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       # taz.de -- Third-World-Problems: Berichte vom täglichen Leid
       
       > Während der Bundespräsident die üblich einschläfernde Rede in der
       > Paulskirche hält, treffen sich aktive Menschen gleich nebenan zur Global
       > Assembly.
       
   IMG Bild: In der Paulskirche in Frankfurt versammelten sich Aktivist:innen im Rahmen der Global Assembly
       
       Vielleicht war das wichtigste Ereignis in unserem Land letzte Woche ein
       Treffen in der Evangelischem Akademie in Frankfurt. Direkt am
       herausgeputzten Römer, wo am Tag darauf der [1][Bundespräsident eine
       gewichtige Rede mit einschläferndem Potenzial] hielt zu Ehren des ersten
       deutschen demokratischen Parlaments vor 175 Jahren in der Paulskirche. Die
       knapp fünfzig Aktivistinnen, die in einem hellen, nüchternen Raum vier Tage
       lang debattierten, waren sich des deutschen Jahrestags zwar bewusst, aber
       sie wollten nicht Vergangenheit abfeiern, sondern Zukunft einfordern. Mit
       robuster Leidenschaft und unerbittlicher Zärtlichkeit.
       
       [2][„Global Assembly“] heißt das Ereignis, und es lockte Menschen aus allen
       Ecken und Enden der Welt nach Frankfurt, divers in Herkunft, Aussehen und
       Zungenschlag. Eingeladen von zivilgesellschaftlichen Kräften hierzulande,
       von engagierten Bürgerinnen. Ohne Bürokratie. Ohne staatliche Kontrolle.
       Ohne ideologische Einfärbung. Mit klarer Sehnsucht, aber ohne feste
       Absicht.
       
       Denn die Gäste aus aller Welt sollten selbst ausloten und aushandeln,
       welche Schritte und Forderungen für sie zentral sind, um die vielen Krisen
       der Gegenwart im Sinne aller zu überwinden. Was mitten in Deutschland
       letzte Woche stattfand, war ein kleines Wunder: ein selbst organisiertes
       Treffen, eine offene Struktur, ein ebenbürtiges Miteinander, ein Reden auf
       Augenhöhe, ohne Vorgaben, ohne Einschränkungen, ohne Tabus.
       
       Schon am ersten Tag fiel auf, wie angemessen miteinander geredet wurde.
       Menschenwürde wurde nicht vollmundig vor einem großen Buffet beschworen,
       sondern im Umgang miteinander gelebt. Der gegenseitige Respekt sowie die
       Fähigkeit, zuzuhören und einander ausreden zu lassen, beweisen, dass es
       durchaus Alternativen gibt zu dem hasserfüllten kommunikativen Masturbieren
       in den sozialen Medien, das teilweise auch unsere professionellen Medien
       infiziert hat.
       
       Vielleicht erstrahlte die Würde jedes Einzelnen so sehr, weil es sich um
       Menschen handelt, die Schreckliches erlebt haben. Der Kampf um
       Menschenrechte und Gerechtigkeit provoziert nicht nur leere Versprechen und
       hohle Zusicherungen, sondern auch Gewalt. Nicht nur in Diktaturen.
       
       ## Das Unfassbare
       
       Unvermittelt sprach jemand von Unfassbarem. Vom Morden der Generäle in
       Myanmar, von einer Bombe in Afghanistan, die den eigenen Bruder zerfetzt
       hat, von Nickelförderung und -veredelung in Indonesien, für die es viel
       Energie und wenig Menschen braucht, weswegen die örtliche Bevölkerung
       brutal vertrieben und ein Kraftwerk errichtet wurde. „[3][Für eure
       E-Autos]“, so endete die Geschichte. Ohne Vorwurf in der Stimme. Ohne
       Agitation. Einfach so, als eine Wahrheit, die wir weiterhin nicht wahrhaben
       wollen: Dass wir auf Kosten anderer leben und technologische Lösungen die
       ökologische Zerstörung nicht aufhalten.
       
       Darin bestand für einen aufmerksamen Chronisten aus Mitteleuropa die enorme
       Stärke dieser Global Assembly: Bei der Diagnose wurde nicht von Theorien
       oder ideologischen Positionen ausgegangen, sondern von dem täglich
       erlittenen Leid. Das hat eine zwingende Prägnanz. Wer selbst auf einer
       Müllhalde lebt, lässt sich nicht vorgaukeln, Müll wäre eine feine Sache. In
       diesem Zusammenhang wurde von fast allen Anwesenden die Doppelmoral des
       Westens, die atemberaubende Heuchelei des herrschenden kapitalistischen
       Weltsystems hervorgehoben.
       
       Als Navid Kermani bei der Eröffnungsveranstaltung in der Paulskirche von
       seinen Recherchen im äthiopischen Tigray berichtete, von den unzähligen
       Abgeschlachteten, von den vergewaltigten Frauen (weit über hunderttausend),
       dürfte jedem klargeworden sein, wie unsere Wahrnehmung und unser Mitgefühl
       hierzulande Konjunkturen des Selbstinteresses unterliegt, wie entfernt wir
       von einer universellen Haltung sind, von einem Weltethos, von einer
       kosmopolitischen Praxis.
       
       ## Für eine bessere Welt
       
       All das soll die Global Assembly fördern. In dem schon erfolgten Treffen
       wurden die Rahmenbedingungen und Themenschwerpunkte diskutiert und
       definiert, teilweise in Arbeitsgruppen: Frauenrechte, Klimawandel,
       autoritäre Herrschaft, unternehmerisches Handeln verpflichtend an die
       Menschenrechte binden.
       
       In einem nächsten Schritt, der eigentlich aus vielen kleineren Schritten
       besteht, werden die Teilnehmerinnen einerseits die formulierten Themen bis
       zum nächsten März hinsichtlich der Herausforderungen und Aufgaben
       präzisieren, zum anderen aber exemplarische Geschichten sammeln. Denn immer
       wieder kam zur Sprache, wie wichtig Geschichten seien, als Vergewisserung
       der eigenen Erfahrung und als neue Narrative für eine bessere Welt. Als
       Visionen, als Utopien.
       
       Pünktlich zur nächsten Global Assembly im Frühjahr 2024 soll diese Sammlung
       von erfahrenen und erlittenen Geschichten aus aller Welt – Geschichten des
       Scheiterns, aber auch des Erfolgs, traurig und ermutigend – in Buchform
       erscheinen (zumindest auf Deutsch).
       
       ## Medien sind weniger willig, von Alternativen zu berichten
       
       Vielleicht haben Sie sich gewundert, dass Sie von dem Ereignis nichts
       gehört haben. Unsere Medien, die so eifrig von jedem Busunglück berichten,
       sind im Großen und Ganzen weniger willig, von Alternativen zu berichten,
       von Widerstand und Auflehnung, von Versuchen, die gewaltigen Krisen unserer
       Zeit grundsätzlich zu bekämpfen. Auch das ist Teil des Problems. Die
       beeindruckenden Menschen, die in Frankfurt zusammenkamen, sind in unserer
       öffentlichen Wahrnehmung meist nur Opfer.
       
       Höchste Zeit, sie als kluge, nachdenkliche und mutige Mitmenschen zu
       betrachten, denen zuzuhören sich lohnt. Und die zudem ihren Sinn für Humor
       nicht verloren haben. Es wurde trotz der grimmigen Themen oft ausgelassen
       und ausgiebig gelacht. Wer in einer der Kaffeepausen in die
       Fußgängerzonigkeit unserer Republik hinausging, dem fiel auf, wie schwer
       die Menschen hierzulande an ihrem Luxus zu tragen haben. Die Profiteure der
       imperialen Lebensweise haben offenbar wenig zu lachen.
       
       25 May 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2023/05/230518-Paulskirchenversammlung.html
   DIR [2] http://www.globalassembly.de
   DIR [3] /Boom-von-E-Autos/!5846637
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ilija Trojanow
       
       ## TAGS
       
   DIR Schlagloch
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   DIR Umweltzerstörung
   DIR Schwerpunkt Klimaproteste
       
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