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       # taz.de -- Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel: Dünn, aber gehaltvoll
       
       > Nach neun Monate Pause ist der „Lichtblick“ wieder erschienen.
       > Deutschlands einzige unzensierte Gefangenenzeitschrift hat eine neue
       > Redaktion.
       
   IMG Bild: Die Teilanstalt II in der JVA Tegel. Die Redaktionsräume des Lichtblick befinden sich im A-Flügel
       
       Berlin taz | Die Redaktionsräume der Gefangenenzeitschrift Lichtblick
       präsentieren sich in strahlendem Glanz. Das liegt nicht nur an der Sonne,
       die durch die vergitterten Fenster scheint. Alles ist sauber und
       aufgeräumt, die IT-Ausstattung, mit der Deutschlands einzige unabhängige
       Gefangenenzeitschrift in der Justizvollzugsanstalt Tegel produziert wird,
       ist nagelneu.
       
       [1][Vor einem knappen Monat hat die neue Redaktion ihre Arbeit
       aufgenommen], ein richtiger Alltag ist aber noch nicht eingekehrt.
       Immerhin: Die erste Lichtblick-Ausgabe seit dem Bruch ist jetzt da. Am
       vergangenen Mittwoch wurden rund 7.500 Exemplare in Tegel angeliefert.
       „Stunde Null. Das Warten hat ein Ende“, steht auf dem weißen Cover des
       schlanken, nur 30 Seiten umfassenden Heftes.
       
       Inhaltlich und optisch dokumentiert es einen Neuanfang. An die Abonnenten
       ausgeliefert werden konnte die Zeitung bislang allerdings noch nicht. Es
       gibt Probleme mit der Etikettierung, auch andere wichtige Daten seien seit
       der Beschlagnahmung der alten Rechner durch Kripo und Staatsanwaltschaft
       verloren gegangen, heißt es.
       
       Seit 55 Jahren wird der Lichtblick in Tegel von Gefangenen gemacht. Er
       erscheint viermal im Jahr bundesweit; nicht nur Inhaftierte lesen das
       Blatt. In der deutschen Gefängnislandschaft ist die unzensierte Zeitung ein
       Unikat. Weil einer der früheren Redakteure die Technik des Lichtblick zur
       Begehung von betrügerischen Geschäfte missbraucht haben soll, war die
       Redaktion am 31. August 2022 aufgelöst worden.
       
       ## taz-Panter Stiftung hilft
       
       Im Oktober 2022 hatte die [2][taz Panter Stiftung] ein Hilferuf des
       unabhängigen Berliner Vollzugsbeirats erreicht, beim Aufbau einer neuen
       Redaktion zu helfen. Die Tegeler Anstaltsleitung – auch ihr ist am
       Fortbestand der Zeitung gelegen – griff das Angebot der taz Panter Stiftung
       dankbar auf. Bis Ende März zeigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der taz
       einer Gruppe von interessierten Gefangenen, wie man eine Zeitung macht.
       
       Von sieben Teilnehmern, die bis zum Schluss des Workshops dabei waren,
       wurden nun vier zu Redakteuren ernannt. Von Anfang an war klar, dass die
       Anstaltsleitung bei der Entscheidung das letzte Wort haben würde. Zu den
       drei Gefangenen, die abgelehnt worden waren, gehören zwei Insassen, die in
       Sicherheitsverwahrung untergebracht sind.
       
       Am Freitag fand in der JVA Tegel ein Abschiedstreffen zwischen
       Workshopteilnehmern und taz-Redakeuren statt. Die abgelehnten
       Sicherungsverwahrten kommentierten die Entscheidung der Anstaltsleitung
       dabei mit Enttäuschung und Unverständnis. Was die Beweggründe der
       Anstaltsleitung waren, wissen indes nur die Gefangenen selbst. Es fällt
       unter den Schutz der Privatsphäre und wurde von der Anstalt nicht
       öffentlich bekannt gemacht.
       
       Die vier Neuen des Lichtblick heißen Peter M., Steffen K., Adrian U. und
       Michael H. Bei dem Treffen am Freitag zeigten sie sich gut gelaunt.
       Zwischen 33 und 62 Jahre alt ist das Team, das von sich sagt, man sei schon
       gut zusammengewachsen.
       
       Auf dem Tisch in der [3][Teilanstalt II], wo das Treffen stattfindet, liegt
       die im Workshop entstandene Pilotausgabe. In Ermangelung der noch von der
       Staatsanwaltschaft seinerzeit noch nicht wieder herausgegebenen Technik war
       das Heft in der taz layoutet worden. Anders als frühere Ausgaben, die zum
       Teil schreiend bunt und mit ellenlangen Textriemen bestückt waren, ist das
       neue Heft großzügig gestaltet. Die Überschriften sind in einem warmen
       Grünton gehalten, Fotos wird viel Platz eingeräumt. Auch mit den Texten,
       informativ und gut recherchiert, werden neue Maßstäbe gesetzt.
       
       ## Kein Pin-Up-Girl
       
       Heikle Themen sind nicht ausgespart und lassen für die Zukunft hoffen. Es
       finden sich Berichte über die ungerechte Entlohnung im Knast, [4][den auf
       TikTok veröffentlichten Protest von Tegeler Gefangenen] oder über
       Trans*identitäten in Haft. Im Mittelteil des Heftes ist der
       Jahreskalender 2023 eingeheftet – ein Muss in jeder Ausgabe zu
       Jahresanfang. Anders als manchmal gibt es diesmal aber kein Pin-Up-Girl,
       das herausgenommen und an Zellenwände gehängt werden kann.
       
       Lichtblick-Redakteure genießen innerhalb der JVA Tegel einen großen
       Freiraum, mit einem sogenannten Läuferausweis können sie sich weitestgehend
       frei bewegen. Was für Reaktionen ihnen da über die Pilotausgabe zu Ohren
       gekommen sind? Als Erstes sei das Heft in der Mitte aufgeblättert worden,
       hat Redakteur Peter M. bei Mitgefangenen beobachtet. „Dann kam der
       enttäuschte Ruf: Wo sind denn die Titten?“
       
       Eine Beamtin habe nicht verstanden, dass die Geschichte über einen
       Therapiehund eine Glosse sei. Die Nachrufe über verstorbene Mitgefangene
       sei nicht so gut in der Sicherungsverwahrung angekommen, erzählen die
       beiden abgelehnten Gefangenen. Er habe viel Lob über das Heft vernommen,
       sagt Redakteur Steffen K. „Dünn, aber gehaltvoll“.
       
       Und nun? An Ideen für die nächste Ausgabe mangele es nicht, erzählen die
       Redakteure. Tonnenweise Post sei gekommen, insbesondere aus anderen
       Haftanstalten der Bundesrepublik. Der Lichtblick sei Adressat für alle
       Katastrophen und Probleme in den Gefängnissen.
       
       Die hohe Kunst sei zu sortieren, auch im direkten Gespräch, sagt Peter M.
       Nicht alles, was behauptet werde, habe Gehalt. „Nicht jeder Leserbrief wird
       gleich zum Leitartikel“. Noch nie hätten sie in Briefen von so vielen Nazi-
       und Diktatorenvergleichen, bezogen auf Justizbedienstete, gelesen.
       
       Die Redaktion befindet sich in zwei Zellen, die durch einen Durchbruch
       verbunden sind. Anders als früher sitzt man sich jetzt an den
       Schreibtischen gegenüber. „Wir wollen transparent sein und nicht mit dem
       Rücken zueinander sitzen“, sagt Michael H. Auch auf Besucher der Redaktion
       wirke das offener.
       
       16 May 2023
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Plutonia Plarre
       
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