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       # taz.de -- Ein Jahr ohne Paragraf 219a: Kontrolle über Frauenkörper
       
       > Der Paragraf 219a wurde vor einem Jahr abgeschafft. Ärzt*innen dürfen
       > über Schwangerschaftsabbrüche aufklären. Kriminalisiert werden diese
       > weiterhin.
       
   IMG Bild: Bereits 1928 demonstrierten Frauen in Leipzig gegen das Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen
       
       „Es ist höchste Zeit, meine Damen und Herren.“ Mit diesen Worten erklärte
       Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) am 24. Juni 2022 das Ende von
       Paragraf 219a Strafgesetzbuch (StGB). Der Bundestag stimmte für die
       Abschaffung jenes Gesetzes, das Ärzt*innen untersagte, öffentlich darüber
       zu informieren, dass und wie sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Die
       Ampelkoalition feierte sich für diesen Schritt, doch die Kriminalisierung
       von Schwangerschaftsabbrüchen dauert in Form von Paragraf 218 bis heute an.
       „Begeht die Schwangere die Tat, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu
       einem Jahr oder Geldstrafe“, heißt es darin unter anderem.
       
       Der Paragraf 219a wurde im Mai 1933 von den Nationalsozialisten eingeführt,
       getrieben von der „Erkenntnis der Wichtigkeit des Nachwuchses“. Die Nazis
       verschärften das Abtreibungsrecht über die Jahre immer massiver. Ab 1943
       drohte bei Schwangerschaftsabbrüchen eine Gefängnis- oder Zuchthausstrafe.
       Die Durchführenden mussten sogar mit der Todesstrafe rechnen, wenn dadurch
       „die Lebenskraft des deutschen Volkes fortgesetzt beeinträchtigt“ wurde.
       
       Die Nazis sanktionierten Abbrüche massiv, wenn es um Frauen „deutscher
       Volkszugehörigkeit“ ging. Auf der anderen Seite zwangen sie Frauen, die sie
       in ihrer rassistischen und antisemitischen Ideologie als „unwert“
       betrachteten, zu Abtreibungen. In Auschwitz experimentierten sie mit
       brutalen Sterilisationsmethoden an Jüdinnen und Romnja. Im Juli 1933, nur
       zwei Monate nach Einführung von Paragraf 219a, erließen die Nazis das
       „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, auf dessen Grundlage
       Zehntausende Menschen mit Behinderung zwangssterilisiert wurden.
       
       ## Kriminalisierung nicht erst seit dem Nationalsozialismus
       
       Doch man macht es sich zu leicht damit, Paragraf 219a als Überbleibsel des
       Nationalsozialismus abzustempeln, das nun endlich abgeschafft ist. Denn er
       war nur ein Auswuchs der Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch generell.
       Dessen Kriminalisierung in Deutschland war keineswegs eine Erfindung der
       Nazis, sondern seit 1871 Teil des deutschen Strafrechts. Bereits ab 1913
       und auch in der Weimarer Republik war über Gesetzesvorhaben diskutiert
       worden, die dem späteren Paragrafen 219a ähnelten.
       
       So verwundert es nicht, dass die Alliierten nach 1945 zwar die Todesstrafe
       auf Schwangerschaftsabbrüche aufhoben, das Verbot selbst aber aufrecht
       erhielten. Auch dem Paragrafen 219a schrieben sie keinen „spezifischen
       NS-Gehalt“ zu. Zu sehr waren diese Regelungen Teil jener
       menschenverachtender Gesetze, die zu dieser Zeit in Europa überall zu
       finden waren und die der Kolonialismus in alle Welt trug. Während heute
       gerne argumentiert wird, dass diese Verbote dem Schutz des sogenannten
       ungeborenen Lebens dienen würden, ging es denen, die sie erließen, immer
       schon um eines: die Kontrolle der Bevölkerung durch die Kontrolle über
       Frauenkörper.
       
       Diese Gesetze haben Abtreibungen niemals verhindert, aber immenses Leid
       hervorgerufen. So war etwa nach dem Ersten Weltkrieg die Not vieler
       Menschen ohnehin groß, der Zugang zu Verhütungsmitteln schlecht. Viele
       Schwangere wussten nicht, wie sie noch ein weiteres Kind durchbringen
       sollten. Schätzungen zufolge fanden in der Weimarer Republik jährlich bis
       zu einer Million illegale Schwangerschaftsabbrüche statt, durchgeführt oft
       von sogenannten Kurpfuschern oder Engelmacherinnen, die mit Giften wie
       Arsen und Zyankali oder mit spitzen Gegenständen arbeiteten. Jedes Jahr
       wurden rund 125.000 Frauen nach unsicheren Abbrüchen in Krankenhäuser
       eingeliefert, 40.000 trugen bleibende Schäden davon, 50.000 starben.
       Zwischen 1919 und 1933 wurden 60.000 Frauen wegen illegaler Abtreibungen
       verurteilt.
       
       ## Schwangerschaftsabbrüche sind auch eine Klassenfrage
       
       Doch nie traf es alle Frauen gleich. Wer wusste, an welche Ärzte man sich
       wenden musste und obendrein über das nötige Geld verfügte, konnte damals
       über alle Verbote hinweg weitestgehend sicher und diskret eine ungewollte
       Schwangerschaft beenden. Das war kein Geheimnis. „Es hat noch nie eine
       reiche Frau wegen Paragraf 218 vor dem Kadi gestanden“, konstatierte
       seinerzeit der SPD-Politiker Gustav Radbruch, Justizminister der Weimarer
       Republik. Abtreibungsverbote waren damals und sind bis heute:
       Klassenparagrafen.
       
       Sie sind frauenverachtend. Sie sind rassistisch, klassistisch, und oftmals
       auch behindertenfeindlich. Das zeigen die Gesetze der Nazis ebenso wie die
       in der Bundesrepublik lange geltende „eugenische“ Indikation, nach der
       trotz eigentlich geltendem Verbot eine Schwangerschaft in egal welchem
       Stadium abgebrochen werden konnte, wenn beim Fötus Anomalien festgestellt
       wurden.
       
       Das gilt in Deutschland übrigens bis heute, auch wenn wegen des
       Nazi-Anklangs nicht mehr „Eugenik“ darüber steht, sondern mit der
       psychischen Belastung der Schwangeren argumentiert wird. Grundsätzlich gilt
       aber weiterhin, dass Abbrüche eine Straftat sind, die nur in bestimmten
       Fällen ausnahmsweise nicht bestraft wird: innerhalb von 12 Wochen nach
       Befruchtung, nach einem offiziellen Beratungsgespräch und einer dreitägigen
       Bedenkfrist.
       
       ## Paragraf 218 steht im Widerspruch zu Menschenrechten
       
       Strafrechtliche Verbote von Abtreibungen wie der deutsche Paragraf 218 sind
       in einem modernen Rechtsstaat fehl am Platz. Schon in der Weimarer Republik
       wendet sich eine feministische Massenbewegung gegen das Verbot: Auf
       Kundgebungen, in Theaterstücken, Romanen und Filmen wird der „staatliche
       Gebärzwang“ angekreidet als unvereinbar mit der Würde der Frau, deren
       Gleichberechtigung die Weimarer Reichsverfassung doch gerade eingeführt
       hatte. An dieser grundlegenden Forderung hat sich auch rund 100 Jahre
       später nichts geändert – die Vorzeichen hingegen sind heute eigentlich
       andere.
       
       Denn: Selbstbestimmt über die eigene Reproduktion zu entscheiden, ist seit
       den 1990er Jahren als Menschenrecht international anerkannt. Gerade erst
       hat das Komitee der UN-Frauenrechtskonvention CEDAW kritisiert, diese
       Kriminalisierung in Deutschland habe „schwerwiegende negative Konsequenzen“
       für die Versorgungslage ungewollt Schwangerer.
       
       Der zuständige Ausschuss wollte wissen: „Was sind also die konkreten Pläne
       und der Zeitplan für die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen
       und die Beseitigung aller Hindernisse – indem zuallererst die
       diskriminierende Vorschrift §218 aus dem Strafgesetzbuch entfernt wird?“
       Ende März hat die Bundesregierung eine Kommission eingesetzt, die
       Möglichkeiten außerhalb des Strafrechts prüfen soll. Zu welchem Schluss
       diese kommt und vor allem, was die Bundesregierung dann damit anfängt, das
       ist noch völlig offen. Um es mit den Worten des Bundesjustizministers zu
       sagen: „Es ist höchste Zeit, meine Damen und Herren.“
       
       24 Jun 2023
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dinah Riese
       
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