URI: 
       # taz.de -- Wiederentdeckung der Autorin Maria Lazar: Schreiben als weibliche Waffe
       
       > Die österreichische Schriftstellerin Maria Lazar, lange vergessen, wird
       > nachhaltig wiederentdeckt. Jetzt auch beim Berliner Theatertreffen.
       
   IMG Bild: Maria Lazar, 1933, als sie sich Esther Grenen nannte
       
       Maria Lazar kann einen heutzutage unbedingt überraschen. So überaus direkt
       und gegenwärtig wirkt ihre Sprache. Liest man „Die Eingeborenen von Maria
       Blut“, den 1937 im Exil verfassten und einige Jahrzehnte lang nicht
       veröffentlichten Roman der österreichischen Schriftstellerin, blättert man
       schon mal erstaunt zurück zur Angabe der Entstehungszeit.
       
       Das Buch erzählt von religiösem Wahn, Wissenschaftsfeindlichkeit und
       rechten Verschwörungstheorien in der österreichischen Provinz. 1958 ist es
       schon einmal publiziert worden, allerdings in der DDR. Das genügte in Wien
       offenbar, später die Finger davon zu lassen. Die in den 1920er Jahren
       erfolgreiche, in Wien bestens vernetzte Schriftstellerin war nach Exil und
       Tod zum Phantom in der österreichischen Literatur geworden.
       
       2014 begann eine Verlagsgründung mit dem programmatischen Namen „Das
       vergessene Buch“, Lazars Werke wieder zu drucken. „Die Eingeborenen von
       Maria Blut“ wurde 2015 zum Erfolg bei Feuilleton und Publikum, mit einer
       weiteren Auflage 2020. Am Wiener Akademietheater hat Lucia Bihler den Stoff
       zu einem formal zugespitzten Theaterabend gefügt und gastiert damit am 22.
       und 23. Mai beim [1][diesjährigen Berliner Theatertreffen.]
       
       Die Wiederentdeckung Maria Lazars hält an. Nach „Leben verboten!“ (2021)
       veröffentlicht ihr Verleger, der junge Wiener Germanist Albert C. Eibl, in
       „Viermal ICH“ einen weiteren Roman aus dem Nachlass. Es ist die vielleicht
       reifste Ausprägung ihres literarischen Verfahrens: präzise Beschreibung der
       Umwälzungen einer modernen Gesellschaft, psychoanalytisch geschulte
       Beobachtung von Figuren und Motiven, nicht zuletzt Schreiben als Waffe
       weiblicher Selbstermächtigung.
       
       Wie aber konnte Maria Lazar überhaupt in Vergessenheit geraten? In ihren
       biografischen Daten taucht geradezu ein Kompendium bedeutender
       Persönlichkeiten seit der Wiener Jahrhundertwende auf. Ein blinder Fleck in
       der Kunstbetrachtung nimmt Frauen immer noch eher als Katalysatoren
       kollektiver Prozesse wahr und weniger als ihre handelnden Akteurinnen, bei
       Lazar bis zur gänzlichen Ausblendung. Auch konnte die österreichische
       Öffentlichkeit, die ihr Land lange [2][als „erstes Opfer“ des
       Nationalsozialismus] sehen wollte, mit jemandem wie Maria Lazar zunächst
       wenig anfangen.
       
       ## Dorfdepp wird zur Führerfigur
       
       In ihrem Roman ist Maria Blut ein dystopischer Ort in den frühen 1930er
       Jahren, jedoch gelegen in malerischer Landschaft irgendwo zwischen Wien und
       dem Salzkammergut. Das Unheil zweier konkurrierender Faschismen, dem
       deutschnationalen und dem klerikalen, frisst sich schleichend in die Idylle
       und gebiert ein Monstrum. Ein Underdog, der Dorfdepp wird zur Führerfigur.
       
       Es ist die Selbstkolonisation der „Eingeborenen“ im ländlichen Österreich,
       deren unterdrückte Aggression sich gegen alles Jüdische und Proletarische
       wendet. Mitten in der Wirtschaftskrise klammern sich die Dörfler an die
       frommen Lügen eines wahnhaften Marienkults, pilgern zu Wunderheilern und
       verspekulieren ihre letzten Schillinge für ein Perpetuum-mobile-Projekt zur
       Erzeugung endloser Energie. Die Geburt des Nationalsozialismus aus dem
       Geiste der Provinz.
       
       Im auf Deutsch noch unveröffentlichten Essay „Made in Austria“ verfolgt
       Lazar 1945 den Ursprung des eliminatorischen Antisemitismus der Nazis
       zurück bis ins österreichisch-ungarische Imperium und die erste
       österreichische Republik. Nicht jüdisch und nicht slawisch zu sein wurde
       zur nur durch die Energie des Ressentiments zu stützenden Ersatzidentität
       des „kleinen Mannes“ in (Deutsch)Österreich.
       
       Die Tochter aus gutem Hause, aber eben jüdischem Hause, hat früh schon
       gelernt, den Hoffnungen der Elterngeneration zu misstrauen, die glaubten,
       mit Bildung, wirtschaftlichem Erfolg und dem Übertritt zum Katholizismus in
       der aufgeklärten Staatlichkeit der Habsburgermonarchie endlich angekommen
       zu sein.
       
       Der Prosaerstling „Die Vergiftung“ (1920) rechnet mit den Zwängen, Lügen
       und falschen Hoffnungen der Familie ab. Noch vom expressionistischen
       Zeitgeist berührt, zeigt sich unbestechlich ein analytischer, geschulter
       Blick auf die Ökonomie des Begehrens wie auf die der materiellen
       Verhältnisse.
       
       ## Bert Brecht und Helene Weigel
       
       Maria Lazar emanzipiert sich, wird Schriftstellerin, Sozialistin, schreibt
       für linksliberale Blätter und die Arbeiterzeitung, heiratet Friedrich
       Strindberg, den Sohn von Frank Wedekind und Frida Strindberg. Die
       schwedische Staatsbürgerschaft verschafft ihr und ihrer Tochter Judith
       sicheres Exil.
       
       Ende der 1920er Jahre wählte sie mit Esther Grenen ein skandinavisch
       klingendes Pseudonym und gab sich als ihre eigene Übersetzerin aus.
       Deutschsprachigen Verlagen war es schon nicht mehr opportun, zu sehr auf
       jüdische Autor:innen zu setzen. Gemeinsam mit der Schriftstellerin Karin
       Michaëlis organisiert sie das Exil für Bert Brecht und ihre Jugendfreundin
       Helene Weigel, streitet mit Brecht über seine Loyalität zur Sowjetunion
       nach dem Molotow-Ribbentrop-Pakt. 1948 beendet sie in der Aussicht auf eine
       schwere chronische Krankheit im schwedischen Exil ihr Leben selbst.
       
       Ihrem Verleger Eibl und der Wiener Rundfunkjournalistin Kerstin Schütze
       fiel 2022 ein einzigartiger Fund zu. Kathleen Dunnamore, Lazars Enkelin im
       britischen Nottingham, gab ihnen eine Kiste unversehrter, unbearbeiteter
       und unveröffentlichter Manuskripte mit, die nun im Wiener Literaturhaus
       lagern. Die Flaschenpost ist angekommen. Entdeckungen sind zu erwarten.
       
       7 May 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Berliner-Theatertreffen-2023/!5911344
   DIR [2] /Shelly-Kupferberg-und-ihr-Buch-Isidor/!5876127
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uwe Mattheiß
       
       ## TAGS
       
   DIR Literatur
   DIR Österreich
   DIR Theater
   DIR Exil
   DIR Feminismus
   DIR Sozialismus
   DIR Podcast „Vorgelesen“
   DIR Bühne
   DIR wochentaz
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Ibiza-Affäre
   DIR Schwerpunkt Femizide
   DIR Theater
   DIR Bildende Künstler
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR 125 Jahre Wiener Volksoper: Nicht mehr benötigte Dienste
       
       Vor Österreichs „Anschluss“ bestimmten jüdische Künstler dort die
       Operettenlandschaft. Ihre Geschichten kommen in der Volksoper Wien auf die
       Bühne.
       
   DIR Caroline Schmitt „Liebewesen“: Welten krachen gegeneinander
       
       Caroline Schmitt beschreibt in ihrem Debütroman ein Paar mit allzu
       verschiedenen Prägungen. Eines, das gar nicht zueinander finden kann.
       
   DIR Belarus und Ukraine beim Theatertreffen: Performance aus dem Bunker
       
       Neben dem klassischen Programm wartet das Berliner Theatertreffen mit einer
       politischen Nebensparte auf. Deren Fokus liegt auf Osteuropa.
       
   DIR Debatte mit Julian Hessenthaler: Die Einsamkeit des Whistleblowers
       
       Julian Hessenthaler, der Produzent des „Ibiza“-Videos, diskutierte in Wien.
       Ein Lehrstück über Österreich, Korruption und illiberale Demokratie.
       
   DIR Feministische Literatur in Österreich: Die beredte Wut der Autorinnen
       
       Als progressiv und selbstkritisch möchte sich Österreich als Gastland der
       Buchmesse präsentieren. Viele Schriftstellerinnen nehmen diesen Anspruch
       ernst.
       
   DIR Diversität im Theater: Mit fremden Federn geschmückt
       
       Wenn große Repertoiretheater mit der freien Szene zusammenarbeiten, wird
       ihr Angebot vielfältiger. Aber sie verlieren auch den Kern ihrer Marke.
       
   DIR Poetischer Reisebericht: Die Quallen im Sund
       
       Ein Stipendium im Sommer, am Meer, mit den Kindern. Im dänischen
       Brecht-Hus, wo Bertolt Brecht und Helene Weigel sicher vor den Nazis waren.