Youtube millionenfach gelikte Videoschnipsel dieser eigentlich
       stark frequentierten Orte. Auf denen fehlen dann merkwürdigerweise jegliche
       Menschen. Ausrangierte Möbel, Abfall und andere Überbleibsel erinnern
       permanent an deren Abwesenheit.
       
       Was bleibt von unseren Wohnsilos oder Städten, wenn die Menschen aus ihnen
       verschwinden?, fragt man sich da. Wie prägen wir die uns umgebende
       Architektur – und werden durch sie geprägt?
       
       Das überlegt auch die zwischen Berlin und Tiflis pendelnde Künstlerin Tolia
       Astakhishvili. In ihrer Ausstellung „The First Finger“ im Bonner
       Kunstverein meint man, in einem dieser digitalen Backrooms gelandet zu
       sein. Eine Reihe labyrinthischer Ein- und Umbauten deutet dort eine
       bewohnte Vergangenheit an. Die verwinkelten Kammern und leeren Hallen aus
       Gipskarton, Spachtelmasse und Holzlatten sind in einen Schwellenzustand
       versetzt. Befinden wir uns noch vor dem Abriss dieser Orte oder wird schon
       Neues errichtet? Leben tut hier jedenfalls niemand mehr. An mancher Stelle
       ist der Boden aufgebrochen, anderswo wuchert das Gras, dazwischen hat
       Astakhishvili aufgefundenen Sperrmüll arrangiert.
       
       Die immersive Szenerie dient der georgischen Künstlerin als Backdrop für
       die Zeichnungen, Videos auf kleinen Displays oder seltsam
       zusammengestellten Alltagsobjekte, die sie selbst und andere
       Künstler:innen hier installiert haben.
       
       ## Das Gemäuer abfragen
       
       Sich überlagernde Figuren und Köpfe, von Astakhishvili flüchtig mit Tinte
       gezeichnet und an die Wände gehängt, scheinen das Gemäuer abzufragen auf
       seine glücklichen und leidvollen Erinnerungen. Die Leinwände von Ser Serpas
       zeigen nackte, verwundete Körper, sie sind nur durch schmale Fenster aus
       der Ferne zu betrachten. Auch Gewalt kann ins Häusliche eindringen, sagt
       uns Serpas – man selber bleibt aber außen vor.
       
       Unsere Zimmer, Wohnungen und Häuser haben eine Geschichte. Deren
       Erinnerungsfetzen an einstige Bewohner:innen materialisieren sich nun
       in Gestalt vergessenen Krimskrams und aussortierter Möbel. Astakhishvilis
       Parcours gleicht dem Weg durch eine Gedächtnislandschaft, und die ist
       ebenso unheimlich wie die „liminal spaces“ auf TikTok und Youtube.
       
       Doch die Künstlerin geht auch über das Private und Psychologische hinaus.
       Man kann aus ihrem Werk eine Institutionskritik ablesen, jene Form der
       Kunst, die institutionelle Prozesse hinter einer Ausstellung anzweifelt.
       Gemeinsam mit James Richards, der 2017 den walisischen Pavillon auf der
       Venedig-Biennale bespielte und – wie kürzlich bekannt wurde – 2024 als
       [1][einer von Vieren den Preis der Nationalgalerie Berlin erhalten wird],
       zeigt Astakhishvili in Bonn ein Video. Darin verschmelzen Ansichten
       früherer gemeinsamer Ausstellungen mit fiktiven Räumen. Die Frage, wie
       Architektur und deren Nutzer:innen einander formen, dehnen die beiden
       auf das Feld der zeitgenössischen Kunst und ihrer Organisation aus.
       
       Wenn Astakhishvili in Bonn den Boden aufreißt, neue Wände einzieht und
       andere abbricht, bearbeitet sie auch das bauliche Gedächtnis der
       Institution des Bonner Kunstvereins. Und sie wird dies in einer zweiten, ab
       Juni zu sehenden Ausstellung in der [2][Villa des Berliner Hauses am
       Waldsee] fortsetzen. Welche Werke, welche Künstler:innen haben diese
       Institutionen in der Vergangenheit öffentlich gemacht? Wessen Gedanken
       spuken noch immer durch die Ausstellungshallen?
       
       Der anfängliche Schauer, der beim Besuch von „The First Finger“ an die
       beklemmenden Videos leerstehender Wohnungen und Keller erinnert,
       verflüchtigt sich bald. An seiner Stelle rücken nun Astakhishvilis feine
       Beobachtungen über das, was uns umgibt und uns umgeben gemacht wird.
       
       15 May 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Kuenstlerin-Sandra-Mujinga-geehrt/!5803957
   DIR [2] /Feministische-Videokunst/!5910720
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Robert Schlücker
       
       ## TAGS
       
   DIR Ausstellung
   DIR zeitgenössische Kunst
   DIR Installation
   DIR Architektur
   DIR Körper in der Kunst
   DIR zeitgenössische Kunst
   DIR Architektur
   DIR Bildende Kunst
   DIR Zeitgenössische Malerei
   DIR Interview
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Ausstellung zur weiblichen Rückbeuge: Das Höllentor zur Tiefenentspannung
       
       Es gibt sie, die Kulturgeschichte der (weiblichen) Rückbeuge. Das Museum
       der Moderne in Salzburg zeichnet sie nach, mit verblüffend viel Material.
       
   DIR Kuratoren über 200 Jahre Kunstverein: „Streiten darüber, was Kunst ist“
       
       Kunstvereine halten die Spannung zwischen Bürgerlichkeit und Kritik, in
       München seit 200 Jahren. Ein Gespräch über NS-Zeit, Museen oder
       Klassenfragen.
       
   DIR Ausstellung in Göttingen: Die Seele eines Hauses
       
       In Österreich ist er eine große Nummer: Dem kalifornischen Wohnhaus des
       Wiener Architekten Rudolph Schindler widmet sich die Fotografin Mona Kuhn.
       
   DIR Malerei von Dana Schutz: Und sie tritt nicht auf der Stelle
       
       Dana Schutz zeigt im dänischen Louisiana Museum ihre von Farbe und Firnis
       strotzende Malerei. Die ist lustvoll grotesk.
       
   DIR Miriam-Cahn-Ausstellung in Siegen: Figuren, die zu entgleiten drohen
       
       Miriam Cahn wurde gerade mit dem Siegener Rubenspreis ausgezeichnet. In
       ihrer Ausstellung „Meine Juden“ sucht sie malerisch nach dem Menschsein.
       
   DIR Architekturkritiker über Brutalismus: „Wir sind zu sentimental“
       
       Der Autor Owen Hatherley erzählt von schroffen Betonflächen und nützlichen
       Gemeinschaftseinrichtungen. Dazu gehört HipHop-Produktion im Plattenbau.