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       # taz.de -- Eurovision Song Contest: Ein Festival der Diversität
       
       > Dem ESC wird nachgesagt, dass er einem Kulturverfall gleiche. Dabei ist
       > es genau andersrum: Er ist auf der Höhe der Zeit.
       
   IMG Bild: Beim ESC ist mittlerweile auch Australien dabei: diesmal mit der Band Voyager
       
       Anfang der Woche veröffentlichten die beiden ESC-Blogger Marc Schulte und
       Martin Schmidtner eine [1][Erklärung in ihrem Online-Forum]: Sie nehmen
       „Abschied“ vom Eurovision Song Contest. Beide haben in ihrem Blog über
       viele Jahre über und von den Orten, an denen der ESC jeweils stattfand,
       über dieses Event berichtet. Nun wollen sie nicht mehr: Sie könnten mit der
       „Kommerzialisierung und Monopolisierung“ nicht mehr mithalten. Außerdem
       schreiben sie – und Schriftliches wird in der Eurovisionsfansphäre, die in
       die Hunderttausende geht, kaum noch zur Kenntnis genommen. Andere zogen
       schon vor Jahren ähnliche Schlüsse und zogen sich zurück. Die
       Graswurzelszene beim Eurovision Song Contest wird ungefähr so stark
       verdrängt wie auf europäischen Fluren gewöhnliche Blümchen und Kräuter
       durch die Macht der Agrarlobby: Was der Ernte nicht nützt, soll keinen
       Platz haben.
       
       Tatsächlich findet rund um den Eurovision Song Contest eine Flurbereinigung
       medialer Art statt: Das Event, das bis vor wenigen Jahren mehr oder weniger
       ein Festival der „queeren Undergrounds“ war, ein übel beleumundetes
       TV-Ereignis ohne kunstreligiösen Sinn, ein Wettbewerb, der in den
       distinktionsbewussten Kulturkreisen nie auch nur einen kleinen Blumenpott
       gewinnen konnte, dieses Event ist, und zwar mit globaler Ausstrahlung, cool
       geworden. Man guckt ESC, man hält sich diesen Samstag im Mai im Kalender
       fest und gilt nicht mehr als psychischer Borderliner, wenn man das guckt
       und womöglich noch als Fest der europäischen Verständigung genießt!
       
       Der ESC ist zwar seit seiner ersten Ausgabe für fast alle beteiligten
       öffentlich-rechtlichen Sender die jeweils im Jahr quotenstärkste Show –
       aber sie fand, abgesehen von Boulevardberichterstattung, nicht Eingang in
       mediale Aufmerksamkeit. Anfang der neunziger Jahre begannen indes
       ESC-Fanclubs, sich als Journalisten beim Event zu akkreditieren. Über viele
       Jahren wuchs so eine – im Übrigen überwiegend schwule – Graswurzelszene,
       eine mediale Basisbewegung, die vom ESC berichtete.
       
       Als seitens der Veranstalter aber die Kostenfrage näher aufgeworfen wurde,
       gegen Ende der neunziger Jahre, als außerdem die osteuropäischen Sender
       partout mitmachen wollten, begann die European Broadcasting Union (EBU) in
       Genf (der auch die ARD angehört) an Sponsorenmodellen zu arbeiten – und
       seit circa fünf Jahren mit der Arbeit, das Zuschauerprofil zu verjüngen.
       Die Show stand faktisch vor der gleichen Aufgabe wie Zeitungen, die nur auf
       Papier erscheinen: Wie interessiert man das Stammpublikum für Neues, wie
       die Jungen für ein Traditionsformat?
       
       ## Nur wenige Presseakkreditierungen
       
       Das Resultat ist in aller Schärfe in Liverpool, jetzt beim 67. Eurovision
       Song Contest, zu bestaunen: Es sind in der Tat recht wenige
       Presseakkreditierungen vergeben worden, mit geringer Priorität für Blogs,
       also Fans, und Printzeitungen mit kleinen Auflagen. Vorrang haben TV-Sender
       und Radiostationen, Massenmedien quasi. Zumal in diesem Jahr die Regie des
       Ausspielens von Inhalten von den Proben der Acts beim
       Kommunikationsgiganten TikTok liegt: Dieser Dienst stellt die Schnipsel zur
       Verfügung, nur TikTok darf das Bildmaterial sortieren – weil das, so die
       Kalkulation der EBU, direkt in die Herzen eines jungen Publikums trifft.
       
       Ästhetisch nimmt sich die Show aus Liverpool, ausweislich der Dienstag und
       Donnerstag zelebrierten Semifinals, den Qualifikationsrunden für das Grand
       Final am Samstag, wie ein Gegenentwurf zu den ESCs noch in den achtziger
       Jahren aus: Aus einer Musikshow mit national aufgeladenen Acts, mit öfter
       starken Folkloreelementen, ist eine Popleistungsschau geworden, bei der man
       bei einem Act nicht mehr erkennt, ob da ein Lied aus dem südlichen oder dem
       östlichen Europa kommt.
       
       Das alte Europa wie in den sechziger Jahren, das hat mit dem Europa von
       heute kaum Ähnlichkeit. Mit und durch den ESC hat sich der Kontinent, der
       eurovisionär auch Israel, die Kaukasus-Länder und seit 2015 auch Australien
       umfasst, hybridisiert. Und zwar nicht allein aus Gründen von Einwanderungen
       aus nichteuropäischen Gegenden, sondern weil die popästhetische Moderne
       inzwischen überall goutiert wird: Wer beispielsweise ukrainischen Folk
       hören will, darf sich nicht in der Ukraine umhören – der sollte, dort
       werden diese alten Stile konserviert, nach Brooklyn, New York City, gehen,
       weil dort die ukrainische Community, ansässig seit 100 Jahren, nostalgisch
       gepflegt wird, was die ukrainische Jugend nicht mehr als Pop hört.
       
       ## Die stilistische Hybridisierung – ein Glücksfall
       
       Die stilistische Hybridisierung war und ist allerdings auch deshalb für
       alle teilnehmenden Länder geboten, weil es ja nicht darauf ankommt zu
       gewinnen – ein Glücksfall, das wissen alle -, sondern nicht Letzter zu
       werden. Das wäre beschämend. Empirisch haben die letzten Plätze im Laufe
       der Jahrzehnte des ESC jene Acts belegt, die nationalfolklorehaft torfig
       und wie von Verwesungsgeruch behaftet daherträllerten.
       
       Insofern ist dieser ESC in Liverpool auf der Höhe der Zeit, sogar so on
       top, dass es reichlich Sponsoren gibt: Marken, die sich von der
       Präsentation beim ESC starken Imagegewinn versprechen. Ein Prozess der
       eurovisionären Selbstprofessionalisierung, die darin mündet, dass die
       meisten Lieder eines Finalabends in den heimischen Charts landen, manchmal
       auch in allen ESC-Ländern, am stärksten die Schwedin Loreen, die 2012 mit
       „Euphoria“ siegte – ihr Lied zählte zum Soundtrack jenes Jahres, wie auch
       das Siegeslied vom vorigen Jahr, [2][das Kalush Orchestra aus der Ukraine
       mit „Stefania]“, in Berliner Clubs häufig zu hören war, und das nicht nur
       bei Ukraine-Soli-Abenden.
       
       Insofern ist die kulturmelancholische Verfallsklage, die [3][in einem Text
       im Freitag] zu lesen stand, ein Zeugnis reaktionären, im Übrigen
       ahistorischen Bewusstseins: Dass der ESC immer farbloser, mainstraimiger
       geworden sei, ja, „abstrakten Pop“ nur liefere, war in anderen
       Formulierungsweisen auch 1974 nach dem Sieg von [4][Abba] beim ESC in
       Brighton zu hören. Und zwar in Schweden, wo das Kulturestablishment, wie eh
       und je wohl subventioniert, beklagte, mit dieser Band sei endgültig der
       US-Imperialismus kulturell über Schweden gekommen. So kurios das klingt:
       Der ESC war immer Anlass für Kulturkritiker, den Verfall ihres Liebsten,
       der bildungsbürgerlichen Kultur zu beklagen. Jedes Jahr mit gleichem
       Material – aber nie ist es anders als: Nichts Neues unter der Sonne.
       
       Der ESC ist jeweils so modern oder mainstreamig oder faszinierend
       befremdlich, wie es die einzelnen Länder (besser: die dortigen Sender) mit
       ihren Auswahlverfahren wollen. Abstrakt jedenfalls ist nicht, was dieses
       Jahr zu beobachten ist: Als die Länder nicht mehr gezwungen wurden, nur in
       der Landessprache singen zu dürfen – weil Englisch für die einzige lingua
       franca des Pop (miss-)verstanden wurde -, sangen fast alle immer auf
       Englisch. Das scheint vorbei. Die meisten Acts der Finalisten am Samstag
       singen in ihren Landessprachen, was sich erfahrungsgemäß nicht mehr als
       Makel ausweist.
       
       [5][Der ESC lebt,] und er tut das seit 1956. Jedes Jahr fühlen sich
       Traditionalisten düpiert – und wenden sich mit oft delirierenden
       Formulierungen ab. Allerdings verkennen sie, dass jedes Jahr neue
       Traditionen begründet werden, und irgendwann versterben auch sie mangels
       Zeitgeistanhaftung. Gut so! [6][In Liverpool war noch nie so viel
       Diversität] und popästhetische Konkretion. Abstrakt ist nur die Idee, die
       Welt ticke für immer wie einst in der eigenen Jugend.
       
       Jan Feddersen, Jahrgang 1957, hat mehrere Bücher zum ESC verfasst, u.a.
       „Ein Lied kann eine Brücke sein“. Er war beim Eurovision Song Contest von
       1992 bis 2019 jeweils live dabei, als Journalist. Er guckt dieses Event
       nach wie vor mit größtem Wohlgefallen.
       
       12 May 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.eurovision.de/
   DIR [2] /Ukraines-Sieg-beim-ESC/!5852387
   DIR [3] https://www.freitag.de/autoren/peter-rehberg/esc-in-liverpool-hej-da-heissgeliebte-peinlichkeiten
   DIR [4] /Neues-Album-von-Abba-Voyage/!5808855
   DIR [5] /Erster-ESC-nach-Corona-Zwangspause/!5774034
   DIR [6] /Kontroverse-um-Laibach-in-der-Ukraine/!5919154
       
       ## AUTOREN
       
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