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       # taz.de -- Antrittsvorlesung von Nancy Campbell: Vom Eis und vom Bewahren
       
       > Nancy Campbell ist eine aufregende Autorin in Sachen Nature Writing. In
       > Berlin hielt sie ihre Antrittsvorlesung als Gastprofessorin.
       
   IMG Bild: Von Nancy Campbell ist bisher nur ein Buch auf Deutsch erchienen
       
       Es gibt viele heitere Momente an diesem schönen Donnerstagabend in der
       Holzlaube der Freien Universität in Berlin. Aber einer der lustigsten ist
       zweifellos, als Nancy Campbell, die neue Samuel Fischer-Gastprofessorin am
       Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende
       Literaturwissenschaft, ein Foto von einem Wörterbuch zeigt. Es ist während
       ihres Aufenthaltsstipendiums auf der grönländischen Insel Upernavik vor
       zehn Jahren entstanden.
       
       Zu sehen ist ein aufgeschlagenes grönländisch-englisches Wörterbuch, in dem
       ein winziger Zettel mit dem Wort „if“ klemmt. Das Museum, in dem Campbell
       arbeiten durfte, habe keine Gegenleistung für den Aufenthalt verlangt, sagt
       sie. Also ließ sie dieses kleine, aber im Englischen immens wichtige
       Wörtchen auf Grönland zurück. „I managed to do without this word for about
       seven years“, berichtet sie, und das Publikum liegt ihr zu Füßen.
       
       Denn auf diese Weise hat Nancy Campbell bewundernswert präzise ihr großes
       literarisches Projekt umrissen. Aufgewachsen an einem abgelegenen Ort in
       Schottland, lernte sie zunächst Buchdruckkunst und schreibt seit ihrem
       Aufenthalt auf Upernavik bevorzugt in der Kälte. Dabei geht es zentral um
       die Folgen des Klimawandels, [1][um das Eis, das schmilzt,] und mit ihm die
       Lebensweisen der Menschen, die im Eis leben – und ihre bedrohten Sprachen
       als Archive eines ökologischen Bewusstseins, von dem wir nur träumen
       können.
       
       Um das plastisch zu machen, zeigt Nancy Campbell eine Seite aus dem
       einzigen ihrer Bücher, das bislang auf Deutsch erschienen ist, „Fünfzig
       Wörter für Schnee“. Darauf wird ein Wort aus dem Inupiaq vorgestellt, einer
       Inuit-Sprache, die in Alaska gesprochen wird. „Tutqiksrigvik“, heißt es da,
       sei ein Wort für einen „Ort mit einer Schneeschicht auf uferfestem Eis, an
       dem ein Boot und die Ausrüstung kopfüber gelagert werden können“.
       
       ## Bewundernswert beherzt
       
       Hintergrund sind die Techniken der Jäger Alaskas, die im Sommer „wochenlang
       auf dem Meereis kampieren und nach Grönlandwalen Ausschau halten“, während
       am Eisrand ein Boot mit Harpune bereitsteht.
       
       Nancy Campbell, so viel steht fest, ist eine der spannendsten [2][Nature
       Writers ihrer Generation.] Doch anders als viele von ihnen, die manchmal
       schon ein bisschen weltmüde wirken, dreht sie das Bewahrende ihrer Prosa
       und ihrer Poesie bewundernswert beherzt in die Gegenwart und in die
       Zukunft.
       
       Selbst noch ihr autofiktionales Buch, das letztes Jahr in England erschien,
       ist von dieser Brisanz angetrieben: Es handelt vom temporären Ausstieg der
       Autorin aus der bürgerlichen Gesellschaft, als die Partnerin einen schweren
       Schlaganfall erleidet und dabei auch ihre Sprache verliert. Dabei geht es
       nicht nur ums private Fiasko, sondern auch um den Kampf zweier Leute, die
       nie viel Wert auf Geld legten und nun am Rand stehen.
       
       Das Seminar, das Campbell derzeit an der Universität gibt, heißt übrigens
       „On water and other voices“. Ihre Studierenden werden ziemlich glücklich
       sein mit ihrer Lehrerin.
       
       6 May 2023
       
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