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       # taz.de -- Buchautor Glukhovsky über Selbstzensur: „Eine erlernte Hoffnungslosigkeit“
       
       > In seinem Roman „Outpost – Der Aufbruch“ beschreibt Dmitry Glukhovsky ein
       > dystopisches Russland. Er hat schon vor dem Krieg begonnen zu schreiben.
       
   IMG Bild: Der russische Autor Dmitry Glukhovsky lebt im Exil, das Foto entstand im Mai in Berlin
       
       taz: Herr Glukhovsky, Sie sind in Russland [1][als ausländischer Agent
       eingestuft.] Momentan läuft ein Prozess gegen Sie wegen Verbreitung von
       Falschinformationen, weil Sie öffentlich den Krieg gegen die Ukraine
       verurteilen. Wie geht es Ihnen? 
       
       Dmitry Glukhovsky: Grundsätzlich gut, denn ich bin nicht in Russland, wo
       ich jetzt im Gefängnis sitzen würde. Ich bin in Freiheit und glaube, dass
       ich alles richtig gemacht habe. Ich habe öffentlich über Butscha
       gesprochen, über Irpin, über russische Kriegsverbrechen, und ich habe
       diesen Krieg einen Krieg genannt, was in Russland verboten ist.
       
       Sie haben sich bereits vor dem Ukrainekrieg kritisch gegenüber Russland
       geäußert. Hatte das schon einmal ähnlich ernste Konsequenzen wie jetzt? 
       
       Es wurden 2021 administrative Ermittlungen gegen mich eingeleitet, als ich
       die Verhaftung Alexei Nawalnys kritisiert habe. Alle meine
       Verfilmungsprojekte in Russland wurden gestoppt. Irgendwann bekam ich über
       soziale Medien Todesdrohungen. Die letzten zweieinhalb Jahre waren ziemlich
       intensiv.
       
       Viele russische Künstler:innen und Autor:innen befinden sich aktuell
       wie Sie im Exil in Europa. Wie viel Kritik am Putin-Regime ist innerhalb
       Russlands noch vernehmbar? 
       
       Es sind gar nicht so viele russische Autoren im Ausland. Wir reden
       vielleicht von einem Dutzend, die außerhalb Russlands für Demokratie und
       liberale Werte einstehen. All diejenigen, die noch die Hoffnung haben,
       zurückzukehren, etwa wegen ihrer Eltern, die halten sich zurück. Ich habe
       die Entscheidung getroffen, dass ich in dieser konkreten Lage nicht
       schweigen darf. Ich kann nicht so tun, als ob dieser Krieg mich nichts
       angeht.
       
       Lassen Sie uns über Ihren neuen dystopischen Roman sprechen. Darin ist
       Russland nach einem Bürgerkrieg gespalten, ganze Landstriche sind verseucht
       und verwaist. Es breitet sich unter den Menschen eine Krankheit, ein Wahn
       aus, der mittels Wörtern übertragen wird. Sie scheinen Sprache eine große
       Macht zuzuschreiben.
       
       Sprache hat unglaubliche Macht. Wörter bestimmen das Denken. Man kann das
       gerade in Russland sehr genau sehen, wo eine Art Orwell’scher Neusprech
       entsteht. Wenn du dem Regime treu bist, nennst du den Krieg nicht Krieg –
       sonst bist du automatisch ein Regimegegner, sondern Spezialoperation. Bei
       einem Krieg wären die russischen Behörden dazu verpflichtet, die Anzahl von
       Opfern zu veröffentlichen. Eine Spezialoperation wiederum ist Sache des
       Militärs, da muss überhaupt nichts öffentlich erklärt werden. Es wird ein
       bestimmter Wortschatz verwendet, um über die Aktionen der russischen Armee
       zu sprechen. Der Krieg sei eine Rettungsoperation, um die Bevölkerung vor
       ukrainischen Nazis zu schützen und so weiter. Wenn du deine Feinde in einer
       bestimmten Weise beschreibst, sind das plötzlich keine Menschen mehr,
       sondern legitime Ziele für Angriffe, Hinrichtungen.
       
       Im Roman lässt der Herrscher, der Zar, vertuschen, was vor sich geht, und
       sogenannte Panikmacher einsperren. Ein Verweis auf heute? 
       
       In meinem Roman beschreibe ich die Auswirkungen von Hasspropaganda. Ich
       habe ihn vor drei Jahren geschrieben, also lange vor diesem Krieg. Als ich
       schrieb, dass sich Menschen über Wörter infizieren, kam mir das wie eine
       Übertreibung vor, mittlerweile bekomme ich aber viele Nachrichten von
       Leuten, die mir sagen, ich hätte die Situation genau vorausgesehen.
       
       Sie schreiben, dass Russen generell sehr in der Vergangenheit verhaftet
       sind. Sie haben aber einen Roman über die Zukunft geschrieben. Warum? 
       
       Das Hauptproblem Russlands ist, dass Russlands Zukunft irgendwie immer auch
       Russlands Vergangenheit ist. Die aktuelle russische Regierung besteht aus
       Personen, die 70 Jahre alt sind und Angst vor der Zukunft haben, weil sie
       in dieser Zukunft keinen Platz haben. Die einzige Zukunft, die sie sich
       vorstellen können, ist eine nach chinesischem Modell, eine totale. Die
       einzigen Elemente der Zukunft, die sie attraktiv finden, ist die
       omnipräsente, digitale Kontrolle. Ansonsten soll Russland wie ein
       monarchistischer Staat funktionieren, mit einem starken Führer oben und
       Untertanen unten.
       
       Werden Ihre Bücher in Russland eigentlich noch verkauft? 
       
       Ja, aber sie müssen in einem nichttransparenten Umschlag verpackt und mit
       dem Zusatz markiert sein, dass sie von einem ausländischen Agenten verfasst
       worden sind. Das diskreditiert mich natürlich, aber es stört mich
       inzwischen nicht mehr. „Metro 2033“, das erste Buch, das ich geschrieben
       habe, war im letzten Jahr das populärste Buch meines Verlags, weil es von
       einem Atomkrieg handelt. Die Angst vor Atomkriegen ist in Russland aktuell
       verständlicherweise groß.
       
       Wie frei ist die Literatur in Russland? 
       
       Immer noch frei, aber das wird nicht mehr lange so bleiben. Das Kino ist
       komplett zensiert. Alles, was ausgestrahlt wird, muss vorher durch die
       staatliche Kontrolle, wird letztlich von Mitarbeitern des Geheimdiensts
       geprüft. In der Welt der Literatur fand zuletzt ein Prozess der
       Monopolisierung statt. Der Oligarch Oleg Novikov kontrolliert mit seinen
       Verlagen nun mehr als 80 Prozent des Literaturmarkts. Die Instrumente, um
       Literatur weitflächig zu zensieren, hat er also schon. Eigentlich hat die
       Literatur aber ohnehin keinen großen Einfluss, weil heute nicht mehr viel
       gelesen wird. Die sozialen Medien hingegen werden flächendeckend
       kontrolliert, Festnahmen und Erpressungen sind an der Tagesordnung und es
       gibt Influencer, die im Auftrag des Staats senden.
       
       Sie sind in sozialen Medien aktiv. Bei Instagram haben Sie kürzlich
       geschrieben, dass der Krieg für die Ukraine ähnlich zerstörerisch sei wie
       für die russische Bevölkerung. Was meinen Sie damit? 
       
       Der Hauptgrund für diesen Krieg, obwohl es ein Angriffskrieg ist, mit dem
       Ziel, die Ukraine zu unterwerfen, liegt in der Innenpolitik. Putin will
       jegliche Kritik an ihm und seinem Umkreis unterdrücken, demokratische
       Bewegungen ersticken. Vor dem Krieg dachte ich, wir müssten einfach warten,
       bis Putin stirbt, dann käme eine neue Welle von jungen, nach Westen
       orientierten Politikern, die nicht die gleichen Minderwertigkeitskomplexe
       wie Putin in Bezug auf den Untergang der Sowjetunion haben. Doch diese
       Hasspropaganda jetzt macht nachhaltig etwas mit den Menschen. Sich aus
       Angst und Konformismus ständig selbst zu zensieren, Lügen zu wiederholen,
       ist eine sehr traumatische Erfahrung, das weiß man aus der Sowjetzeit. Es
       schafft eine kognitive Dissonanz. Um nicht ständig in Angst zu leben,
       versuchst du dich irgendwann selbst zu überzeugen, dass diese Lügen wahr
       sind. Ich glaube, das ist ein sehr wichtiges Instrument von wirklicher,
       nicht metaphorischer Versklavung.
       
       Haben Sie keine Hoffnung, dass der Widerstand innerhalb Russlands gegen
       Putin und den Krieg wachsen wird? 
       
       Das Erbe der Sowjetzeit besteht darin, dass die Leute immer noch Angst vorm
       Staat haben und nicht glauben, dass sie gegen ihn aufbegehren können. Eine
       erlernte Hilflosigkeit. Die Demonstrationen gegen den Krieg, die es in
       Russland gab, gingen von Leuten aus, die eigentlich keine Hoffnung mehr
       hatten. Ihr Gewissen hat sie dazu getrieben, sich öffentlich gegen den
       Krieg zu positionieren, damit ihre Enkel ihnen nicht einmal Untätigkeit
       vorwerfen müssen. Einen liberalen Widerstand werden wir in Russland in der
       nächsten Zeit nicht sehen. Wenn die westlichen Sanktionen weiter
       aufrechterhalten werden, was ich richtig fände, wird vielleicht nach Putins
       Tod der neue Machthaber einsehen, dass es sinnvoll ist, Frieden mit dem
       Westen zu schließen, wofür Russland Bedingungen erfüllen muss.
       
       Welche wären das? 
       
       Reparationszahlungen an die Ukraine und die Rückgabe der ukrainischen
       Territorien. Eine schnelle Lösung sehe ich nicht. Putin hat in Russland
       beinahe unbegrenzte Macht. Politische Aktivisten werden nicht nur bedroht,
       sondern auch erniedrigt, indem man ihre erzwungenen Geständnisse auf Video
       aufnimmt und verbreitet. Es gibt viele Arten, die Leute zu demotivieren.
       Hilflosigkeit ist das vorherrschende Gefühl. Einen Umschwung aktuell könnte
       nur ein Palaststurm oder eine Straßenrevolution bewirken.
       
       Unwahrscheinlich, oder? 
       
       Ja. Aber vielleicht haben die Kriegsveteranen, wenn sie zurückkehren,
       enttäuscht und traumatisiert, wenn sie Tod und Blut gesehen haben, keine
       Angst mehr vorm Staat. Das ist ja auch bei der Oktoberrevolution von 1917
       der Fall gewesen. Die Generation, die keine Kriege miterlebt hat, fand es
       unvorstellbar, gegen den Staat und den Zarismus vorzugehen. Die Leute, die
       zuletzt in Moskau auf die Straße gegangen sind, sind Leute aus der
       Mittelklasse, die sich scheuen, einen Stein in die Hand zu nehmen. Die
       andere Frage ist aber, wie man diese Kriegsveteranen erreichen wird. Was
       ihre Ziele sind, wie sie einen Umschwung herbeiführen wollen. Das wird
       definitiv nicht auf demokratische Art erfolgen.
       
       16 May 2023
       
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