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       # taz.de -- Skandal beim Eurovision Song Contest: ŠČ! ŠČ! ŠČ!
       
       > Der kroatische Beitrag „Mama ŠČ“ rettet dem ESC politisch den Arsch.
       > Derweil haben die Organisatoren Selenski verboten, ein Grußwort zu
       > halten.
       
   IMG Bild: Irgendwo zwischen Egotronic, Trio und Peaches: Die kroatische Postpunk-Band Let 3
       
       Die Organisatoren des ESC verbieten dem ukrainischen Präsidenten Selenski,
       ein Grußwort zu halten. Dieses Vorgehen sollte jedem ESC-Fan Grund für
       lauten Protest sein. Wäre der ESC unpolitisch, warum steckt er dann seine
       Moderatorinnen in blau-gelbe Kostüme und zeigt Fotos von Gebäuden aus der
       Ukraine? Diese Haltung ist alberner, als es der Auftritt der bei dem
       Wettbewerb hoch favorisierten kroatischen Camp-Band Let 3 je sein könnte.
       
       Die jedoch retten dem ESC politisch den Arsch. Denn Let 3 schreibt dieses
       Jahr Geschichte auf [1][dem ESC]. Zum ersten Mal überhaupt werden
       diakritische Zeichen zum Zeichen gesamteuropäischer Solidarität.
       
       Ganz Europa singt seit Wochen „ŠČ!“, beziehungsweise „Schtsche!“ (das e
       dabei kurz in Richtung ö gehend). Und zwar ohne dass irgendjemand wüsste,
       was diese Akkumulation von Buchstaben mit Tüddeln auf engstem Raum bedeuten
       soll – einschließlich der Erfinder.
       
       Der Slogan stammt aus [2][„Mama ŠČ“], dem ESC-Beitrag von Let 3, mit dem
       sie am Samstag im Finale stehen. „ŠČ!“ klingt lustig, ironisch,
       dadaistisch, surrealistisch. Alles andere? Unklar. Auch für
       Kroatischsprechende wie mich.
       
       Ich etwa denke bei „ŠČ!“ an „Scht!“, also an „Hör auf!“, „Sei leise!“,
       „Basta!“, „Es reicht!“, an eine Variation des [3][Anti-Kriegs-Slogans] „No
       more war“. Ich denke aber auch an unverständliches Gebrabbel und
       interpretiere „ŠČ!“ als slawische Aktualisierung von Charlie Chaplins
       großer Diktatoren-Parodie.
       
       Dass diese semantisch völlig offene Form „ŠČ!“ einen derartigen Erfolg hat,
       sollte Kulturpessimisten ein Zeichen sein, dass ihre Sorge unbegründet ist.
       Völlig egal, ob „Mama ŠČ“ den ESC gewinnt – er ist jetzt schon
       Mehrfachsieger: Der Erfolg von „ŠČ!“ ist der Sieg des Publikums über die
       Experten, der Kunst über das Management, der uneindeutigen Eindeutigkeit
       über die vermeintliche Neutralität.
       
       ## Keine politischen Aussagen geduldet
       
       „Mama ŠČ“ rettet dem ESC 2023 politisch den Arsch. Nicht nur, weil er – wie
       auch die Beiträge der Schweiz und Tschechiens – [4][den Krieg textlich
       anspricht], obwohl der ESC keine politischen Aussagen duldet. Auch, weil
       „Mama ŠČ“ über schrillste Ästhetik und universale Sprache (ja, „ŠČ!“
       sollten Sie ab sofort so selbstverständlich benutzen wie „Ok Bruder“) die
       Krieger in ihrer Lächerlichkeit inszeniert und damit das Publikum zum
       Jubeln bringt.
       
       Mit ihren militärischen Fantasie-Uniformen, dicken Schnauzbärten, auf
       Atomraketen reitend, sich bis auf die Unterhose ausziehend und Rosen
       zwischen den nackten Ärschen klemmend, ist die Botschaft von „Mama ŠČ“
       eindeutiger als der Refrain.
       
       Den restlichen Text hingegen muss man nicht verstehen, um die Parodie zu
       verstehen. „Psychopath“ und „Traktor“ versteht jeder. „Mama hat einen
       Traktor gekauft“, „Mama hat einen Trottel geliebt“, „Mama, ich gehe in den
       Krieg“ heißen die wenigen anderen Sätze, die die gewollte Überinszenierung
       von Absurdität nur noch weiter verstärken.
       
       Dass ausgerechnet die Kroaten diesen Beitrag als den ihren ins Rennen
       geschickt haben, spricht für diese Gesellschaft, die immer noch mit den
       Folgen des eigenen Krieges in den 1990er Jahren zu tun hat.
       
       [5][Die Band Let 3] ist in Kroatien seit Jahrzehnten so etwas, wie Laibach
       in Slowenien mal war: ein Bürgerschreck, ein Angriff auf die heimelige
       Ordnung der Geschlechter, der Mächte, des Geschmacks.
       
       ## Eigentlich ein Skandal
       
       Ins Deutsche übertragen wäre Let 3 eine Mischung aus der antideutschen
       Punkband Egotronic („Raven gegen Deutschland“), der NDW-Band Trio (Da, Da,
       Da) und der kanadisch-deutschen Queer-Punk-Ikone Peaches („Fuck the pain
       away“).
       
       Die kroatischen Postpunkrocker-Oldies zeigen nun buchstäblich ihre Eier, um
       den Kriegern die Hosen runterzuziehen. Anders als die Ausrichter des ESC.
       Dass der diesjährige Austragungsort Liverpool nur ein Ausweichquartier ist,
       gerät in der bisherigen Inszenierung des Wettbewerbs stark in den
       Hintergrund.
       
       Eigentlich hätte die Show in der Ukraine stattfinden sollen. Deren
       Repräsentanten, die Band Kalush Orchestra, hatten den Wettbewerb 2022
       gewonnen. Die Ukraine hatte sich freudig bereit erklärt, den ESC
       auszurichten, doch die Chefs des ESC, die European Broadcasting Union,
       entschieden sich dagegen. Eigentlich ein Skandal.
       
       Was wäre das für eine Feier des Lebens und eine Demonstration europäischer
       Solidarität gewesen, wenn an diesem Samstagabend alle mal nicht auf die
       Ukraine in Trümmern oder im Schützengraben geguckt hätten?
       
       Stattdessen gibt es nur das ESC-Motto „United by Music“. Wenigstens im
       Namen hätte man an die Besonderheit der Situation erinnern und sich
       beispielsweise „ESC in Exile“ nennen können.
       
       12 May 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Eurovision-Song-Contest/!5850434
   DIR [2] https://www.ardmediathek.de/video/eurovision-song-contest/let-3-mama-sc-kroatien-oder-offizielles-video/das-erste/Y3JpZDovL25kci5kZS85NTdhZWZlMC0wZTg3LTQ5MjQtYmJhOC1lZDAyYTYwZjhlZTk
   DIR [3] /Paul-Schaefer-zu-Friedensbewegung/!5915768
   DIR [4] /Historiker-ueber-den-Ukraine-Krieg/!5929944
   DIR [5] https://www.youtube.com/watch?v=qEV-VCxp4OM
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Doris Akrap
       
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