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       # taz.de -- Nachruf auf Sibylle Lewitscharoff: Angriffe auf die Langeweile
       
       > Sie war mal Trotzkistin, verursachte Skandale und bekam den Büchnerpreis.
       > Ein persönlicher Nachruf auf die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff.
       
   IMG Bild: Sibylle Lewitscharoff starb am 13. Mai in Berlin
       
       Indiskret habe ich sie nie erlebt, aber Anekdoten hat sie geliebt. Wie
       alles Charakteristische, Pointierte, aber auch: möglichst Schillernde.
       Deshalb sei damit begonnen: Vor zehn Jahren, sie hatte gerade den
       Büchner-Preis gewonnen, besuchte ich sie in der Villa Massimo in Rom.
       
       Den Koffer noch in der Hand, fiel mein Blick auf eine schwarze Handtasche,
       mit Steinen bestückt (so meine Erinnerung), prominent platziert, ein
       schimmernder Fetisch und ideal für ihre flamboyante Eleganz. „Bulgari“
       sagte die ehemalige Trotzkistin auf der Stelle, „da steckt mein Preisgeld
       drin.“
       
       Sie war unüberhörbar Schwäbin, aber von unerhörter Großzügigkeit. Mit
       anderen, aber auch mit sich selbst. Mit Geld, aber auch mit Witz, mit
       Kenntnissen, mit Herzlichkeit und Dankbarkeit. Ihre gedankliche Schärfe war
       legendär, doch ohne jede Beckmesserei – und auch das für andere wie für
       sich selbst.
       
       Dies half bei dem Skandal, der sich, bis heute, mit ihrem Namen verbindet –
       räumen wir das gleich ein und ab –, [1][ihrer „Dresdner Rede“ 2014,] in der
       sie sich polemisch zur künstlichen Befruchtung äußerte („meine Abscheu ist
       in solchen Fällen stärker als die Vernunft“): [2][Sie bat um
       Entschuldigung,] und zwar offen, mehrfach und begründet. Auch die
       Unerschrockenheit gehörte zu ihrem bemerkenswerten Charakter.
       
       Sie schrieb Romane, Hörspiele, auch für die Bühne – und so luzide wie
       lebendige Essays. Ihre Interessen reichten von der Philosophie über die
       Musik und die Ästhetik (auch in der angewandten Form der Mode) bis zur
       bildenden Kunst; einige Objekte aus ihrer präzisen Hand – u.a. ein
       „Grammatikspiel“ und Dantes „Inferno“ als Installation aus Papier – waren
       im Marbacher Literaturinstitut, wo auch ihr Nachlass hoffentlich intensiv
       gepflegt wird, ausgestellt.
       
       ## Offensiv skurril
       
       Ihre Karriere als Autorin begann in Berlin, wo sie bei Klaus Heinrich
       Religionswissenschaften studierte („da war intellektuell einfach mehr los
       als bei den Germanisten, wo es entsetzlich fade zuging“), und zwar mit der
       offensiv skurrilen Erzählung „Pong“, die ihr 1998 den
       Ingeborg-Bachmann-Preis einbrachte.
       
       Es folgten die Romane „Montgomery“, „Consummatus“, „Apostoloff“,
       „Blumenberg“ und „Killmousky“, und schon aus den Titeln lässt sich
       schließen, was ihr wie ihren Leser:innen höchstes Vergnügen machte: Die
       Sprache als lautmalerisches Phänomen und als Angriff auf die Langeweile.
       
       Der Stoff ihrer Geschichten war das 20. Jahrhundert, vorzugsweise in seinen
       edgy parts und mit autobiografischem Gehalt: In „Apostoloff“ reist die
       Ich-Erzählerin in das Heimatland ihres Vaters und rezensiert Bulgarien in
       Grund und Boden, in „Montgomery“ versucht ein schwäbisch-italienischer
       Filmproduzent sich an einem Werk über Joseph Süß Oppenheimer, in
       „Blumenberg“ geht es um die sprichwörtliche Arbeit am Mythos, die der
       Protestantin Lewitscharoff (katholischem Pomp and Circumstances nicht
       verfallen, aber sehr zugeneigt) lebenslang produktiv zu schaffen machte.
       
       In ihren Romanen wird viel gestorben; „manchmal habe ich mich im Verdacht,
       dass ich eine wichtige Figur nur deshalb sterben lasse, weil ich sonst
       nicht weiterwüsste“. Die MS-Erkrankung, mit der sie geschlagen war,
       forderte ihre Unerschrockenheit noch einmal heraus, und die Intellektuelle
       begegnete ihr mit all der Lebensklugheit, die sie eben trotz- und außerdem
       auszeichnete.
       
       ## Unsicher auf dem Geisthügel
       
       Seit dem Tod ihres Mannes, des Künstlers Friedrich Meckseper, waren ihre
       vielen Freundschaften, spielerisch, gewitzt und solidarisch, noch präsenter
       als zuvor. Auch produktiv war sie bis zum letzten Lebenstag.
       
       „Jeder Tote“, heißt es in ihren Zürcher Poetikvorlesungen, „der uns etwas
       bedeutet, hat einen spitzen Geisthügel emporgetrieben, auf dem wir unsicher
       herumrutschen, für kurze Momente sogar stehen, was uns einen größeren
       Überblick gestattet, als ihn der unter dem Hügel verborgene Tote seinerzeit
       hatte. Aber nun, da ihm alle Zeit gehört, ist der Tote im Vorteil, und wir
       sollten lernen, uns seine schmiegsamen Künste gefallen zu lassen. In diesem
       Sinne noch einmal – Guten Morgen, oder vielmehr guten Abend, ihr lieben
       Toten, nur immer herein.“
       
       Sibylle Lewitscharoff starb, 69-jährig, am 13. Mai in Berlin.
       
       14 May 2023
       
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