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       # taz.de -- Kinotipp der Woche: Ein paar Stockwerke drunter
       
       > Die Reihe „Optische Literatur“ zeigt Werke aus der ehemaligen
       > Filmabteilung des Literarischen Colloquiums Berlin, von Ehe-Epos bis
       > Scheidungsdoku.
       
   IMG Bild: Manchmal ist die Scheidung genau das richtige: Szene aus der Doku „Von wegen ‚Schicksal‘“ (1979)
       
       Filme, die als „optische Literatur“ zu verstehen sein sollen, das klingt
       erst einmal eher abschreckend und nach dem, was dem deutschen Film seit
       jeher vorgeworfen wird. Nämlich Filme unbedingt mit Anspruch aufladen zu
       wollen, am besten noch mit „literarischer Qualität“ – was auch immer
       darunter genau zu verstehen ist. Jedenfalls danach, einen Kinofilm nicht
       einfach einen möglichst unterhaltsamen Kinofilm sein lassen zu wollen und
       ungefähr nach dem Gegenteil zu, sagen wir mal „Star Wars“.
       
       Aber man muss dann doch keine Angst vor der Filmreihe „Optische Literatur“
       haben, die das [1][Zeughauskino] vom 23. Mai bis zum 30. Juni zeigt.
       Gewidmet wird sich hier der Filmabteilung, die das vor ziemlich genau 60
       Jahren gegründete Literarische Colloquium Berlin noch bis in die Neunziger
       unterhielt.
       
       Der Begriff „Optische Literatur“ geht auf dessen Gründer Walter Höllerer
       zurück, der als Schriftsteller und Literaturwissenschaftler auch Interesse
       an anderen Künsten hatte, so auch an der Filmkunst. Und die Werke, die in
       der Filmabteilung des Colloquiums entstanden sind, sind am Ende auch nicht
       unbedingt schwerfälliger als das, was der Neue Deutsche Film sonst so
       hervorgebracht hat.
       
       Das einführende Zitat von Bertolt Brecht, das dem im Rahmen der Filmreihe
       gezeigten „Deutschland, bleiche Mutter“ (1980) von Helma Sanders-Brahms
       vorangestellt ist und dessen Titel auch einem Gedicht von Brecht entliehen
       wurde, ist dann schon länger als man das sonst so gewohnt ist. Aber bei
       einem Epos wie diesem, das in der ungeschnittenen Originalfassung von
       zweieinhalb Stunden Länge gezeigt wird und in dem die Geschichte einer Ehe
       über die Wirren des Zweiten Weltkriegs hinweg gezeigt wird, ist das
       vielleicht auch angemessen.
       
       Das Literarische Colloquium Berlin hat im Bereich der Bewegtbilder alle nur
       erdenklichen Formen vom Kurz- bis zum Experimentalfilm ausprobiert und
       produziert. Darunter auch den Dokumentarfilm „Von wegen ‚Schicksal‘“ (1979)
       von Helga Reidemeister, der wirklich ganz erstaunlich ist. In diesem wird
       Irene portraitiert, Mutter von vier Kindern, die in einem Hochhaus im
       Märkischen Viertel lebt. Ihre beiden jüngsten Kinder leben noch bei ihr und
       ihr geschiedener Mann Richard ein paar Stockwerke drunter im selben Haus.
       
       Irene mit ihren 48 Jahren wirkt wirklich nicht wie eine spätberufene
       Kommunardin, die endlich ihr altes Spießerleben hinter sich lassen möchte.
       Doch eigentlich will sie genau das. Aus gesundheitlichen Gründen kann sie
       nicht mehr arbeiten, lebt von Sozialhilfe, sträubt sich aber dagegen, zur
       Hausfrau reduziert zu werden. Sie möchte ihre beiden Jüngsten gewaltfrei
       erziehen und deswegen dem Einfluss des Vaters entziehen, während ihre
       beiden älteren Töchter eher zu diesem halten und einfach nicht darüber
       hinweg kommen, dass sie Scheidungskinder sind.
       
       Irene spricht von ihrem Drang nach Freiheit, offen von Sex und davon, dass
       sie erkannt hat, dass die Institution Ehe wohl einfach nichts für sich ist.
       Gleichzeitig ist da bei ihr, die am liebsten ständig „Die Moldau“ hört, ein
       großes Bedürfnis nach Geborgenheit, genau wie bei ihren Kindern. Und in all
       diesem Durcheinander wütet nun Dokumentarfilmerin Helga Reidemeister herum.
       Sie beobachtet nicht nur, sondern mischt sich ein, stellt unangenehme
       Fragen, konfrontiert Irene mit den wirklich drastischen Vorwürfen ihrer
       zweitältesten Tochter, bis dieser die Tränen kommen. Das ergibt einen
       unheimlich bewegenden Film über eine Frau, die ihr Schicksal endlich wieder
       in die eigene Hand nehmen möchte.
       
       23 May 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.dhm.de/zeughauskino/filmreihe/optische-literatur/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Hartmann
       
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