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       # taz.de -- Syrische Geflüchtete im Libanon: Flucht nach vorne
       
       > Im Libanon herrscht eine humanitäre Krise. Trotz allem versucht die
       > Ärztin Bayan Louis, geflüchteten Frauen ein würdevolles Leben zu
       > ermöglichen.
       
   IMG Bild: „Frauenrechte sind Menschenrechte“, sagt die syrische Ärztin Bayan Louis
       
       Marj, Taanayel und Beirut taz | Der Staub legt sich beim ersten Schritt ins
       Camp auf die Lunge. Aber der Staub sei besser als Schnee, besser als
       Schlamm, sagen die Menschen, die hier leben. Es ist Ende April und endlich
       trocken im libanesischen Bekaa-Tal, wenige Kilometer von der syrischen
       Grenze entfernt.
       
       Beim Betreten des Geflüchtetencamps in Marj steht die Sonne auf dem
       höchsten Punkt, es ist Mittagszeit. Später im Jahr herrschen hier hohe
       Temperaturen, im Winter ist es nass und sehr kalt. Die Geflüchteten in der
       Region haben größere Probleme als das Wetter, doch blickt man auf die
       Planen und Bretterverschläge, ist klar: Diese Zeltbehausungen halten
       Überflutungen durch Regenstürme nicht stand und schützen nicht vor
       Minusgraden. Inmitten dieser Zeltlager zu leben, bedeutet, würdelos zu
       leben.
       
       Aus jedem Zelt gucken gleich mehrere Köpfe. Sie gehören zu den rund 1,5
       Millionen Syrer:innen, die aktuell im Land sind. Die Zahl der Menschen, die
       wegen des Bürgerkriegs seit 2012 in den benachbarten Mittelmeerstaat
       geflohen sind, beruht auf Schätzungen der libanesischen Regierung.
       
       Die letzte Volkszählung im Libanon fand 1932 statt und der Staat hindert
       die Vereinten Nationen seit 2015 daran, die Syrer:innen offiziell als
       Flüchtlinge zu registrieren. Nur rund 840.000 Geflüchtete aus Syrien sind
       beim Flüchtlingshilfswerk UNHCR offiziell registriert, rund 300.000 sollen
       hier in der Bekaa-Region leben. Die aktuelle Situation im Libanon, so sagen
       NGOs, sei eine vergessene Krise. Denn der Weltgemeinschaft ist nicht klar,
       dass sich hier eine humanitäre Katastrophe abspielt. In einem Staat, der
       immer [1][schärfer gegen Geflüchtete] vorgeht.
       
       Seit Sommer 2019 rutscht das kleine Land im Nahen Osten nach Jahrzehnten
       der Misswirtschaft und Korruption immer tiefer in die Krise. Die Preise für
       Lebensmittel, Heizmaterial, Medikamente und Dinge des täglichen Bedarfs
       sind immens gestiegen.
       
       Nach aktuellen Hochrechnungen der Weltbank steht der Libanon mit einer
       Inflationsrate von 352 Prozent bei Lebensmitteln an der Spitze der Länder
       mit den höchsten Preissteigerungsraten der Welt, die Rede ist von der
       „weltweit schwersten Wirtschaftskrise seit Mitte des 19. Jahrhunderts“. Das
       trifft die Ärmsten am härtesten: Laut UNO leben mittlerweile bis zu 80
       Prozent aller Libanes:innen sowie 95 Prozent aller syrischen
       Geflüchteten im [2][Libanon in Armut.]
       
       Noch im Eingangsbereich des Lagers wird es binnen Sekunden hektisch. Immer
       mehr Menschen kommen aus ihren Behausungen. Der Besuch der internationalen
       Presse im Rahmen der Kampagne #InDenFokus, die die Johanniter-Auslandshilfe
       zusammen mit rund 30 deutschen und internationalen Hilfsorganisationen ins
       Leben gerufen haben, ist sorgfältig geplant und seit Wochen beim Militär
       offiziell angemeldet.
       
       Alle wissen, dass die Reise Aufmerksamkeit auf die alarmierende Situation
       im Land schaffen soll. An diesem Dienstagmittag wirbelt sie hier aber
       plötzlich doch zu viel Staub auf. Der Verantwortliche des Lagers, der
       „Shawishe“, findet deutliche Worte auf Arabisch. Das Camp ist sofort zu
       verlassen, yallah.
       
       „Plötzlich teilte man uns mit, dass es eine neue Entscheidung der Regierung
       gibt, wonach alle internationalen Besucher:innen, die die Lager besuchen,
       eine Genehmigung des Verteidigungsministeriums benötigen. Das ist neu“,
       übersetzt Dr. Roy Abijoude von der Johanniter-Auslandshilfe. Der Druck auf
       die syrischen Flüchtlinge, in ihr Land zurückzukehren, werde in letzter
       Zeit immer größer, und die Regierung oder das zuständige Militär habe neue
       Gesetze oder Entscheidungen zu diesem Zweck getroffen, so Abijoude.
       
       Seit April kann Syrer:innen ihr Flüchtlingsstatus entzogen werden, falls
       sie das libanesische Staatsgebiet verlassen. Laut Hilfsorganisationen
       wurden seit Beginn des Jahres 1.500 Syrer festgenommen und mehr als 700
       davon nach Syrien abgeschoben.
       
       Die Akteur:innen der humanitären Hilfe sind sich einig: Im Libanon wird
       Flucht bekämpft, indem die Geflüchteten bekämpft werden. Menschen, die eh
       schon am Boden liegen. Durch die Aufnahme Syriens in die Arabische Liga
       könnte sich die Lage verschärfen. Besonders syrische Geflüchtete, die das
       Land aus politischen Gründen verlassen haben, befürchten, dass es durch die
       Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zu mehr Abschiebungen kommen
       wird.
       
       Der Libanon befindet sich [3][im freien Fall]. Die Bildung einer neuen
       Regierung ist bislang an innenpolitischen Machtkämpfen gescheitert. Die
       politischen Spitzenposten werden unter den wichtigsten konfessionellen
       Gruppen des Landes aufgeteilt, die sich gegenseitig bekämpfen. So soll
       Präsident:in immer Christ:in, Regierungschef:in Sunnit:in und
       Parlamentspräsident:in Schiit:in sein. Die politische Elite
       schachert sich seit Jahrzehnten gegenseitig die Posten zu und bereichert
       sich so auf Kosten der Bürger:innen. Eine besonders einflussreiche Rolle
       spielt die mit dem Iran verbündete schiitische Hisbollah, die über eine
       eigene Miliz verfügt.
       
       Dr. Bajan Louis, 30, zupft sich das schwarze Kopftuch zurecht, fasst kurz
       mit beiden Händen an ihren Mantel und zieht daran, als wolle sie mit ihrer
       Kleidung sagen: Weiter geht’s, nicht aufhalten lassen. Die Ärztin hat als
       Projekt-Koordinatorin der Organisation „Multi Aid Programs“, kurz MAPS, den
       Pressebesuch im Camp vor Ort vorbereitet. Sie verzieht keine Miene, bleibt
       professionell und sachlich, während sie den Besuch raus aus dem großen
       Eisentor führt. Sie kennt diese Schikanen wohl zu gut. Denn genau wie die
       meisten Frauen in diesem Camp kommt sie aus Homs, der drittgrößten Stadt
       Syriens, 145 Kilometer von Marj entfernt.
       
       Sie selbst musste im Libanon 2017 ganz von vorne anfangen, in einer
       staubigen Zeltstadt. Dr. Bayan Louis hat noch ein Jahr nach dem Studium als
       Assistenzärztin in Syrien gearbeitet, startete gerade den Bewerbungsprozess
       für die Fachärztinnen-Ausbildung in Deutschland, als sie beschloss, ihren
       Traum hinten anzustellen. „Meine Familie befand sich im Libanon in einer
       sehr schwierigen Situation. Sie konnten sich nicht einmal Brot leisten. Ich
       wollte nicht egoistisch sein, also kam ich zum Arbeiten und unterstützte
       sie.“
       
       Dr. Louis zog ins Zelt zu ihren Eltern, ihren Geschwistern und ihrer
       Großmutter. Als Ärztin durfte sie im Libanon nicht arbeiten, aber sie
       meldete sich zum Freiwilligendienst in den Lagern, vermittelte zwischen den
       Geflüchteten und den Hilfsorganisationen, startete Feldstudien und klärte
       die Syrer:innen über Gesundheitsvorsorge auf.
       
       Durch ihr Fachwissen, ihr Verständnis für die Situation und Kultur der
       Syrer:innen und ihr Durchhaltevermögen machte sie sich innerhalb eines
       Jahres unabdingbar für lokale Organisationen: 2018 bekam sie dann durch die
       internationale Organisation von MAPS einen festen Arbeitsvertrag und konnte
       mit ihren sieben Familienmitgliedern in ein kleines Apartment ziehen.
       „Manchmal schaue ich in die Augen meiner Eltern und sehe die Tränen darin.
       Sie wollen mich an einem besseren Ort sehen, an einem angenehmeren Ort.
       Aber wegen all dem Druck, den ich erfahren habe, behalte ich diese Energie,
       um für andere aufzustehen“, sagt sie.
       
       Female Empowerment Programs, so werden die zahlreichen Aktionen für die
       Stabilisierungen von weiblichen Geflüchteten, die Bayan bei MAPS eingeführt
       hat, genannt. „Frauenrechte sind Menschenrechte und ich bin dafür da, diese
       Rechte zu verfechten. Meine syrischen Schwestern brauchen Perspektiven, ich
       möchte, dass es jüngere Mädchen einmal leichter haben, als ich es hatte“,
       lautet ihr persönliches Manifest.
       
       Es heißt, in Krisen sind Frauen oftmals stärker getroffen – auch der Blick
       auf die Situation im Libanon bestätigt das: „Der soziale Impact von Krisen,
       der von der klassischen politischen und wirtschaftlichen Analyse nicht
       thematisiert wird, trifft Frauen disproportional stark“, sagt Luise
       Amtsberg, Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und
       humanitäre Hilfe und Schirmherrin von #IndenFokus. Ein Beispiel dafür sei
       die Versorgungslage in den Lagern, das entnehme sie auch dem diesjährigen
       Bericht „Breaking the Silence“ der Organisation Care.
       
       Der habe noch mal in aller Deutlichkeit gezeigt, dass Frauen in solchen
       Situationen viel weniger essen als ihre Angehörigen, weil sie sichergehen
       möchten, dass ihre Familien versorgt sind, so Amtsberg. Außerdem würden die
       syrische Frauen in der Landwirtschaft für einen Hungerlohn arbeiten – oft
       ohne Pausen oder Verträge und verdienen nur halb so viel wie Männer. Laut
       der Weltbank stellen sie 43 Prozent der Arbeitskräfte in der
       Landwirtschaft. Die Dunkelziffer dürfte höher sein.
       
       Ortswechsel, Hauptquartier von MAPS in der Stadt Taanayel. Hier zeichnet
       sich über drei Stockwerke ein anderes Bild von Geflüchteten: Die Räume sind
       mit Leben und Möglichkeiten gefüllt. In einem sitzt eine Runde Frauen
       gesellig bei der Häkelarbeit für den hauseigenen Online-Shop zusammen. In
       einem anderen Zimmer pinseln junge Mädchen an Acryl-Leinwänden an ihrer
       Zukunft. Und in der Nähwerkstatt surren die Maschinen und eine Handvoll
       Frauen sitzt konzentriert an bunten Stoffen.
       
       Die Arbeit hier stützt sich auf vier Säulen: Gesundheit, Bildung,
       Weiterbildung und Gemeindearbeit. „Wir vermitteln hier die Hoffnung und die
       notwendigen Fähigkeiten, damit sie in Würde leben können, bis sie in ihr
       Heimatland zurückkehren und am Wiederaufbau teilnehmen können. Es geht um
       die Hilfe von Syrer:innen für Syrer:innen“, sagt Dr. Bayan Louis.
       
       Die Frauen im Land haben mit vielen sozialen, wirtschaftlichen und
       psychologischen Problemen zu kämpfen. Vor allem, seit der Libanon 2019
       durch die Finanzkrise, Covid-19 und die Explosion am Hafen Beiruts
       kollabiert – am 4. August 2020 zerstörte eine Explosion weite Teile der
       libanesischen Hauptstadt, etwa 200 Menschen starben, bis zu 300.000 wurden
       obdachlos. Die Lebensumstände wurde von Jahr zu Jahr schwieriger: „Syrische
       Flüchtlingsfrauen leiden unter der Finanzkrise, den Lebensbedingungen, der
       Unmöglichkeit, ihre im Libanon geborenen Kinder registrieren zu lassen, der
       Unfähigkeit zu arbeiten, während sie ihren Haushalt und ihre großen
       Familien führen“, umreißt Mireille Georr von Malteser International. Ihr
       Kollege von der Johanniter-Auslandshilfe, Dr. Roy Abijoude, ergänzt: „Viele
       der Frauen waren gezwungen, die Führung in der Familie zu übernehmen und
       anstelle ihrer Ehemänner, die getötet wurden, immer noch im Krieg sind oder
       ihre Familien verlassen haben, die Ernährerinnen zu werden.“
       
       Dr. Louis spricht auch stigmatisierte Themen an, versucht diese vermehrt in
       den verschiedenen Aufklärungsprogrammen anzugehen. So erzählt sie zum
       Beispiel von den Problemen der Frühverheiratung, Zwangsverheiratung und
       häuslicher Gewalt. Laut einer Erhebung des Kinderhilfswerks Unicef 2021
       sind rund 40 Prozent der syrischen Mädchen unter 19 Jahren bereits
       verheiratet. Auch hier wird wie bei den meisten Schätzungen, die den
       Libanon betreffen, die Dunkelziffer deutlich höher vermutet. Repräsentative
       Zahlen zu geschlechtsspezifischer Gewalt gibt es nicht, da diese Themen zum
       einen mit viel Scham verbunden sind und zum anderen die Aufklärung fehlt,
       das Unrecht als solches zu erkennen.
       
       „Die zunehmende Stigmatisierung in der Öffentlichkeit syrischer
       Geflüchteter trägt dazu bei, dass syrische Kinder nicht mehr zur Schule
       gehen, kranke Menschen keine Krankenhäuser mehr aufsuchen und die Menschen
       ausschließlich im Lager bleiben. So kommt es zu einer Abwärtsspirale für
       Frauen in den Lagern, die durch Themen wie häusliche Gewalt noch einmal
       verstärkt wird“, sagt Luise Amtsberg. Mehrere Lagen bunter Stoff, es ist
       ein kleines Paket aus abwaschbarem Textil, das Dr. Louis der Reisegruppe
       aus Deutschland nun bei MAPS entgegenstreckt. In diesen Räumen habe sie das
       Nähen von wiederverwendbaren Binden eingeführt. In einem Land wie Libanon
       und in dem Traditions-, Religions- und Kulturverständnis vieler
       Syrer:innen ist das eine große Sache.
       
       ## Teure Hygieneprodukte
       
       „Viele Mädchen und Frauen in den syrischen Flüchtlingslagern können sich
       aufgrund der rasant gestiegenen Preise keine Monatshygiene mehr leisten“,
       sagt Dr. Louis. Sie haben sich deshalb während ihrer Menstruation einfach
       Stoff in die Unterhose gestopft. Das habe zu vielen Infektionen geführt.
       Andere haben während ihrer Tage aus Scham kaum ihre Hütten und Zelte
       verlassen, so die Ärztin. Darum haben sie auswaschbare und
       wiederverwendbare Damenbinden entwickelt und 15.000 Stück kostenlos
       verteilt. „Anfangs gab es viel Widerstand, auch wegen des Stigmas der
       blutenden Frau, die ihre Monatswäsche nicht sichtbar an der Wäscheleine zum
       Trocknen hängen will. Wir müssen hier noch viel Aufklärungsarbeit
       betreiben. Aber es ist ein Erfolg.“
       
       Der Medizinerin wird vertraut, weil sie die Kultur, die Sprache und die
       Fluchtbiografie mit den Bewohner:innen der Lager teilt: Dr. Louis hat
       zwischen Bombenalarm und Militärkontrollen die Universität in Homs beendet,
       obwohl ihre Familie schon längst geflohen war. Anfang Mai 2014 wurde die
       Stadt im Westen Syriens von Regierungstruppen eingenommen, dann galt sie
       lange Zeit als Hauptstadt der Rebellen, bevor sie 2016 schließlich
       kapitulierten.
       
       Ein Jahr bevor Bayan den Abschluss in der Hand hält und ihrer Familie in
       den Libanon folgt, wird ein mehrheitlich von Alawiten bewohnter Stadtteil
       von Homs das Ziel einer Reihe von Anschlägen von Isis. „Immer wieder
       mussten wir uns fünf oder sechs Stunden in der Uni verschanzen, weil wir
       wegen der Schusswechsel nicht sicher nach Hause kamen. Es war sehr
       gefährlich, dort zu sein. Ich wusste aber, dass ich ohne Ausbildung und
       ohne Abschluss auch keine Zukunft haben werde.“ Ihre Zukunft hatte sie sich
       jedoch anders vorgestellt.
       
       Den Syrer:innen schlägt auf politischer und gesellschaftlicher Ebene
       eine immense Welle von Hass, Diskriminierung und Dehumanisierung entgegen.
       Mit rund 1,5 Millionen syrischen und rund 250.000 palästinensischen
       Flüchtlingen ist der Libanon laut UNHCR das Land mit dem weltweit höchsten
       Anteil an Geflüchteten im Vergleich zur Gesamtbevölkerung. Die
       Infrastruktur ist mit dem Ansturm überfordert, die Geflüchteten werden für
       den miserablen Zustand des Landes verantwortlich gemacht. Angestachelt wird
       das Klima von der libanesischen Regierung, die ihre ultranationalistische
       und rassistische Politik offenlegt.
       
       „Libanesische Politiker nutzen syrische Geflüchtete zunehmend als
       Sündenbock, um von ihren eigenen Verfehlungen abzulenken. Eine besonders
       perfide Argumentation ist, dass die vielen muslimischen Geflüchteten die
       gesellschaftliche und religiöse Balance des Landes ändern würden“, sagt
       Luise Amtsberg. Die Folge sind Demos gegen Geflüchtete, immer neuen
       Regulierungen, damit diese nicht sesshaft werden. Auch Zwangsabschiebungen
       und Militär-Schikane mit unangemeldeten Razzien in den Camps gehören zum
       Alltag der Geflüchteten. Syrer:innen dürfen zudem keine permanenten
       Häuser bauen, kaum offiziell arbeiten. Die meisten arbeiten illegal im
       Niedriglohnsektor in der Landwirtschaft, auf dem Bau oder in der
       Gastronomie.
       
       „In letzter Zeit spielen die Medien hier eine große Rolle, wenn es um das
       Klima gegen Geflüchtete geht“, sagt Dr. Roy Abijoude von der
       Johanniter-Auslandshilfe. Mehrere Fernsehsender und soziale Medien
       berichten über die alarmierende und gefährliche Zunahme der syrischen
       Geflüchteten und vermitteln den Eindruck, dass sich besser um die
       Syrer:innen als um die eigene Bevölkerung gekümmert wird, so der Arzt.
       Zudem wird das Narrativ verbreitet, dass die Geflüchteten medizinische und
       finanzielle Hilfe von der UNO und NGOs erhalten, während die
       Aufnahmegesellschaft nicht ausreichend unterstützt wird und in einer sehr
       schlechten wirtschaftlichen Lage leben muss. Dr. Bayan Louis versteht den
       Frust und die Not der Libanes:innen, doch die Geflüchteten dafür zu
       beschuldigen, hält sie für inakzeptabel.
       
       Immer häufiger kommt es zu offenen Anfeindungen, gar Übergriffen auf die
       syrischen Mitmenschen. In den sozialen Medien findet man schnell
       Handyvideos, die Gewaltakte auf offener Straße zeigen. Auch von angeblich
       mutwilliger Brandstiftung in den Camps ist auf Seiten der Syrer:innen
       die Rede. „Weil es in den Lagern so eng ist, springen die Flammen schnell
       auf andere Zelte über, ganze Lager können so abbrennen“, sagt die Syrerin
       Abir Raad, 37, die als einzige Frau der Freiwilligen Feuerwehr im Lager in
       Arsal beigetreten ist. Dadurch, dass die Geflüchteten Zelte und Hütten mit
       Öfen beheizen und auf Feuer kochen, komme es auch immer wieder zu Feuern.
       Die libanesische Feuerwehr kommt nicht immer und wenn, viel zu spät.
       „Deshalb helfen wir uns selbst“, sagt Abir.
       
       Ausgerüstet mit Eimern, feuerfester Kleidung, Helmen und Schutzbrillen, die
       sie von einer niederländischen Firma gesponsert bekamen, fühlt sich die
       Syrerin endlich wieder nützlich. Die Arbeit sei gefährlich, aber es sei
       das, was Abir nach ihrer Depression wieder Selbstbewusstsein gegeben hat.
       Sie träumt davon, irgendwann mit ihren beiden Kindern und ihrem Mann nach
       Homs zurückzukehren, dann möchte sie auch in Syrien Feuerwehrfrau werden.
       
       Dr. Louis stellt noch mehr Frauen vor, die endlich wieder eine Perspektive
       haben: auf einen offiziellen Job, auf körperliche Unversehrtheit, auf eine
       Zukunft. „Bei allen Hürden und Gefahren, die ich überwinden musste, habe
       ich große Hoffnung. Vor allem, wenn ich mir die jungen Mädchen hier
       anschaue. Ich mache das vor allem für die jüngere Generation, damit sie ein
       Leben der Selbstbestimmung vor sich haben“, sagt sie.
       
       ## 30 Euro für Windeln
       
       Hoffnung sitzt auch im Warteraum des Gesundheitszentrum Chiyah, Ain El
       Remmaneh am Rande von Beirut. Die moderne, weiße, fast schon steril
       wirkende Vorhalle ist gefüllt mit Menschen, mit Einzelschicksalen, mit
       verschiedenen Krankheitsbildern – aber mit einer Gemeinsamkeit: Medikamente
       und Arztbesuche können sie sich mittlerweile alle außerhalb des Centers des
       libanesischen Malteser-Ordens nicht mehr leisten. Auf fünf Stockwerken
       werden alle medizinischen Fachrichtungen abgedeckt und kostenlos oder gegen
       eine symbolische Gebühr angeboten, ein von der WHO empfohelenes Programm.
       
       Die Syrerin Dalal, Anfang 30, trägt ein buntes Kopftuch und ist mir ihren
       beiden Kindern, die am Zipfel ihres Kleides hängen, in dem Zentrum. Sie hat
       eine fünfjährige Tochter mit Behinderung, die noch Windeln tragen muss, und
       einen Sohn mit Zahnschmerzen. „Ohne dieses Center wüsste ich nicht, was ich
       tun würde. Bevor mir das Gesundheitszentrum Windeln gab, habe ich Tücher
       für meine Tochter benutzen müssen, und auch Milch für meine Kinder konnte
       ich mir nicht leisten. Ich bin so dankbar für diesen Ort, schreiben Sie das
       auf!“, sagt sie.
       
       500.000 libanesische Lire kostet heute allein eine Packung Windeln, das
       sind umgerechnet 30 Euro. Ihr Mann, der die ganze Familie versorgt, hat ein
       Monatsgehalt von knapp 120 Euro. Doch nicht nur die kostenfreie
       medizinische Behandlung und Versorgung mit Hygieneartikeln ist an diesem
       Ort besonders. Sondern auch der Fakt, dass Dalal hier mit Respekt behandelt
       wird. „Wir haben hier im Land keine Rechte und werden ständig gedemütigt.
       Aber hier ist die Herkunft und die politische Haltung egal.“ Das oberste
       Ziel des libanesischen Malteser-Ordens sei, „den Menschen ein Leben in
       Würde zu ermöglichen und ihre Grundbedürfnisse zu sichern“, fasst Mireille
       Georr von Malteser International zusammen. Unabhängig von Religion,
       Hautfarbe oder Ethnie.
       
       Würde. Was bedeutet das in einem von Krisen gebeutelten Land? Fast alle
       Gesprächspartner:innen verwenden das Wort, mal als Ausdruck der
       Sehnsucht, mal aus Kummer, mal als Mantra oder als Beschreibung der
       vergangenen Tage. Kauen auf ihm. „Würde“, das scheint hier wie ein Kaugummi
       zu sein, der den Geschmack verloren hat.
       
       23 May 2023
       
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   DIR Hafenexplosion im Libanon: Juristisches Limbo geht weiter
       
       Ein korrupter Generalstaatsanwalt hat alle Verdächtigen im Fall der
       Explosion von 2020 freigelassen. In Beirut protestieren Angehörige der
       Opfer.