URI: 
       # taz.de -- Ersatzfreiheitsstrafen und ÖPNV: 67 Personen freigekauft
       
       > Wer ohne Fahrkarte erwischt wird und Bußgelder nicht bezahlen kann, muss
       > in den Knast. Der Freiheitsfonds hat nun erneut einige davor bewahrt.
       
   IMG Bild: Dass vorsätzliches Fahren ohne Fahrschein eine Straftat ist, liegt am §265a des Strafgesetzbuches
       
       Berlin taz | 141 Euro Strafe, weil er ohne Ticket gefahren war: Die konnte
       ein Mann aus Berlin nicht zahlen, obwohl der Tagessatz bei nur einem Euro
       lag. Deshalb kam er in den Knast, 141 Tage, fast fünf Monate, sollte er in
       der JVA Berlin-Plötzensee einsitzen. Doch jetzt hat [1][die Initiative
       Freiheitsfonds] ihn und bundesweit 66 weitere Menschen freigekauft. Mit der
       Aktion seien in der Summe mehr als zwölf Jahre Haft gelöscht worden,
       erklärte der Freiheitsfonds am Montag.
       
       Die Kampagne setzt sich für eine Entkriminalisierung von Fahren ohne
       Fahrschein ein und begleicht die Strafen von Menschen, die deswegen im
       Gefängnis sitzen. Seit ihrer Gründung im Dezember 2021 wurden laut eigenen
       Angaben in ganz Deutschland 783 Menschen befreit und so 149 Jahre Haft
       gestrichen, wodurch der Staat Haftkosten in Höhe von rund 11,6 Millionen
       Euro gespart habe. Die Strafzahlungen summierten sich derweil auf nur knapp
       720.000 Euro.
       
       Allein im Fall des Berliners, der 141 Euro schuldete, hätte jeder einzelne
       Hafttag den Staat mehr gekostet, als der Betroffene insgesamt hätte zahlen
       müssen, rechnet der Freiheitsfonds vor. Die Gesamtkosten der Bestrafung
       wären 150 Mal höher als der ausstehende Betrag gewesen.
       
       „Freedom Day“ nennt der Freiheitsfonds seine Aktionen. Für die Freilassung
       der 67 Inhaftierten am Montag zahlte die Initiative knapp 51.000 Euro. Zum
       ersten Mal beteiligte sich auch die Kampagne „9-Euro-Fonds“ an den Kosten.
       Rund 10.000 Euro habe man beigesteuert, sagte deren Sprecher Leo Maurer der
       taz. Auch in Zukunft wolle man zusammenarbeiten, den Freiheitsfonds sieht
       Maurer als ein „Schwesterprojekt“.
       
       ## 50.000 Häftlinge pro Jahr
       
       Der Grundgedanke ist ähnlich: Wer ohne gültigen Fahrschein angetroffen
       wird, kann sich an den 9-Euro-Fonds wenden, der dann das „erhöhte
       Beförderungsentgelt“ übernimmt. So will man Menschen helfen, die sich seit
       dem Ende des 9-Euro-Tickets kein Ticket für den öffentlichen Nahverkehr
       leisten können. Das eigentliche Ziel der Kampagne sei aber günstiger
       Nahverkehr. „Aber selbst der wäre für manche zu teuer“, erklärt Leo Maurer.
       Zu einer klimagerechten Verkehrswende gehöre deshalb auch, Fahren ohne
       Ticket zu entkriminalisieren, so Maurer.
       
       Dass vorsätzliches Fahren ohne Fahrschein überhaupt eine Straftat ist,
       liegt am Paragrafen 265a des Strafgesetzbuches. Er wurde 1935 von den
       Nationalsozialisten eingeführt. Demnach wird das „Erschleichen von
       Leistungen“ mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr geahndet – oder
       einer Geldstrafe. Und wer die nicht abarbeiten oder zahlen kann, muss
       ersatzweise in den Knast: einen Tag pro Tagessatz. Es trifft also
       [2][meistens arme Menschen]. Denn wer sich keinen Fahrschein leisten kann,
       kann meistens erst recht keine Geldstrafe begleichen.
       
       Pro Jahr werden in Deutschland mehr als 50.000 Personen wegen einer
       Ersatzfreiheitsstrafe inhaftiert – die meisten, weil sie ohne gültiges
       Ticket Bus oder Bahn gefahren sind.
       
       Die Ampelkoalition hat versprochen, sowohl den Straftatbestand der
       „Leistungserschleichung“ als auch die Ersatzfreiheitsstrafen zu prüfen.
       Mitte März legte das Justizministerium von Marco Buschmann (FDP) eine
       Reform des Sanktionsrechts vor, das auch die Ersatzstrafen umfasst. Der
       Entwurf sieht vor, [3][die Haftdauer zu halbieren]: Zwei Tagessätze sollen
       mit einem Tag im Gefängnis abgegolten werden können. Insgesamt sollen die
       Strafen aber als Druckmittel bestehenbleiben. Bei der Entkriminalisierung
       des Fahrens ohne Ticket ist es bislang bei den Ankündigungen geblieben,
       Eckpunkte oder gar einen Gesetzentwurf gibt es noch nicht.
       
       22 May 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Reform-der-Ersatzfreiheitsstrafe/!5918975
   DIR [2] /Ersatzfreiheitsstrafe-fuer-Arme/!5908952
   DIR [3] /Reform-der-Ersatzfreiheitsstrafe/!5908954
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hanno Fleckenstein
       
       ## TAGS
       
   DIR Ersatzfreiheitsstrafe
   DIR Gefängnis
   DIR ÖPNV
   DIR Öffentlicher Nahverkehr
   DIR Freiheitsstrafe
   DIR BVG
   DIR Öffentlicher Nahverkehr
   DIR taz-Adventskalender
   DIR Gefängnis
   DIR deutsche Justiz
   DIR Ersatzfreiheitsstrafe
   DIR Ersatzfreiheitsstrafe
   DIR Gefängnis
   DIR Tickets
   DIR Tickets
   DIR Ersatzfreiheitsstrafe
   DIR Ersatzfreiheitsstrafe
   DIR Schwerpunkt Armut
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Fahren ohne Ticket: Initiative fordert Entkriminalisierung
       
       Die Initiative Freiheitsfonds kauft erneut 100 Menschen aus Gefängnissen
       frei und fordert, das Fahren ohne Fahrschein zu entkriminalisieren. Auch um
       Geld zu sparen.
       
   DIR Fahren ohne Fahrschein in Berlin: CDU und SPD setzen weiter auf Härte
       
       In Potsdam wird Schwarzfahren nicht mehr per Strafanzeige verfolgt. Die
       Koalition in Berlin interessiert das wenig – und verweist auf den Bund.
       
   DIR Ticketkontrolle bei leerem Handy-Akku: Unangebrachtes Bußgeld
       
       Wer sein digitales Ticket bei einer Fahrkartenkontrolle in Hamburg nicht
       herzeigen kann, weil der Akku leer ist, muss Strafe zahlen. Das ist unfair.
       
   DIR Adventskalender (5): Illegal, legal, egal
       
       Die Initiative 9-Euro-Fonds erstattet ihren Mitglieder*innen die
       Gebühren für ticketloses Fahren. Das gilt neuerdings auch für weitere
       Fahrgäste.
       
   DIR Länger im Gefängnis wegen IT-Problemen: Deutschlands digitale Inkompetenz
       
       Ersatzfreiheitsstrafen sollten verkürzt werden, doch wegen IT-Problemen
       verschiebt sich die Reform. Unter dem digitalen Versagen leiden die
       Ärmsten.
       
   DIR Reform der Ersatzfreiheitsstrafe vertagt: Längere Haft wegen IT-Problemen
       
       Der Bundestag hat auf Wunsch Bayerns die Verkürzung der
       Ersatzfreiheitsstrafe vertagt. Einige Tausend Menschen müssen daher doppelt
       so lange in Haft.
       
   DIR Ersatzfreiheitsstrafen in Niedersachsen: Haft ist keine Lösung
       
       Die Zahl der Häftlinge mit einer Ersatzfreiheitsstrafe in Niedersachsens
       Gefängnissen steigt. Die Rechtsprechung bestraft damit Menschen für ihre
       Armut.
       
   DIR Ersatzfreiheitsstrafe in Berlin: Mehr Knast für arme Menschen
       
       In Berlin sitzen immer mehr Menschen Ersatzfreiheitsstrafen ab. Die
       Initiative Freiheitsfonds beklagt Unverhältnismäßigkeit und fürchtet
       steigende Zahlen.
       
   DIR Mutter in U-Haft: Ohne ihr Baby
       
       In einem Hamburger Gefängnis wird einer Mutter das Recht verwehrt, ihr
       Neugeborenes bei sich zu haben. Nur weil es der JVA zu aufwendig ist?
       
   DIR Entscheidung im Abgeordnetenhaus: Semesterticket verhungert im Ausschuss
       
       Der Vorstoß der Linken, auf ein neues Angebot des VBB hinzuwirken, ist
       gescheitert. Der TU-AStA kritisiert, die Studierenden würden alleine
       gelassen.
       
   DIR Antrag der Linksfraktion: Letzte Chance fürs Semesterticket
       
       Viele Asten lehnen das Angebot des VBB ab. Die Linksfraktion stellt im
       Abgeordnetenhaus einen Dringlichkeitsantrag zur Rettung des
       Solidar-Tickets.
       
   DIR Reform der Ersatzfreiheitsstrafe: Freifahrtschein aus dem Knast
       
       Die Initiative Freiheitsfonds kauft 75 Schwarzfahrer*innen aus dem
       Gefängnis frei und fordert die Abschaffung von Ersatzfreiheitsstrafen.
       
   DIR Reform der Ersatzfreiheitsstrafe: Kürzere Haft
       
       Wer Geldstrafen nicht bezahlen kann, soll nicht mehr so lange ins Gefängnis
       wie bisher. Die Bundesregierung will die Ersatzfreiheitsstrafe halbieren.
       
   DIR Ersatzfreiheitsstrafe für Arme: Im Kampf gegen die Klassenjustiz
       
       Ein Mann sitzt im Gefängnis, weil er kein Geld hat. Es müsste sich was
       ändern, sagt er – und ist mit der Forderung nicht allein.