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       # taz.de -- Die Wahrheit: „Bitte wählen Sie etwas Geduld!“
       
       > Eine ultramoderne neue Technik soll die Wahlbeteiligung bei den
       > anstehenden Landtags- und Kommunalwahlen verbessern: die Telefonwahl.
       
       Das wird revolutionär“, sagt Jens Hansen aufgeregt und zeigt auf das Plakat
       hinter sich an der Wand. „Schleswig-Holstein wählt!“, steht dort in großen
       roten Lettern. Darunter ist das Tastenfeld eines Festnetztelefons zu sehen.
       „Sehen Sie? Wählen und Wählen. Hab ich mir ausgedacht.“
       
       Der 45-jährige für sein Alter sehr sportlich scheinende Hansen ist
       Landeswahlleiter von Schleswig-Holstein und für nichts geringeres als eine
       „Revolution“ verantwortlich: Nach der traditionellen Wahl mit Hingehen und
       Ankreuzen und der modernen Briefwahl gibt es 2023 endlich auch die Wahl per
       Telefon. „Das wird episch!“
       
       Die Telefonwahl wird zuerst in Schleswig-Holstein und Bremen eingeführt, im
       Herbst kommen Hessen und Bayern dazu. Man wollte zunächst in Berlin
       anfangen, „… aber, naja, Sie wissen ja. Berlin und Wahlen …“, meint Hansen.
       
       Wir stehen in der schleswig-holsteinischen Telefonwahlzentrale, einem
       leeren Großraumbüro. Hansen holt sein Mobilfon aus der Jackentasche, wählt
       die offizielle Wahlrufnummer und stellt sein Telefon auf laut. Eine nette
       junge Frau mit einem unidentifizierbaren Akzent meldet sich.
       
       ## Wahlhelferin für die ABC-Partei
       
       „Kommunalwahl Schleswig-Holstein, guten Tag. Mein Name ist Stefanie, ich
       bin ihre Wahlhelferin. Sie möchten ihre Stimme abgeben?“
       
       „Ja“, sagt Hansen. „Ich möchte die ABC-Partei wählen.“
       
       „Mit der Erststimme? Oder mit der Zweitstimme? Oder mit beiden?“
       
       „Mit beiden bitte.“
       
       „Sehr gern“, sagt Stefanie und macht – so erklärt uns Hansen später – zwei
       Striche in einer Excel-Tabelle. Dann drückt er auf Gespräch beenden.
       
       „So einfach wird demnächst bei uns in Deutschland gewählt“, sagt er
       begeistert, „einfach anrufen. Wie beim Telefonbanking.“
       
       Das persönliche Gespräch mit einer der 200 Wahlhelfer – sie heißen alle
       Stefanie und werden von einem osteuropäischen Call-Center-Unternehmen
       gestellt – soll allerdings die Ausnahme sein, Herzstück der Telefonwahl ist
       das interaktive Sprachsystem ChatElect.
       
       „Wir müssen die Digitalisierung der Demokratie weiter vorantreiben“, sagt
       Hansen, „Wahl per SMS, per E-Mail, ja, sogar einfach online. Niemand muss
       für die Demokratie mehr aus dem Haus gehen, schon gar nicht in den Zeiten
       des Klimawandels. Umfragen haben gezeigt, dass das Wetter die
       Wahlbeteiligung extrem beeinflusst. Bei Regen bleiben die Menschen zu
       Hause, bei Sonnenschein fahren sie ohne Umweg an den nächsten Badesee.“
       
       ## Wahlbeteiligung bei 100 Prozent
       
       ChatElect kann unentschlossenen Wählerinnen und Wählern helfen, die für sie
       richtige Partei zu küren. Wer wählen will, aber nicht weiß was, dem hilft
       eine kurze Beratung durch ChatElect. Die Politik erhofft sich dadurch eine
       Wahlbeteiligung bis zu 100 Prozent. Ist die Telefonwahl denn auch so sicher
       wie die herkömmliche Wahl?
       
       „Oh, die Sicherheit ist super, genauso wie bei jeder Wahl: Sie bekommen die
       Wahlbenachrichtigung per Post. Da steht auch die Telefonwahlnummer und ihre
       persönliche achtstellige Pin. Aber was erkläre ich hier so viel“, sagt der
       rothaarige Wuschelkopf Hansen und zeigt an die hintere Wand, „Sie können
       das gern mal ausprobieren, wir haben dort ein paar Wahlkabinen für Sie
       aufgebaut.“
       
       In jeder Kabine steht ein Stuhl, ein Tisch und ein beiges Tastentelefon –
       das gute alte FeTAp der Deutschen Bundespost. Auf einem Zettel steht unsere
       persönliche Wahl-Pin. Wir setzen uns und rufen an. Es klingelt.
       
       „Guten Tag“, sagt eine freundliche Stimme: „Herzlich willkommen bei der
       Kommunalwahl Schleswig-Holstein 2023. Möchten Sie per Tastatureingabe
       abstimmen, drücken Sie bitte die 1. Möchten Sie per Spracheingabe
       abstimmen, drücken Sie bitte die 2. Möchten Sie mit einem Wahlhelfer oder
       einer Wahlhelferin sprechen, drücken Sie die 3.“
       
       Wir drücken die 2. „Vielen Dank“, sagt die Stimme, „sie haben die
       Spracheingabe gewählt. Bitte geben Sie ihre persönliche achtstellige
       Wahl-Pin ein.“
       
       „1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8“, sprechen wir langsam in den Hörer.
       
       „Vielen Dank. Ihre persönliche achtstellige Wahl-Pin ist gültig. Bitte
       geben sie jetzt ihre Wahl für die Erststimme zur Kommunalwahl
       Schleswig-Holstein ein. Sagen Sie bitte die Nummer oder die Partei. Zu Wahl
       stehen: 1 – CDU, 2 – FDP, 3 – AfD, 4 – AfD, 5 – SPD, 6 – Grüne, 7 – Linke,
       8 – Freie Wähler …“ Es folgen sieben weitere Parteien. Wir sagen
       spaßeshalber: „1“.
       
       „Vielen Dank, Sie haben mit ihrer Erststimme die FDP gewählt. Wenn Sie eine
       günstige Auto-Versicherung abschließen möchten, drücken Sie jetzt bitte 9.
       Sie werden dann zu unserem Shop weitergeleitet, wo sie noch andere günstige
       Angebote wahrnehmen können. Nach dem Kauf können Sie ihre Zweitstimme
       abgeben.“ Es folgt eine kurze Pause. „Bitte geben Sie jetzt ihre
       Zweitstimme ab.“ Wieder zählt die Stimme die Parteien auf. Jetzt wählen wir
       ironisch die FDP.
       
       „Sie haben mit der Zweitstimme die AfD gewählt. Vielen Dank, dass Sie an
       der Kommunalwahl 2023 teilgenommen haben. Wenn Sie eine günstige
       Auto-Versicherung …“
       
       Wir legen auf und sprechen Hansen auf unsere Testwahl an.
       
       ## Wahl einer Autoversicherung
       
       „Das hat alles seine Richtigkeit. Die AfD tritt ja mit zwei Listen an. Die
       Werbung hilft uns, die Wahl kostenneutral durchzuführen. Und die
       Autoversicherung ist tatsächlich sehr günstig. Ich hab sie auch
       abgeschlossen.“ Und was ist mit der falschen Wahl?
       
       „Das ist keine ‚falsche‘ Wahl. ChatElect ist so programmiert, dass es aus
       Ihrer Stimme, Ihrer Art zu sprechen und ein paar weiteren Daten errechnen
       kann, welche Partei Sie wirklich wählen wollen beziehungsweise sollten. Sie
       können die Wahl aber jederzeit mit der Tastenabfolge ‚Raute‘, ‚Stern‘,
       ‚Raute‘, ‚44533‘, ‚Raute‘, ‚Stern‘, ‚Raute‘ abbrechen und entweder zur
       Tastatureingabe wechseln oder direkt mit einer unserer Wahlhelfer im
       Call-Center sprechen.“
       
       Letztlich ist die Telefonwahl aber auch nur ein Zwischenschritt zur totalen
       Digitalisierung, erklärt Hansen, in fünfzehn bis zwanzig Jahren wird sie
       schon wieder abgeschafft. Dann muss man nicht mehr selbst anrufen, sondern
       wird am Wahlsonntag von ChatElect direkt angerufen und kann nach einer
       kleinen Telefon-Shopping-Runde mit Bestellservice seine Stimme abgeben.
       
       „Dann gilt derselbe Spruch wie in Hollywood“, lacht Jens Hansen, „Rufen Sie
       nicht uns an, wir rufen Sie an!“
       
       13 May 2023
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael-André Werner
       
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