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       # taz.de -- Linkspartei vor der Wahl in Bremen: Die letzte Chance
       
       > Im Bund ein Trauerspiel, im rot-grün-roten Bremen läuft es besser. Ein
       > mieses Wahlergebnis wäre für die Linkspartei dramatisch.
       
   IMG Bild: Eine Umarmung für Gregor Gysi von Kristina Vogt, Spitzenkandidatin der Linken in Bremen
       
       Kristina Vogt steht auf der Bühne und blinzelt ins Scheinwerferlicht. Ein
       Abend in Bremerhaven, es sind noch neun Tage bis zur Wahl am 14. Mai. Vogt
       ist Wirtschaftssenatorin in Bremen und Spitzenkandidatin der Linkspartei.
       Auch Gregor Gysi ist in die Aula der ehemaligen Schule gekommen,
       Parteichefin Janine Wissler ebenfalls. Das ist viel Prominenz für
       Bremerhaven, den kleineren, unansehnlicheren Teil des Bundeslands. Ein
       Drittel der Menschen gilt hier als arm, so viele wie sonst nirgends in
       Deutschland.
       
       [1][Die Linkspartei ist im Bund in kläglichem Zustand.] Sahra Wagenknecht
       droht mit Spaltung, Tausende sind seit dem Ukrainekrieg ausgetreten.
       Manche, weil sie das Nein der GenossInnen zu Waffenlieferungen für die
       Ukraine falsch finden, andere weil sie das Ja zu Sanktionen gegen Russland
       zu viel finden. Die Stimmung ist finster. Nur Bremen ist ein Lichtblick.
       Meine Partei, sagt Gysi, „braucht dringend ein Erfolgserlebnis“.
       
       Dafür soll Kristina Vogt sorgen. Als sie zu reden beginnt, steht sie erst
       mal knapp neben dem Lichtkegel. Wie jemand, der Rampenlicht nicht so recht
       gewohnt ist. Hinter Vogt ist „dasneuerot“ zu lesen, der Wahlslogan der
       Linkspartei in Bremen. Alles kleingeschrieben.
       
       Das mag assoziativ nahelegen, dass die SPD, die hier seit 77 Jahren
       regiert, das alte Rot ist. Aber auch das ist Florett, kein Degen. Politik
       ohne Großbuchstaben und mit einem gewissen Fremdeln vor Scheinwerfern – ist
       das das Erfolgsrezept der GenossInnen in Bremen?
       
       ## Unverwüstliche Street Credibility
       
       Vogt (57) hat lange im ärmeren, migrantischen Bremer Westen gewohnt, ist
       alleinerziehende Mutter, Fußballfan, war früher Kneipenwirtin und ist
       insofern mit einer unverwüstlichen Street Credibility ausgestattet. „Wir
       haben in der Krise schnell Maßnahmen ergriffen, die es sonst so nicht gab“,
       sagt sie vor gut 100 GenossInnen in Bremerhaven.
       
       Sie fordert „ein Recht auf Qualifizierungsanspruch“ und lobt, dass wir „den
       Mindestlohn an den TV-L gekoppelt haben“. TV-L heißt Tarifvertrag für den
       öffentlichen Dienst der Länder. Dass der Mindestlohn in Bremen für
       öffentliche Aufträge über 12 Euro liegt, könnte man auch ein bisschen
       knalliger formulieren. Vogt tut das nicht.
       
       Die Rede ähnelt eher einem Rechenschaftsbericht als einer Wahlkampfrede.
       Auch wenn man die regionaltypische norddeutsche Kühle abzieht – die völlige
       Abwesenheit von rhetorischer Zuspitzung ist verblüffend.
       Oppositionsbashing? Das Klimaschutzpaket mit 2,5 Milliarden Euro, das
       Bremen bis 2038 klimaneutral machen soll, „würde es mit CDU und FDP nicht
       geben“, sagt sie. Mehr nicht. Kein Gut-Böse.
       
       Die Linkspartei war in Bremen schon immer etwas Besonderes. Ein Labor. Hier
       zog 2007 die erste linke Fraktion in ein westdeutsches Landesparlament ein.
       Seit 2019 regieren die GenossInnen zusammen mit SPD und Grünen. Es ist die
       einzige Regierungsbeteiligung der Linkspartei im Westen. Und die Bremer
       Linke ist der einzige Landesverband, der sich für Waffenlieferungen an die
       Ukraine ausgesprochen hat. 70 Prozent, schätzt ein linker Funktionär,
       tragen den Pro-Waffenlieferungen-Kurs mit.
       
       Nach der Veranstaltung steht Vogt im Türrahmen zum Hof. Draußen nieselt es,
       sie muss jetzt erst mal eine rauchen. Die FAZ hat sie mal „Super-Realo“
       genannt. Ist das so? „Die Hybris, mit der ich in den 80er Jahren den
       Menschen die Welt erklären wollte, habe ich nicht mehr“, sagt sie. Und legt
       den Kopf schief. Der Gradmesser für ihre Politik seien ihre Nachbarn,
       Leiharbeiter, Verkäufer, Krankenschwestern. Die müssten trotz Inflation
       Perspektiven haben. „Wir haben den Blick der Leute, die wenig Geld haben.“
       Deshalb habe man das Sozialticket auf Wohngeldbezieher ausgeweitet. Und den
       Ausbildungsfonds beschlossen.
       
       Das klingt simpel, ist es aber nicht. Es fußt auf der Analyse, dass Angst
       und Wut für Linke keine brauchbaren Aggregatzustände sind, die Aussichten
       auf Verbesserung hingegen schon. Und die seien trotz Armut für den
       Nordwesten eigentlich günstig, sagt Vogt. Künftig würden hier der Strom der
       Offshore-Windparks und die Tanker mit Wasserstoff anlanden – und jede Menge
       Jobs entstehen. „Wenn die Leute Angst haben, werden sie wütend“, sagt sie.
       Dagegen helfen nur kleine, konkrete Schritte. Keine Fensterreden. Weiter
       kann man von der Empörungsbewirtschaftung à la Wagenknecht kaum entfernt
       sein.
       
       Vogt und die linke Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard sind laut Umfragen
       hinter dem populären SPD-Regierungschef Andreas Bovenschulte und dem
       SPD-Fraktionschef [2][die beliebtesten Politikerinnen in Bremen] – vor den
       grünen SenatorInnen. Das verdankt sich einer Kombination aus Zufall und
       Können. Das Wirtschaftsressort rückte wegen der explodierenden
       Energiepreise ins Zentrum. Und als Bernhard 2019 das eher unbeliebte
       Gesundheitsressort übernahm, ahnte niemand, dass Corona anrollen würde.
       
       Die Bremer Coronapolitik ist viel gelobt worden. Anstatt
       Ressentiment-Debatten über impfunwillige MigrantInnen abzuwehren, schickte
       man hier früh mobile Teams in ärmere Viertel. Das Ergebnis: Bremen lag im
       bundesweiten Vergleich bei der Impfquote ganz vorn. Ein eher ungewohntes
       Gefühl für die Hansestadt, die bei Bundesländervergleichen selten oben
       landet.
       
       Bernhard, 62, sitzt nach der Veranstaltung in Bremerhaven auf einem
       Holzstuhl in einem Gang der ehemaligen Schule und sagt: „Wegen der Pandemie
       konnten wir Ressourcen herauskämpfen, die Gesundheit vorher nicht hatte.
       Zum Beispiel über 70 Stellen mehr im Gesundheitsamt.“ In Bremen kam viel
       zusammen, um die Krise zu bewältigen – bürgerschaftlicher
       Gemeinschaftsgeist und eben auch eine aktive Senatorin, die handfeste
       Lösungen wollte.
       
       Fast überschwänglich klingt das Zeugnis, dass Matthias Fonger,
       Hauptgeschäftsführer der Handelskammer, der linken Gesundheitssenatorin
       ausstellt. Die habe „die Idee der Wirtschaft aufgegriffen, ein großes
       Impfzentrum einzurichten: Das war bundesweit einmalig.“ Das
       Krisenmanagement sei „völlig unkompliziert gewesen“, die Coronapolitik in
       Bremen „überdurchschnittlich gut“.
       
       Dabei war der Start für Bernhard schwierig. Das Gesundheitsressort wurde
       2019 neu zugeschnitten, Teile des Zentralbereichs fehlten. „Am Anfang bin
       ich durch leere Flure gelaufen“, sagt sie. Und manche in ihrer Partei waren
       auf die Senatorin anfangs auch nicht gut zu sprechen. Beim Parteitag 2021
       attestieren ihr GenossInnen „rechte Politik“. Denn Bernhard wollte gut 400
       Stellen in vier städtischen Krankenhäusern des Verbunds Gesundheit Nord
       (GeNo) streichen. Sie solle sich „schämen“, Personal im Gesundheitssystem
       abzubauen, hieß es.
       
       Bernhard focht das nicht an. Man müsse den „exorbitanten Personalüberhang
       in der Verwaltung“ beseitigen. Es helfe nichts, „ein falsch strukturiertes
       System jährlich mit Millionen Euro zu schützen“. Damit würden die
       städtischen Krankenhäuser nur zur „reifen Frucht für eine Privatisierung“,
       sagt Bernhard.
       
       Annette Düring war von 2009 bis Ende 2022 DGB-Chefin in Bremen. Ein wenig
       hat ihr in den vergangenen vier Jahren die oppositionelle Linksfraktion
       gefehlt, die sie bitten konnte, DGB-Anliegen in der Bürgerschaft
       einzubringen. Andererseits gibt es jetzt den Ausbildungsfonds, den die
       Gewerkschaften so lange gefordert hatten. Die SPD war nicht wirklich dafür,
       die Grünen eher dagegen. „Eine Zwangsumlage helfe nicht“, so die
       arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen 2019.
       
       Jetzt gibt es die Umlage: Sie ist als Fonds organisiert, der die Kosten der
       Berufsausbildung auf die Unternehmen im Land gerecht verteilen soll.
       Einzahlen müssen alle. Teuer wird das für Firmen, die, gemessen an ihrer
       Größe, nur wenige Azubis aufnehmen. Wer dagegen überproportional viel
       ausbildet, profitiert, so die Idee. Das soll gegen den Fachkräftemangel
       helfen und die Ausbildungsquote steigern.
       
       „Unsinnig“, sagt Matthias Fonger, der für die Handelskammer spricht. Die
       Wirtschaft sei „geschlossen dagegen“. Es gebe eine vergleichsweise hohe
       Ausbildungsquote, und viele unbesetzte Lehrstellen. Das Konzept stamme aus
       einer Zeit, als es viele BewerberInnen für wenige Lehrstellen gab. Doch
       jenseits dieser Umlage fällt auch Fonger nur Gutes ein. Die
       Wirtschaftssenatorin sei „pragmatisch und anpackend“. Das habe „auch viele
       unserer Mitglieder überrascht, die eine ideologisierte Wirtschaftspolitik
       erwartet hatten“, sagt er.
       
       ## Überhöhte Erwartungen
       
       Der Zuspruch von DGB und Handelskammer mag gut tun. Aber Linke, die
       regieren, haben oft ein anderes Problem als mangelnde Akzeptanz. Sie
       scheitern häufig daran, nicht klarmachen zu können, was sie wollen, was sie
       können und was sie – Sachzwang – eben nicht können. Und an überhöhten
       Erwartungen der eigenen Klientel, die mitunter quer zum pragmatischen
       Regierungsgeschäft stehen.
       
       In Bremen gab es neben der GeNo zwei, drei solcher Punkte. Kleine Punkte.
       Auf der Deichkrone sollen Platanen aus Gründen des Hochwasserschutzes
       gefällt werden. Eine Bürgerinitiative wehrt sich dagegen. Die Linkspartei,
       früher eher Verbündete solcher Bürgerinitiativen, vertritt den
       Regierungskurs.
       
       Ähnliches gilt für den Streit über die Ansiedlung einer Bahnwerkstatt auf
       dem Gelände eines Gräberfelds von sowjetischen Kriegsgefangenen. Der
       Friedhof hätte 1948 aufgelöst, die Leichen umgebettet werden sollen – doch
       das geschah nur unvollkommen. Deshalb wehrt sich eine Initiative gegen die
       Ansiedlung der Bahnwerkstatt in ihrem ohnehin mit Schadstoffen und Lärm
       belasteten Stadtteil. Die Initiative will auf der Brache keinen
       Industriebetrieb, sondern eine Gedenkstätte. Allerdings lehnen das
       russische und das ukrainische Konsulat eine Gedenkstätte ab – und
       bevorzugen „eine würdige Umbettung“. Die Linkspartei ist für die
       Bahnwerkstatt.
       
       Olaf Zimmer, Linkspartei-Abgeordneter in der Bürgerschaft, findet das
       falsch. „In der Regierung sind wir für diese Initiativen nicht mehr
       Verbündete, sondern Teil des Problems“, sagt er. Die einzige Opposition sei
       dann die CDU. „Das ist fatal.“ Zimmer, der sich auf Wahlplakaten als
       „unangepasst, kämpferisch, antikapitalistisch“ präsentiert, ist die
       Verkörperung der innerparteilichen Opposition. Er ist strikt gegen
       Waffenlieferungen, und, wie Wagenknecht, gegen Sanktionen.
       
       Allerdings verdichtet sich die Kritik, dass die Linkspartei aus
       Koalitionsraison Ideale sausen lässt, nicht zu einer brauchbaren
       Verratsgeschichte. Gefällte Platanen taugen nicht als Sündenfall. Auch der
       linksoppositionelle Zimmer sagt kein böses Wort über die Regierungs-Linken.
       „Unsere Senatorinnen haben im Rahmen des Möglichen gute Arbeit gemacht. “
       
       Zimmer hat, obwohl auf aussichtslosem Listenplatz gelandet, Chancen wieder
       in die Bürgerschaft zu kommen. Denn in Bremen haben die WählerInnen fünf
       Stimmen, mit denen sie auch Kandidatinnen nach vorn befördern können, die
       deren Parteien nicht unbedingt im Parlament sehen. Allerdings bereitet auch
       das den linken Realos in der Hansestadt keine schlaflosen Nächte. Eine
       Bremer Linken-Politikerin sagt, sie fände es eher besorgniserregend, wenn
       gar niemand mehr Kritik üben würde.
       
       Wer solche Luxussorgen hat, muss um die innerparteiliche Geschlossenheit
       nicht fürchten. Ein ziemlich exotische Situation in der ansonsten
       zerstrittenen Bundes-Linken. Die Zweifel, ob sich das Experiment Regierung
       gelohnt hat, halten sich in Bremen in Grenzen. 78,5 Prozent der GenossInnen
       haben 2019 für den Koalitionsvertrag gestimmt. Anna Fischer, Co-Chefin der
       Bremer Linken, vermutet, es sind „eher noch mehr geworden“. Regieren fühle
       sich „ganz normal an“. Senatorin Bernhard hält das auch für einen Effekt
       der Erfahrung, die die GenossInnen auf der Straße am Infostand gemacht
       haben. Da hätten viele „von Passanten gehört, was eure linken Senatorinnen
       machen sei ja toll“. Das habe gewirkt.
       
       Nützlich war auch, dass Rot-Grün-Rot passabel zusammengearbeitet hat. Der
       grüne Finanzsenator Dietmar Strehl fand die Linken „unproblematisch“.
       Obwohl man beim Geld weit auseinander ist. Die Grünen führten in Bremen
       eine besonders rigide Schuldenbremse ein, Linksparteichef Christoph Spehr
       attestierte ihnen damals ein „religiöses Verhältnis zur schwarzen Null“.
       
       Die Verhandlungen um Finanzierungen der nötigen Coronahilfen war, so klagen
       manche Linke, zäh. Die linke Gesundheitssenatorin riet Klinikbeschäftigten,
       die vor ihrer Behörde demonstrierten, doch besser einmal vor dem Sitz des
       Finanzressorts zu protestieren. Ein kurzer Aufreger – nebst öffentlicher
       Entschuldigung danach. Dauerstreit wie bei der Bundesampel gab es nicht.
       „Beim Geldausgeben habe ich eine andere Grundhaltung als die Linken“, sagt
       Strehl. Doch mit den Linken, „mit denen ich in meinem Bereich politisch
       zusammengearbeitet habe, kann man reden“, so der grüne Senator.
       
       Und die Linkspartei im Bund? Ihr letztes bekanntes Gesicht ist Gregor Gysi.
       Mit 75 und hat noch immer etwas Jungenhaftes an sich. Er gibt in
       Bremerhaven noch immer den pfiffigen Clown, der der Macht eine Nase dreht.
       Er spricht über den Ukrainekrieg, die Inflation, die Ampel und sagt: „Es
       gibt nur eine Regierung, die nicht überfordert wäre – eine unter meiner
       Leitung.“ Er streut Anekdoten aus seinem Leben ein und schafft irgendwie
       eine wärmende, familiäre Atmosphäre. Gysi ist wie ein alter Rock ’n’
       Roller. Man hört die alten Hits gern noch mal. Aber so wie früher ist es
       nicht mehr.
       
       Für Gysis Verurteilung von Putins Krieg gibt es viel Applaus, für den Satz,
       dass „die Grünen nichts anderes kennen als Verbote“ (früher Copyright FDP)
       weniger. Gysi war immer der Zentrist, der Versöhner. Wo er war, war die
       Mitte der Partei. Er ist noch da, die Mitte nicht mehr.
       
       Als Janine Wissler ans Mikro tritt, wird es sofort doppelt so laut. Sie
       fordert eine Vermögensteuer, eine konsequente Klimapolitik, die
       Kindergrundsicherung, Politik für Geflüchtete und noch einiges mehr. „Wer
       von Armut redet, darf von Reichtum nicht schweigen“, sagt sie und rudert
       mit den Armen. Wissler hat mit vielem Recht. Aber sie hat in immer der
       gleichen Tonart Recht: laute Anklage gegen unfassbare Ungerechtigkeit.
       Vielleicht ergeben diese beiden Auftritte ein Bild der Krise der
       Linkspartei im Bund: der verblassende Charme der Opposition von früher,
       heute ein unpersönlich wirkendes Forderungsstakkato.
       
       ## Mixtur aus Gefühlspazifismus und Steinzeit-Antiimperialismus
       
       Szenenwechsel, [3][Bürgerhaus Hannover Misburg, acht Tage vor der Wahl.
       Hier treffen sich rund 240 Wagenknecht-AnhängerInnen.] Es ist der Teil der
       Partei, an dem Gysis Versuch, den Laden doch noch mal notdürftig
       zusammenzunageln, abprallt. Man liest hier junge Welt. Etwa die Hälfte ist
       über 70 Jahre, vielleicht ein Viertel ist jung. „Was tun?!“, steht in
       großen Lettern auf einem Banner. Eine Partei gründen – oder doch nicht?
       
       Fast alle RednerInnen legen nahe, der Ukrainekrieg gehe auf das Konto der
       USA. Man müsse „zurück zu Marx und Engels, der Kriegspropaganda
       widerstehen“ und an die Tradition der Arbeiterbewegung erinnern. Das klingt
       mitunter wie ein DKP-Parteitag, bei dem sich der Raum zwischen der
       Bedeutungslosigkeit einer 0,1-Prozent-Partei und der Weltgeschichte immer
       mühelos durch Anrufung einer imaginären Arbeiterklasse überbrücken ließ.
       
       Die linke Bundestagsabgeordnete Sevim Dağdelen behauptet, wie 1914 stehe
       „der Hauptfeind im eigenen Land“. 1914, soll das heißen, hat die SPD die
       Arbeiterklasse verraten, heute tue das die Linkspartei, die „an die Spitze
       der Kriegstreiber“ stehe. Die Linkspartei sei, so Ralf Krämer, der
       strategische Kopf des Ganzen, „der linke Flügel des herrschenden Blocks
       geworden“.
       
       Die Reden verströmen eine Mixtur aus Gefühlspazifismus, der schon immer zur
       DNA der Linkspartei gehörte, und einem Steinzeit-Antiimperialismus, der
       seit dem 24. Februar 2022 in Trümmern liegt. Nur hier im Bürgerhaus Misburg
       mit Glasbausteinen, Kaffee mit Milch für 2 Euro und ausgehärteten
       Weltbildern hat er kratzerfrei überlebt.
       
       Wenn man nach ein paar Stunden empörter Reden über Nato und
       Linkspartei-Verrat kurz die Augen schließt, kann man den Gedanken haben,
       dass nicht Putin die Ukraine überfallen hat, sondern die Nato Russland. Und
       Bodo Ramelow, Lieblingsfeind der Wagenknecht-AnhängerInnen, rollt gerade im
       Panzer nach Moskau.
       
       Diese linke Opposition verbindet drei Ideen. Der Ukrainekonflikt sei ein
       Stellvertreterkrieg der Nato. Die wahren Bösen sind, egal was passiert,
       immer die USA. Außerdem setze die Linkspartei auf Identitätspolitik und
       Moralklimbim anstatt an der Seite der Arbeiterbewegung zu kämpfen. Dass
       StudentInnen einfach so Kreisvorsitzende werden, sorgt hier für ähnliches
       Entsetzen wie die Lieferung von Kampfpanzern an Kiew.
       
       ## Wagenknecht zögert
       
       Zudem hat man – dritter Identitätsmarker – zu Grünen ein frostiges
       Verhältnis. Das Problem ist: Eine Partei, die Putin für gar nicht so
       schlimm hält, Wokeness und Grüne verachtet, gibt es bereits. Man braucht
       schon etwas Fantasie, um sich eine AfD light plus Arbeiterklassenrhetorik
       plus „demokratischer und ökologischer Sozialismus“ (Ralf Krämer) als
       Erfolgsmodell vorzustellen.
       
       Am Ende beschließt man, dass man nichts beschließt. Für die neue Partei
       müsste erst Wagenknecht wollen, aber die zögert und zögert. Dann müssten
       die 250 GenossInnen überlegen, ob sie auch wollen. Eine One-Woman-Show
       würde hier auf wenig Gegenliebe stoßen. Mit „mal sehen“ und „würde“ ist
       noch keine Partei gegründet worden. Klar ist nur: Wenn dies der Nukleus
       einer neuen Partei wird, hat er graue Haare und klingt nach gestern.
       
       Cornelia Barth, 64, macht vor dem Bürgerhaus Misburg mal kurz Pause. Die
       Sozialarbeiterin war von 2017 bis 2022 Vorsitzende der Bremer Linken. Keine
       Berufspolitikerin, betont sie. Auf dem Podium hat sie gerade um fünf
       Stimmen für Olaf Zimmer geworben, damit einer, der Nein zum Kriegskurs der
       Linkspartei sagt, wieder in die Bürgerschaft kommt.
       
       Bei der Bremer Linken vermisst sie „eine ehrliche Kommunikation“, und
       kritisiert, nun ja, die Abholzung der Platanen und die Ansiedlung des
       Bahnwerks. Und sonst? „Unsere Senatorinnen haben einen super Job gemacht“,
       sagt sie. Es ist nicht einfach, Bremer Linke zu finden, die sich wenigstens
       ein bisschen hassen.
       
       Auch wenn man in Bremen GenossInnen nach dem Kampf zwischen Wokeness und
       Arbeitertraditionalisten fragt, [4][der den Landesverband NRW gerade
       ruiniert hat,] stößt man auf freundliches Desinteresse. Gesinnungsschlacht
       um das Gendern? Hat man von gehört. Beim neuen Gleichstellungsgesetz und
       der Berücksichtigung von trans Frauen hat es etwas geknirscht. Aber um
       daraus einen Kampf Gut gegen Böse zu machen, fehlte es an mit ausreichend
       Sendungsbewusstsein ausgestattetem Personal.
       
       ## Was, wenn das nicht hilft?
       
       Man kenne sich und treffe sich zu oft, um sich zu zerlegen, heißt es. Der
       Bremer Pragmatismus ist eine Haltung, in der auch die ideologischen
       Dum-Dum-Geschosse, die die Linkspartei derzeit zerfetzen, in Watte landen.
       
       Im Bund liegt die Linke bei Umfragen zwischen 4 und 5 Prozent. In Bremen
       bei 9 Prozent. 2019 bekamen die Bremer Linken 11,3 Prozent. Das waren
       damals 4 Prozent mehr als der Bundestrend – und mehr wird schwierig.
       Kristina Vogt zitiert gern eine Umfrage, der zufolge 40 Prozent der
       WählerInnen sich nicht für Landespolitik interessieren. In der Straße, in
       er sie wohnt, wüssten manche nicht, wer Andreas Bovenschulte sei. Da ist es
       schwer, mit dem Sozialticket für WohngeldempfängerInnen zu glänzen.
       
       Die Bremer Linkspartei hat viel richtig gemacht. Sie ist pragmatisch, aber
       nicht, wie früher manche PDS-MinisterInnen, vor allem auf Anerkennung durch
       die Etablierten erpicht. Sondern auf Unterscheidbarkeit. Es nutze nichts,
       so Landeschef Spehr, nur immer 1 Euro Mindestlohn mehr als die SPD zu
       fordern. Man müsse, so wie bei der Corona-Impfkampagne, „eine
       missionsorientierte Politik“ machen. Wendiger, veränderungswilliger als die
       SPD. Die Bremer Linke zeigt, dass kleinteilige Reformen mehr wert sind als
       großspurige Rechthaberei. Gregor Gysi sagt, dass man hier sehe, was die
       Linkspartei „ohne ideologisches Geschwätz“ erreichen kann.
       
       Aber was, wenn all das am Wahlsonntag nicht hilft? Wenn auch Gebrauchswert
       zu haben und ruinöse Identitätsdebatten zu umschiffen, nichts nutzt? Dann
       würde sich eine ganz bittere Frage stellen: Wer braucht die Linkspartei
       noch? Gerade weil Bremen immer ein Labor war.
       
       13 May 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Korte-zum-Niedergang-der-Linkspartei/!5929567
   DIR [2] /Politologe-ueber-Bremer-Wahlkampf/!5927307
   DIR [3] /Linken-Kongress-in-Hannover/!5932561
   DIR [4] /NRW-Linke-gegen-den-Spaltpilz/!5928501
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Reinecke
   DIR Benno Schirrmeister
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Bürgerschaftswahl Bremen 2023
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       Prozent. Eine Koalition mit Grünen und Linken scheint erneut möglich.
       
   DIR +++ Nachrichten zur Bremen-Wahl +++: Maike Schaefer tritt zurück
       
       Nach der Wahlschlappe will die Spitzenkandidatin der Bremer Grünen keinen
       Posten im nächsten Senat übernehmen. Die SPD wird klar stärkste Kraft.
       
   DIR Vor der Wahl in Bremen: Niemals ist das Land rechts
       
       Noch nie hat in Bremen eine AfD-Fraktion eine Legislatur überdauert. Auch
       wenn sich das nicht ändert, gibt es nicht unbedingt Grund zum Jubilieren.
       
   DIR Linken-Kongress in Hannover: Spaltung steht weiter im Raum
       
       Rund 240 Mitglieder der Linken versammelten sich am Samstag in Hannover.
       Sie machten ihrer Wut auf die aktuelle Parteiführung Luft.
       
   DIR Korte zum Niedergang der Linkspartei: „Es geht jetzt um alles oder nichts“
       
       Jan Korte zieht sich als Parlamentarischer Geschäftsführer zurück. Er warnt
       vor dem Zerfall der Linkspartei – und geht in Sachen Wagenknecht eine Wette
       ein.