URI: 
       # taz.de -- Klimawandel in der Literatur: Apokalypse ciao
       
       > Die Klimakrise kommt längst in Kunst und Kultur vor. Ein Blick auf die
       > Klima-Fiktion zeigt: Der Trend geht weg vom Weltuntergang, hin zur
       > Ermutigung.
       
   IMG Bild: Aktivist:innen im Mittelpunkt: Szene aus How to Blow Up a Pipeline nach dem gleichnamigen Buch von Andreas Malm
       
       Je länger wir uns mit dem [1][Klimawandel] beschäftigen, desto stärker
       erkennen wir: Es gibt keinen Quadratmeter auf dem gesamten Planeten, der
       davon unberührt bleibt. Das bedeutet auch, dass der Klimawandel kein
       abstrakter Begriff mehr ist. Er findet nicht mehr nur in der Sprache der
       Zahlen und in der akademischen Sphäre statt, verbannt auf die Seiten von
       Fachzeitschriften und in wissenschaftliche Konferenzen. Stattdessen hat er
       eine neue Sprache angenommen. Eine Sprache, die unsere Gefühle und Gedanken
       direkter ansprechen will, eine Sprache der Angst, der Dringlichkeit und der
       Verzweiflung.
       
       Kunst und Kultur bieten eine Möglichkeit, uns mit dieser Verschiebung auf
       einer subjektiven und existenziellen Ebene auseinanderzusetzen.
       [2][Fiktionale Verarbeitungen] können dabei helfen, die Auswirkungen der
       globalen Erwärmung nicht nur als eine Sammlung wissenschaftlicher Daten und
       Fakten zu verstehen, sondern als eine gelebte Erfahrung, die jeden Aspekt
       unseres Lebens berührt.
       
       Was wir früher mit Hilfe von Messungen, Klimamodellen oder
       wissenschaftlichem Konsens zu begreifen versuchten, verstehen wir jetzt
       durch die unmittelbare Wahrnehmung unserer Umgebung. Um uns herum erleben
       wir austrocknende Böden und knapper werdendes Wasser, wir fühlen die
       sengende Hitze in den Städten und schauen den Wäldern dabei zu, [3][wie sie
       brennen]. Das Wetter ist nicht mehr vorhersehbar, und die [4][Jahreszeiten
       ändern sich in einer Weise], die wir uns nie vorstellen konnten.
       
       ## Schneller als gedacht ist die Zukunft Gegenwart
       
       Diese Verschiebung der Wahrnehmung macht einen großen Unterschied. Sie
       sorgt für eine Überwindung der psychologischen Distanz, die einst dafür
       sorgte, dass wir uns sicher fühlen, weil die Bedrohung erst in einer fern
       scheinenden Zukunft lag. Diese Zukunft ist schneller gekommen als erwartet.
       Jetzt sind wir gezwungen, uns den Realitäten des Klimawandels zu stellen
       und uns mit dem emotionalen und psychologischen Tribut auseinanderzusetzen,
       den er für uns als Individuen und als Gesellschaft fordert.
       
       Climate Fiction verhandelt diesen Tribut. Dieses Literaturgenre, das kurz
       als Cli-Fi bezeichnet wird, schildert eine Welt, die durch die
       katastrophalen Auswirkungen der Klimakrise geprägt ist. Sie bietet den
       Leser:innen einen Einblick in eine mögliche Zukunft, die auf die
       Entscheidungen folgt, die wir in der Gegenwart treffen.
       
       ## Die Wurzeln der Climate Fiction reichen weit zurück
       
       Obwohl Cli-Fi erst vor Kurzem als eigenständige literarische Form
       entstanden ist, lassen sich die Wurzeln dieses Genres bis zu frühen Werken
       der Science Fiction und Fantasy zurückverfolgen. Bereits 1962
       veröffentlichte der englische Science-Fiction-Autor J.G. Ballard sein
       berühmt gewordenes Buch Die ertrunkene Welt. Dort schildert er eine
       unbewohnbare, von Wasser überflutete Erde, eine Folge globaler Erwärmung,
       verursacht durch erhöhte Sonneneinstrahlung. Frank Herberts Dune von 1965
       ist ein weiteres Beispiel für einen [5][Science-Fiction-Klassiker], in dem
       Klima und Ökologie eine wichtige Rolle spielen.
       
       Das vielleicht visionärste und am meisten unterschätzte Werk der Climate
       Fiction ist Das neue Atlantis von [6][Ursula K. Le Guin]. Die 1975
       veröffentlichte Kurzgeschichte beschreibt eine dystopische Zukunft, in der
       private Unternehmen die USA beherrschen und der Meeresspiegel aufgrund
       eines menschengemachten Klimawandels katastrophal ansteigt. Das Werk ist
       weitgehend in Vergessenheit geraten, aber es erzählt eine auffallend
       vorausschauende Geschichte, die viele der Ängste und Befürchtungen
       vorwegnimmt, die jetzt unsere Gegenwart bestimmen.
       
       Während des Kalten Kriegs beherrschte die Angst vor nuklearer Vernichtung
       das kollektive Bewusstsein und überschattete die allmähliche Bedrohung
       durch den Klimawandel. Das änderte sich mit dem Zusammenbruch der
       Sowjetunion in den frühen 1990er Jahren. Eines der wichtigsten Cli-Fi-Werke
       aus dieser Zeit ist [7][Octavia E. Butlers] Das Gleichnis vom Sämann aus
       dem Jahr 1993. Es schildert eine nahe Zukunft, die stark vom Klimawandel
       und sozialer Instabilität bestimmt wird. Butler wurde mit diesem Buch
       bekannt und ebnete den Weg für andere Schwarze Science-Fiction-Autorinnen.
       
       Eine davon ist N.K. Jemisin. Ihre mehrfach ausgezeichnete Romanserie Die
       große Stille handelt von einem Planeten, dessen Bewohner:innen mit
       wiederkehrenden und verheerenden Klimaveränderungen konfrontiert sind. Auch
       wenn das Klima nicht im Mittelpunkt ihrer Geschichten steht, spielt es in
       ihrem fiktiven Universum eine wichtige Rolle. Jemisins Romane
       verdeutlichen, wie eng Umwelt und Gesellschaft miteinander verflochten sind
       und wie sich der Klimawandel auf alle Aspekte des Lebens auswirkt. Ihr Werk
       zeigt, dass der Klimawandel auf eine nuancierte und komplexe Weise in die
       Literatur integriert werden kann.
       
       Auch in der Unterhaltungsindustrie spiegeln sich veränderte Verhältnisse
       wider. Ein Beispiel dafür ist die dystopische Mad-Max-Filmreihe, deren
       erste Folge 1979 in die Kinos kam. Während früher Ölknappheit und nukleare
       Zerstörung den Hintergrund für die Handlung bildete, ging es in dem
       letzten, 2015 erschienenen Film um eine Welt, die von einer nicht näher
       spezifizierten Umweltkatastrophe zerstört worden ist.
       
       ## Realistische Dystopien ohne schrille Töne
       
       Einen anderen Ansatz wählen einige zeitgenössische skandinavische
       Autor:innen, die als Vertreter:innen einer „realistischen Dystopie“
       betrachten können. Diese schildert eine düstere Zukunft, die durch die
       Klimakatastrophe gekennzeichnet ist, jedoch ohne schrille apokalyptische
       Töne.
       
       Der 2015 erschienene Bestseller der [8][norwegischen Autorin Maja Lunde,]
       Die Geschichte der Bienen, ist dafür ein Beispiel. Der Roman spielt im
       England des 19. Jahrhunderts, in den heutigen Vereinigten Staaten und in
       China am Ende des 21. Jahrhunderts und verfolgt die Spur des allmählichen
       Aussterbens der Bienen und die weitreichenden Folgen für die menschliche
       Gesellschaft.
       
       Eine weitere Vertreterin des dystopischen Realismus ist die finnische
       Schriftstellerin Emmi Itäranta. Ihr 2014 erschienener Debütroman Das
       Gedächtnis des Wassers handelt von den Kämpfen um die immer knapper
       werdende Ressource Wasser und beschreibt das autoritäre Regime, das dadurch
       entsteht.
       
       Der Wert der Romane von Lunde und Itäranta liegt darin, dass sie
       gleichzeitig überraschend und plausibel sind. Ähnlich kann man Cormac
       McCarthys berühmten Roman Die Straße verstehen, der 2006 erschien und auch
       erfolgreich verfilmt wurde. Kein Werk der Klima-Literatur ist roher und
       brutaler. McCarthys realistische Dystopie einer postapokalyptischen Welt
       nach einer globalen Umweltkatastrophe ist voll von rücksichtsloser
       Grausamkeit und düsterem Nihilismus, in dem nur ganz kleine
       Hoffnungsschimmer aufleuchten.
       
       ## Es geht immer stärker um Aktivismus statt um die Apokalypse
       
       Mit der Verschärfung der globalen Klimakrise in den letzten zehn Jahren hat
       sich auch das Genre der Klimafilme weiterentwickelt. Die apokalyptischen
       Themen, die einst das Feld beherrschten, sind verschwunden; stattdessen
       sind realistischere und engagiertere Filme entstanden. Im Genre der
       Öko-Aktivismus-Thriller etwa stehen Gruppen und Einzelpersonen im
       Mittelpunkt, die einen gesellschaftlichen Wandel herbeiführen und so den
       Klimakollaps verhindern wollen.
       
       Ein Beispiel dafür ist der Film First Reformed aus dem Jahr 2017.
       Protagonist ist ein Pastor der niederländisch-reformierten Kirche, der in
       eine Glaubenskrise gerät, als es ihm nicht gelingt, einen radikalen
       Umweltschützer namens Michael am Selbstmord zu hindern. Je mehr er sich mit
       den Gründen für Michaels Handeln befasst, desto mehr radikalisiert sich der
       Pastor. Schließlich zieht er eine Sprengstoffweste an, um lokale Eliten mit
       Verbindungen zur fossilen Brennstoffindustrie in die Luft zu jagen.
       
       Um Radikalisierung geht es auch in dem Öko-Aktivismus-Thriller How to Blow
       Up a Pipeline. Er basiert auf dem gleichnamigen Sachbuch des schwedischen
       Intellektuellen Andreas Malm. [9][Malm argumentiert], dass der Ernst des
       Klimawandels und das Scheitern des gewaltfreien Aktivismus einen aktiveren
       Ansatz erfordert, nämlich, Infrastruktur für fossile Brennstoffe zu
       sabotieren. Der Film begleitet eine kleine Gruppe von Aktivist:innen
       bei ihrem Versuch, eine Pipeline mit einer selbst gebastelten Bombe zu
       sprengen.
       
       Der Roman Die Wurzeln des Lebens des amerikanischen Autors Richard Powers,
       der 2019 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, stellt ebenfalls
       Menschen in den Mittelpunkt, die zu Aktivist:innen werden. Dabei wählt
       er aber einen anderen Ansatz: Das Buch ist eine [10][Hymne auf die erhabene
       Schönheit der Natur] – und gleichzeitig ein Klagelied über das Versagen der
       Menschheit.
       
       ## Utopien, die vor Verzweiflung schützen können
       
       Betrachtet man die Geschichte der fiktionalen Verarbeitung des
       Klimawandels, so lässt sich eine klare Entwicklung von den
       postapokalyptischen Themen der 1960er Jahre hin zu einem realistischeren
       und engagierteren Ansatz in den letzten Jahren erkennen. Die Zukunft des
       Genres könnte darin liegen, realistische Utopien zu erzählen, wie die Werke
       des Autors Kim Stanley Robinson zeigen.
       
       Robinson ist seit vielen Jahren [11][einer der wichtigsten Namen] in der
       Klima-Literatur. Sein 2020 erschienener Roman Das Ministerium für die
       Zukunft zeichnet eine Welt, in der die Menschheit die Ziele des Pariser
       Abkommens zwar verfehlt, aber dennoch ihr Bestes tut, um den Klimakollaps
       durch verstärkte Zusammenarbeit und politisches Handeln zu bewältigen.
       
       Damit ist der Roman exemplarisch für diesen neuen Ansatz der realistischen
       Utopien. Statt in apokalyptischen Landschaften zu schwelgen, erforscht
       Robinson das menschliche Potenzial für politisches Handeln und sucht nach
       postkapitalistischen Alternativen, die es ermöglichen, Klima- und
       Umweltkrisen demokratisch und kooperativ zu lösen.
       
       Robinsons Werk ermutigt uns, uns eine bessere Zukunft vorzustellen und
       aktiv darauf hinzuarbeiten, anstatt uns der Verzweiflung über eine
       unvermeidliche Apokalypse hinzugeben. Auf diese Weise ebnet der Roman den
       Weg für zukünftige Werke, für die Geschichten, die wir erzählen und denen
       wir zuhören müssen.
       
       Martin Vrba ist Klimaredakteur bei der tschechischen Nachrichtenplattform
       Alarm und schreibt im Rahmen des Journalistenaustauschprogramms IJP für die
       taz. Die Recherche zu diesem Text wurde durch ein Mentoringprogramm von
       Free Press Unlimited und E3J begleitet.
       
       22 May 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Schwerpunkt-Klimawandel/!t5008262
   DIR [2] /Literatur-Festival-zum-Klimawandel/!5815658
   DIR [3] /Feuer-im-Nadelwald/!5880731
   DIR [4] /Klimaforscherin-ueber-den-Hitzesommer/!5530544
   DIR [5] /Science-Fiction-Neuverfilmung-Dune/!5799619
   DIR [6] /Autorin-Ursula-Le-Guin/!5751085
   DIR [7] /Neuerscheinung-von-Octavia-Butlers-Wilde-Saat/!5814236
   DIR [8] /Maja-Lunde-ueber-ihren-neuen-Roman/!5632136
   DIR [9] /Klimagipfel-in-Glasgow/!5810730
   DIR [10] /Baeume-in-der-Literatur/!5769125
   DIR [11] /Autor-ueber-die-Klimakrise-in-Romanen/!5815427
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Martin Vrba
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Pop-Kultur
   DIR Zukunft
   DIR wochentaz
   DIR Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Klima
   DIR Apokalypse
   DIR Debütroman
   DIR Radioaktivität
   DIR Rezension
   DIR Braunschweig
   DIR Zukunft
   DIR Ausstellung
   DIR Russland
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR „Dunkle Ökologie“: Wilde Ecken schaffen
       
       In einem wütenden Essay schreibt Paul Kingsnorth gegen
       Wissenschaftler:innen und andere, die die Klimakatastrophe nicht ernst
       genug nehmen.
       
   DIR Klimakrise in der Literatur: Können Bücher uns retten?
       
       Am Mittwoch beginnt die Frankfurter Buchmesse. Immer mehr Autor*innen
       schreiben über das Leben auf einem erhitzten Planeten.
       
   DIR Carla Kaspari: „Missstände anzuprangern, finde ich langweilig“
       
       Carla Kaspari erschafft in ihrem Roman ein Europa der Zukunft. Warum es
       dort nicht nur dystopisch zugeht und was Aktivismus von Hoffnung
       unterscheidet.
       
   DIR „Carol & the End of the World“: Kurz vor knapp
       
       Ein Netflix-Cartoon zeigt unterschiedliche Wege, mit dem Ende der Welt
       umzugehen. Und das lohnt sich verdammt nochmal sehr.
       
   DIR Debütroman „Lawinengespür“ über Gen Z: Verlorene Geschwisterseelen
       
       Paula Schweers' Romandebüt beschreibt das Lebensgefühl einer Generation,
       die in lauter Krisen aufwächst. „Lawinengespür“ widmet sich den Ratlosen.
       
   DIR Ausstellung „Lose Enden“ in Hamburg: Bedeutsame Textilien
       
       Flechtmatten von den Marshall-Inseln erzählen viel über Kolonialisierung,
       Atomwaffentests und Klimawandel. Das zeigt eine Ausstellung im MARKK.
       
   DIR Spielfilm über Ökoaktivismus: Bomben gegen die Klimakrise
       
       In „How to Blow Up a Pipeline“ lässt Regisseur Daniel Goldhaber Aktivisten
       diskutieren und gegen die Mineralölkonzerne zur Tat schreiten.
       
   DIR Entwürfe für Braunschweigs Lichtparcours: Dürfen wir das?
       
       Im Sommer wird Braunschweig wieder zu einem Schauplatz für aufwendige
       Lichtkunst. Erstmals geht es inhaltlich auch um Nachhaltigkeit und
       Umweltschutz.
       
   DIR Umgang mit dem Klimawandel: Plötzlich Sehnsucht nach der Zukunft
       
       Durch die Klimakrise erschien unserer 26-jährigen Autorin die Zukunft wie
       ein schwarzes Loch. Dann entdeckte sie die Solarpunk-Bewegung.
       
   DIR Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft: Wolle, Rinde und Pilze
       
       Die Ausstellung „Zur Nachahmung empfohlen“ in Berlin stellt Projekte vor,
       die nach Lösungen für die Zukunft suchen, etwa in der Bauindustrie.
       
   DIR Climate Cultures Festival: Wenn Müll die Identität bestimmt
       
       Das Climate Cultures Festival „gegen!blicke“ in Berlin versammelte Stimmen
       aus Ländern, die von der Klimakrise hart getroffen sind.
       
   DIR Literatur-Festival zum Klimawandel: Einst ewiges Eis
       
       Das Climate Cultures Festival „Planet schreibt zurück!“ in der Berliner
       Volksbühne rückt künstlerische Perspektiven auf den Klimawandel in den
       Fokus.
       
   DIR Autor über die Klimakrise in Romanen: „Es wird Leid geben und Gewalt“
       
       Literatur, die realistisch bleiben will, muss den Klimawandel behandeln.
       Ein Gespräch mit dem Science-Fiction-Autor Kim Stanley Robinson.