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       # taz.de -- US-Reporter Evan Gershkovich in U-Haft: Politischer Spielball
       
       > Evan Gershkovich drohen bis zu 20 Jahre Haft. Ob die Vorwürfe konstruiert
       > sind, spielt in einem autoritären Staat wie Russland keine Rolle.
       
   IMG Bild: Evan Gershkovich Mitte April vor einem Stadtgericht in Moskau
       
       Als die Öffentlichkeit [1][Evan Gershkovich] das letzte Mal zu Gesicht
       bekam, stand der US-Journalist in einem verglasten Kasten in einem Moskauer
       Gericht. Er lächelte. „Evan, bleib stark!“, rief ihm ein Kollege auf
       Russisch zu. Das Gericht lehnte an diesem Tag Mitte April den Einspruch,
       den Gershkovich und seine Anwältinnen gegen seine Haft eingereicht hatten,
       ab. Sie hatten Hausarrest anstelle der Untersuchungshaft gefordert und eine
       Kaution von 50 Millionen Rubel angeboten, umgerechnet eine halbe Million
       Euro. Gershkovich [2][verschwand nach dieser Niederlage wieder in seiner
       Gefängniszelle im berüchtigten Moskauer Gefängnis] Lefortowo.
       
       Evan Gershkovich, 31, arbeitet in Russland als Reporter für das Wall Street
       Journal (WSJ). Am 28. März veröffentlichte er gemeinsam mit einem Kollegen
       einen Text über den Niedergang der russischen Wirtschaft. Einen Tag später
       wurde er vor einem Steakhaus in der Millionenstadt Jekaterinburg vom
       russischen Inlandsgeheimdienst FSB verhaftet. Er sei beim Spionieren im
       Auftrag der US-amerikanischen Regierung auf „frischer Tat ertappt“ worden,
       behauptete Kremlsprecher Dmitri Peskow. Der FSB wirft ihm vor,
       Staatsgeheimnisse gesammelt zu haben. Beweise hat Russland bisher nicht
       vorgelegt. Gershkovich hatte zur Söldnertruppe Wagner recherchiert. Die
       US-Regierung und das WSJ weisen die Anschuldigungen gegen Gershkovich
       strikt zurück.
       
       Zwei Monate sind seit der Festnahme vergangen. Freund:innen und
       Kolleg:innen kämpfen seitdem für die Freilassung des US-Reporters. Sie
       haben den Instagramkanal @freegershkovich ins Leben gerufen, sein Freund
       und ehemaliger Kollege Pjotr Sauer hat eine Briefkampagne für ihn
       gestartet. Das WSJ informiert auf seiner Startseite über ihren Reporter:
       Dort finden sich gesammelt die neuesten Entwicklungen zu dem Fall,
       Gershkovichs wichtigste Texte, ein Porträt über ihn und ein Videointerview
       mit seiner Familie.
       
       Internationale Medienvertreter:innen und -organisationen haben in
       einem offenen Brief dazu aufgerufen, den US-Journalisten freizulassen. Auch
       deutsche Medienschaffende haben das gefordert und dafür an [3][den
       russischen Botschafter in Berlin geschrieben].
       
       ## USA erklärt Freilassung zur „Priorität“
       
       Das erste Mal seit Ende des Kalten Krieges wird ein US-Journalist in
       Russland wegen Spionagevorwürfen eingesperrt. Bei einer Verurteilung drohen
       Gershkovich bis zu 20 Jahre Haft. US-Präsident Joe Biden hat die
       Freilassung zu seiner „Priorität“ erklärt, teilte das Weiße Haus kürzlich
       mit. Seine Regierung arbeite „jeden Tag“ daran, die Freilassung von Evan
       Gershkovich zu erreichen.
       
       Die internationale Anteilnahme für Gerhskovich ist groß. Und doch wirkt die
       politische und gesellschaftliche Unterstützung bislang vergeblich. Erst
       vergangene Woche hatte das russische Außenministerium Gershkovich
       wiederholt konsularischen Besuch untersagt. Die Absage fand sich als
       Randnotiz in einer Mitteilung des russischen Außenministeriums, in dem für
       500 US-Bürger:innen, darunter Ex-Präsident Barack Obama, ein Einreiseverbot
       verhängt wurde. Russische Journalisten hätten im Mai schließlich keine
       US-Visa für die Reise mit Außenminister Sergej Lawrow zu den Vereinten
       Nationen in New York erhalten, hieß es dazu. Sanktionen und berufliche
       Einschränkungen für Russen blieben nie ohne Strafe, hörte man aus Moskau.
       
       Gershkovich ist damit längst zum politischen Spielball Russlands geworden.
       Und das in einer Zeit, in der die Beziehungen zwischen Russland und den USA
       angesichts der russischen Invasion in der Ukraine ohnehin an einem
       Tiefpunkt sind. Ob die Vorwürfe gegen Gershkovich konstruiert sind, ob es
       keine Beweise gibt, spielt in einem autoritären Staat wie Russland keine
       Rolle. Welche Hoffnung gibt es dann für Evan Gershkovich?
       
       Vergangene Woche schien Bewegung in den Fall zu kommen. Da berichtete CNN,
       dass sich die US-Regierung darum bemühe, hochrangige russische Gefangene
       für einen Austausch mit Russland zu finden. Dafür sei die Regierung mit
       anderen verbündeten Ländern im Gespräch, darunter auch Deutschland.
       Entscheidend werden könnte also nicht, die Unschuld von Gerhskovich zu
       beweisen, sondern wen die USA zum Tausch anbieten können.
       
       ## Tauschpartner: „Tiergartenmörder“
       
       Ähnlich gelaufen war es im Fall der US-Basketballspielerin Brittney Griner,
       die zehn Monate lang in russischer Haft war. Erst durch einen
       Gefangenenaustausch zwischen den USA und Russland kam sie in diesem Mai
       frei. Schon damals brachte Russland einen Tausch unter Beteiligung
       Deutschlands ins Spiel. Im Visier hatte man den sogenannten
       [4][Tiergartenmörder Vadim Krasikov.] Er wurde im Dezember 2021 in
       Deutschland zu lebenslanger Haft verurteilt.
       
       Erneut stellt sich also die Frage, ob die russische Seite diesen
       verurteilten Mörder zum Gegenstand von Verhandlungen machen wird. Aber
       dürfte der „Tiergartenmörder“ überstellt werden?
       
       Sollte es im Interesse der Bundesregierung sein, Krasikov im Rahmen
       diplomatischer Initiativen nach Russland zu überstellen, so gebe es dafür
       rechtliche Instrumente, sagt Rechtsanwalt Nikolaos Gazeas der taz. Er ist
       auf das internationale Strafrecht spezialisiert und seit 2020 der deutsche
       Anwalt von Alexej Nawalny.
       
       Wenn die Bundesregierung Krasikov nach Russland schicken möchte, müsste
       diese den Generalbundesanwalt um Zustimmung ersuchen. Formal wäre er als
       Vollstreckungsbehörde zuständig. Der Generalbundesanwalt kann darüber
       entscheiden, die Strafvollstreckung vorzeitig zu beenden, auch ohne
       Zustimmung des Gerichts. Der Verurteilte Krasikov könnte dann an Russland
       übergeben werden, das förmlich seine Strafvollstreckung übernehmen würde.
       Juristisch sei das möglich, sagt Gazeas, auch wenn es in dem Wissen
       geschehe, dass Russland wahrscheinlich die Strafe aussetzen würde.
       
       In Deutschland müsste der wegen Mordes verurteilte Russe also weder
       begnadigt, noch müsste ihm seine Strafe erlassen werden. Das hält
       Rechtsanwalt Gazeas für nicht vermittelbar. „Am Ende ist der
       Gefangenenaustausch für jeden Staat eine rein politische Entscheidung“,
       sagt er. „Vadim Krasikov ist einer der aus Sicht des Kremls wichtigsten
       rechtskräftig verurteilten russischen Gefangenen, die wir aktuell in
       Deutschland haben“, sagt Gazeas. Ob und wofür man Krasikov im Tausch
       übergebe, werde sich die Bundesregierung daher sehr gut überlegen. 
       
       Die Bundesregierung befindet sich also in einem Dilemma: Sie muss
       entscheiden, ob sie den US-Amerikanern hilft, ihren eigenen Staatsbürger
       freizubekommen, oder ob sie den Gefangenen Vadim Krasikov für noch mögliche
       größere, wichtigere Verhandlungen mit den Russen behält.
       
       Dass Gershkovich in Russland als politischer Gefangener festgehalten und
       ihm Spionagedelikte vorgeworfen werden, hält Gazeas für „geradezu absurd“.
       Der Gefangenenaustausch sei in der gegenwärtigen Situation für einen
       politischen Gefangenen in Russland faktisch die einzige Möglichkeit, um
       freizukommen.
       
       Ob sich die deutsche Regierung an der Freilassung von Evan Gershkovich
       beteiligt, wollte die Bundesregierung auf taz-Anfrage nicht mitteilen. Ein
       Regierungssprecher sagte jedoch, dass die Regierung tief besorgt sei über
       die Verhaftung des US-Journalisten in Russland: „Die Arbeit von
       akkreditierten Korrespondentinnen und Korrespondenten muss ungehindert und
       ohne Einschüchterung möglich sein.“ Journalismus dürfe nicht kriminalisiert
       werden. „Die russischen Behörden demonstrieren mit ihrem Vorgehen einmal
       mehr ihre systematische Missachtung der Medienfreiheit“, sagte der
       Regierungssprecher der taz.
       
       Unter dem Vorsitz von Deutschland haben sich die G7-Staaten im Jahr 2022
       dazu entschlossen, sich gemeinsam für die Stärkung der Pressefreiheit
       einzusetzen und unabhängigen Journalismus in Krisen- und Kriegsregionen zu
       unterstützen. Wie Deutschland dies im Zusammenhang mit der Inhaftierung von
       Gershkovich gewährleisten kann, ist bislang nicht ersichtlich.
       
       Gershkovich hatte fünfeinhalb Jahre aus Russland berichtet, rund eineinhalb
       Jahre für das Wall Street Journal. Viele ausländische Journalist:innen
       verließen nach Kriegsbeginn im vergangenen Jahr zumindest vorübergehend
       Russland. Gershkovich [5][entschied sich zu bleiben.] Er empfand es als
       seine Pflicht zu berichten. In dem bislang einzigen Brief, den Gershkovich
       aus dem Gefängnis an seine Familie geschrieben hat, heißt es, er verliere
       nicht die Hoffnung. Und: „Ich versuche zu schreiben. Vielleicht werde ich
       endlich etwas Gutes schreiben.“
       
       Am Mittwoch hat ein Moskauer Gericht unter Ausschluss der Öffentlichkeit
       die Haft von Gershkovich bis Ende August verlängert. Seine Freilassung ist
       ein weiteres Mal auf unbekannte Zeit verschoben.
       
       27 May 2023
       
       ## LINKS
       
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