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       # taz.de -- Filmfestspiele in Cannes 2023: Im Beet nebenan blüht der Phlox
       
       > Ein Holocaustfilm ohne Holocaust und gärende Konflikte in der türkischen
       > Provinz: „The Zone of Interest“ und „Kuru Otlar Üstüne“ sind beides
       > Highlights.
       
   IMG Bild: Schülerin Sevim aus Nuri Bilge Ceylans Cannes-Beitrag „Kuru Otlar Üstüne“
       
       Menschen an einem Badesee, die Frauen in Kleidern, die Männer mit scharf
       wegrasierten Schläfen. Später geht es nach Hause, man wohnt in einem
       großzügigen Haus mit Garten. Dort erwartet den Hausherrn am nächsten Morgen
       als Geburtstagsüberraschung ein Ruderboot.
       
       In Jonathan Glazers Spielfilm „The Zone of Interest“, der bei den
       Filmfestspielen von Cannes im Wettbewerb läuft, bleibt anfangs sehr in der
       Schwebe, wo und wann er spielt. Ein Perspektivwechsel der Kamera lässt
       abrupt eine Mauer am Ende des Hausgrundstücks erkennen, man ahnt, dass
       dahinter ein KZ beginnt.
       
       „Interessengebiet“ war im Nationalsozialismus die Bezeichnung für das
       Sperrgebiet des Lagerkomplexes Auschwitz. Den Ausdruck wählte der am
       Freitag verstorbene [1][britische Schriftsteller Martin Amis ebenfalls für
       seinen Roman von 2014, „The Zone of Interest“]. Glazers Film beruht auf
       Amis’ Vorlage, doch während die Protagonisten dort fiktionalisiert sind,
       heißen die Figuren im Film wie die realen Personen.
       
       So gibt es den Lagerkommandanten Rudolf Höß (Christian Friedel), seine Frau
       Hedwig (Sandra Hüller) oder den SS-Obergruppenführer Oswald Pohl. Das
       „Interessengebiet“ bleibt den ganzen Film über unsichtbar, zugleich
       bestimmt es das Geschehen permanent. Etwa wenn Hedwig Höß eine Lieferung
       mit Kleidung erhält und sie unter ihrem Hauspersonal verteilt.
       
       Die Familie geht ansonsten ihrem Alltag nach, die Kinder spielen im
       großzügigen Garten, Rosen und Phlox blühen in den Beeten, Hedwig Höß
       sinniert beim Besuch ihrer Mutter darüber, dass sie Ranken an der
       Lagermauer pflanzen möchte, „damit das etwas zuwächst“.
       
       ## Gute Aussicht auf einen Hauptpreis
       
       „The Zone of Interest“, Glazers erste neue Kinoarbeit seit seinem
       [2][Science-Fiction-Film „Under the Skin“ von 2013], ist ein auf kalte
       Weise böser Film. Das Grauen, von dem er erzählt, drängt im vermeintlich
       normalen Leben der Familie Höß nie ganz an die Oberfläche. Es wirkt dadurch
       bloß noch erschreckender. In distanzierten Einstellungen gefilmt, kommt man
       seinen Figuren nie zu nah. Man will es auch nicht.
       
       Mit der sperrig-spukhaften [3][Musik von Mica Levi] gewinnt der Film zudem
       eine weitere Ebene, auf der die in den Dialogen allenfalls als logistische
       Fragen erwähnten Verbrechen des Holocaust ihre Realität einfordern. Ein
       erster Höhepunkt mit guten Aussichten auf einen der Hauptpreise.
       
       Noch ein Höhepunkt des Festivals ist Nuri Bilge Ceylans knapp
       dreieinhalbstündiger „Kuru Otlar Üstüne“ (Übersetzt: Über getrocknete
       Gräser). Der türkische Regisseur ist regelmäßig im Wettbewerb von Cannes
       vertreten, für [4][„Winterschlaf“ gewann er 2014 die Goldene Palme],
       zuletzt war er [5][2018 mit „Der wilde Birnbaum“] zu Gast. In dem für ihn
       typischen langsamen Stil erzählt Ceylan von Samet (Deniz Celiloğlu), einem
       Lehrer in der türkischen Provinz, der dort eine Pflichtstation absolviert.
       Er sieht sich, ohne zu verstehen, warum, eines Tages mit Vorwürfen der
       Belästigung von Schülerinnen konfrontiert.
       
       Aus diesem Stoff macht Ceylan kein eskalierendes Drama, sondern spielt in
       langen Dialogen und mit noch mehr angedeutetem Unausgesprochenen durch, wie
       derlei Konflikte im Stillen erledigt werden und dennoch weiterschwelen.
       
       Auch die Bekanntschaft mit der Lehrerin Nuray (Merve Dizdar) und die sich
       anbahnende Konkurrenz zwischen Samet und seinem Kollegen Kevan (Musab
       Ekici), der sich gleichfalls an Nuray interessiert zeigt, entwickelt Ceylan
       in ruhigen Dialogen, die mitunter politische Fragen streifen, ohne allzu
       explizit zu geraten. In langen, grandiosen Einstellungen gefilmt, ist dies
       der bisher poetischste Beitrag im Wettbewerb. Und der eindringlichste.
       
       21 May 2023
       
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