# taz.de -- Gewalt gegen Klimaaktivist:innen: Sie nennen es Notwehr
> Bei Straßenblockaden kommt es oft zu Gewalt. Wie kommt es, dass sich so
> viele Menschen von den Aktionen der Letzten Generation angegriffen
> fühlen?
IMG Bild: Irma Trommer blockiert zusammen mit anderen Aktivist:innen eine Straße in Berlin
Berlin taz | Als der Mann mit der Faust ausholt, macht sich Irma Trommer
schon auf den Schmerz gefasst. Sie kneift ihre Augen zusammen und wartet
auf den Aufprall. Aber dann schlägt die Faust nicht zu. Kurz vor ihrem
Gesicht bleibt sie stehen und formt eine Pistole. So bleibt ihr Besitzer
dann stehen und posiert für Fotos.
Trommer ist vor knapp eineinhalb Jahren zur Letzten Generation gestoßen.
Davor hatte sie sich vereinzelt politisch engagiert. Auf Usedom, wo sie
lebte, waren die Angebote aber nicht gerade üppig gesät. Mit einem Umzug
nach Berlin änderte sich das schlagartig. Durch Freunde wurde sie auf die
Letzte Generation aufmerksam und machte mit – zunächst mit der Kamera als
Fotografin, später nahm sie selbst den Sekundenkleber in die Hand und
brachte damit Autos zum Stehen.
Mittlerweile ist es für Trommer Teil ihres Aktivismus, dass sie dabei
Gewalt erlebt. Menschen schleifen sie über die Straße, zerren an ihrer
festgeklebten Hand, schieben sie mit der Motorhaube vor sich her. Wenn die
Wand an Autos und Lastwagen vor ihr anfängt zu hupen, fühlt sie sich taub
in dem ganzen Lärm.
Natürlich regen sich Autofahrer:innen auf, wenn sie an der Weiterfahrt
gehindert werden. Gerade bei regelmäßigen Staus, [1][wie sie während des
groß angekündigten zweiwöchigen „Stadtstillstands“ der Letzten Generation
in Berlin vorkamen], ist die Wut auf die Blockierenden groß. Nicht ohne
Grund sehen Gerichte in vielen Fällen den Straftatbestand der Nötigung
durch die Aktivist:innen erfüllt.
Dennoch sind die Reaktionen auf die meist schnell beseitigten Blockaden
teilweise überraschend heftig: Im Internet posten Leute öffentlich
Mordfantasien. Eine Provinzband aus dem wenig klebestau-gefährdeten
fränkischen Landkreis Haßberge hat ein Musikvideo veröffentlicht, in dem
der Sänger vom Traktor aus Gülle auf einen Aktivisten spritzt. Auf der
Berliner Stadtautobahn schleifte ein Autofahrer zwei Aktivistinnen [2][an
den Haaren] über die Fahrbahn. Manche fahren gar mit dem Auto über die
festgeklebten Hände oder Füße der Blockierenden. Allein in den zwei Wochen
„Stadtstillstand“ leitete die Polizei 33 Verfahren gegen Personen ein, die
Straftaten gegen Aktivist:innen begingen. Die Zahl der eigentlichen
Fälle dürfte aber noch deutlich höher liegen. Die Blockierenden erstatten
nämlich meist keine Anzeige.
## Die Gewalt ist ein neues Phänomen
Ob den Protestierenden schon immer so viel Gewalt begegnet sei? Nein, sagt
Irma Trommer. Sie erinnert sich, wie sie mit anderen der Gruppe im letzten
Sommer ein Video angeschaut habe, in dem eine Person von einem Auto durch
die Menge geschoben wird. „Dass ein Auto einfach nicht anhält, wenn da ein
Menschenleben vor ihm steht, das war irgendwie unvorstellbar“, erzählt sie.
„Aber seitdem passiert das regelmäßig.“
Dass die Gewalt gegenüber der Letzten Generation zunimmt, beobachtet auch
der Soziologe Simon Teune vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung.
„Wenn jemand sich darüber aufregt, dass er oder sie wegen einer Blockade
nicht rechtzeitig zu einem Termin kommt, dann ist das in diesem Fall kein
individuelles Phänomen, sondern das findet in einem Rahmen statt, in dem
diese Proteste kollektiv bewertet werden und auch der Umgang damit
kollektiv festgelegt wird“, so der Wissenschaftler. Der Diskurs
normalisiere Hass und Gewalt. Somit werde eine moralische Grundlage für
Übergriffe gegen Aktivist:innen geschaffen und Gewalt als Antwort auf
politische Konflikte enttabuisiert, folgert Bewegungsforscher Teune. Der
Onlinekommentar à la „Fahr einfach drüber!“, die mediale Debatte darüber,
ob Gewalt gegenüber Aktivist:innen nicht eigentlich Notwehr gegen deren
Nötigung sei, und die Beschwörung einer vermeintlichen „Klima-RAF“ – all
das beeinflusst, wie sich Menschen verhalten, wenn sie dann tatsächlich mal
auf die Klimakleber treffen.
## Die Gleichgültigkeit des Alltags aufbrechen
Eine weitere Absurdität der Debatte rund um die Letzte Generation: Die
Allgegenwärtigkeit. An manchen Tagen kann es einem so vorkommen, als stünde
die ganze Republik Montagmorgens auf der Berliner Stadtautobahn und warte
auf Öl und Mullbinden. Kürzlich fühlte sich gar eine Provinz-Band aus dem
fränkischen Landkreis mit dem bezeichnenden Namen “Haßberge“ berufen, ihrer
Abneigung gegen die Aktivist:innen ein Denkmal zu setzen: Mit einem
Musikvideo, in dem der Sänger vom Traktor aus Gülle auf einen Aktivisten
spritzt. Dabei scheint es doch eher unwahrscheinlich, dass die
Bandmitglieder tatsächlich mal beim Besuch in der Frankenmetropole Nürnberg
in einem der dort seltenen Klebe-Staus stecken bleiben.
Wie kommt es, dass sich so viele Menschen von den Aktionen der Letzten
Generation angegriffen fühlen? Simon Teune hat eine Antwort: „Es gibt einen
grundsätzlichen Konflikt in der Gesellschaft.“ Einerseits wisse man sehr
gut Bescheid über die Klimakrise und deren Folgen und auch darüber, wie wir
mit unserem Alltag dazu beitragen. Andererseits gehe der nach wie vor so
weiter, als wäre nichts gewesen.
Mit ihren Blockaden stelle sich die Letzte Generation dieser
Gleichgültigkeit entgegen und mache den Konflikt sichtbar. „Die Letzte
Generation zeigt, dass es den Leuten wichtiger ist, mit dem Auto pünktlich
zur Arbeit zu kommen, als sich damit auseinanderzusetzen, dass die Welt, in
der sie arbeiten, bald grundsätzlich anders sein wird“, erklärt Teune.
Auch wenn sich die Letzte Generation stets bemüht zu kommunizieren, dass
sie mit ihren Aktionen eigentlich die Bundesregierung adressiert und nicht
die einzelnen vom Stau Betroffenen: Der Öffentlichkeit wird so auch die
eigene Mitschuld an der Klimakrise vor Augen geführt. Auto fahren, Flugzeug
fliegen, Gas verheizen, Mode und Elektronik shoppen – das tun eben fast
alle.
Irma Trommer wird weiter Straßen fürs Klima blockieren, sagt sie. Trotz der
Gewalt, die sie fast mit Sicherheit wieder erleben wird. Immerhin: Die Wut,
die daraus spricht, ist das Ende der Gleichgültigkeit.
19 May 2023
## LINKS
DIR [1] /Letzte-Generation-in-Berlin/!5927344
DIR [2] https://twitter.com/AufstandLastGen/status/1650400706120101888?s=20
## AUTOREN
DIR Jannik Grimmbacher
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