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       # taz.de -- Karneval der Kulturen: Der Tanz, der uns verbindet
       
       > Als antirassistischer Protest ins Leben gerufen, wird der Karneval der
       > Kulturen heute als Party wahrgenommen. Was motiviert teilnehmende
       > Gruppen?
       
   IMG Bild: Die Mitglieder der Gruppe Canoafolk unterwegs mit ihrer Trainerin Rocío Klug-Correa
       
       Es ist ein kühler Vormittag im Mai, als die Gruppe „Canoafolk“ den
       [1][Arnswalder Platz] in Prenzlauer Berg besetzt. „Canoafolk – Culturas
       Unidas por la Danza“ steht auf ihren blauen T-Shirts, sie üben für ihren
       Auftritt auf dem Berliner Karneval der Kulturen. Die Tanzenden stehen
       hintereinander, ihre Arme schwingen durch die Luft. Simultan drehen sie
       sich um die eigene Achse, die stampfenden Füße wirbeln den Sand auf. Es
       geht mehrere Schritte vorwärts, die Oberkörper nach vorn gebeugt, die Arme
       baumeln herunter. Eine Frau und ein Mann hüpfen vor den anderen umher, mit
       ausgestreckten Armen wirbeln sie vor der Gruppe herum.
       
       Rocío Klug-Correa, die Gründerin und Leiterin der Gruppe, erklärt die
       Bedeutung des Tanzes: „Sie ist die Mutter Natur“ – Klug-Correa deutet mit
       ihrem Kinn auf die Frau. „Und er ist der geheilte Fluss.“ Der Tanz handelt
       vom [2][Río Atrato], der durch Kolumbien fließt und Anfang Mai für
       Schlagzeilen sorgte, als das kolumbianische Verfassungsgericht ihn als
       [3][als Subjekt] anerkannte. „Und es gibt auch einen dritten, er ist der
       dreckige Fluss“, Klug-Correa lacht. „Aber der ist heute nicht da.“
       
       Klug-Correa hat sich sämtliche Choreografien selbst ausgedacht, auch die
       Kostüme hat sie selbst genäht. Auf Spanisch gibt sie den Takt vor, hier und
       da gibt sie Anweisungen. Die meisten aus der Gruppe sind Kolumbianer:innen,
       aber auch zwei Deutsche, die Spanisch sprechen, sind dabei. Klug-Correa
       selbst tanzt nicht mit, mit der Koordination hat sie genug zu tun. „Viele
       Menschen hier verbinden mit Kolumbien Drogen, Krieg und die Mafia“, erklärt
       sie. „Wir wollen auch die schöne Seite zeigen. Unsere Tänze, unsere Musik.“
       
       Organisiert wird der Karneval der Kulturen von der [4][Piranha Arts AG],
       einem Kulturveranstalter, der sein Büro in Berlin-Kreuzberg hat. In einer
       Büroecke hängt ein selbstgebasteler Piranha von der Decke. Auf dem Boden
       breitet sich ein gigantischer roter Teppich aus. Pflanzen und Puppen auf
       Kopfhöhe schmücken die Räume.
       
       ## Kulturelle Intervention und antirassistische Bewegung
       
       „[5][Karneval der Kulturen] ist keine Massenparty“, sagt Geraldine Hepp,
       eine der beiden Leiterinnen des Karnevalbüros. Sie ärgert sich darüber, wie
       die Veranstaltung von einigen wahrgenommen wird. „Natürlich wird auch
       gefeiert. Aber er ist vor allem eine kulturelle Intervention, die in den
       90er Jahren als antirassistische Bewegung und als Antwort auf
       fremdenfeindliche Ausschreitungen und Morde entsprungen ist.“ Der Karneval
       sei aus dem Impuls heraus entstanden, „dass Menschen sagten, wir gehören
       hier hin, wir sind auch Teil von Deutschland“.
       
       Es ist Donnerstag, Christi Himmelfahrt und eigentlich ein Feiertag.
       Trotzdem sitzt Hepp gemeinsam mit ihrer Co-Chefin Aissatou Binger und zwei
       weiteren Kolleginnen im Büro. Da der Umzug drängt, nutzen die
       Veranstalterinnen jeden Tag, um Vorbereitungen zu treffen.
       
       Binger und Hepp sind seit dem vergangenem Jahr dabei, zuvor hatte Nadja Mau
       17 Jahre lang das Karnevalbüro geleitet. Doch nachdem der Karneval aufgrund
       der Pandemie zweimal abgesagt wurde, hörte Mau als Leiterin auf. Und auch
       die Zahl der Ehrenamtlichen hat sich verringert: Während vor vier Jahren
       noch 70 bis 80 Gruppen mitmachten, sind es dieses Jahr nur noch knapp 50.
       
       Manche Vereine haben sich in den drei Jahren Pandemiepause aufgelöst, es
       gab allgemein weniger Bewerbungen, die finanzielle und politische Lage hält
       manche zurück. So spielte ein Künstler 2019 in der sogenannten Musiccorner
       russische Musik. Dieses Jahr sagte er von sich aus ab, angesichts der
       russischen Invasion in der Ukraine traue er sich nicht, aufzutreten.
       
       ## Gruppen definieren Kulturbegriff auch anders
       
       Auch sonst haben Binger und Hepp mit diversen Problemen zu kämpfen. Das
       Fest ist ein öffentlich gefördertes Projekt, doch dieses Jahr fallen die
       finanziellen Mittel knapper aus. Das Budget, eine Million Euro vom Senat
       sowie eine halbe Million Euro Einnahmen durch das Straßenfest, reichen
       nicht für die ursprünglich geplante Länge des Umzugs; um Kosten für das
       Sicherheitspersonal einzusparen, wurde die Strecke gekürzt.
       
       Dennoch könnte der Publikumsandrang gleich bleiben oder gar höher liegen
       als in den Jahren vor der Pandemie. Binger und Hepp machen sich darum
       Sorgen um den Schutz der Teilnehmenden. Und dann gibt es noch das Image des
       Karnevals, das sie gerne zurechtrücken wollen.
       
       „Am Anfang ging es um die Anerkennung von unterschiedlichen Kulturen,
       häufig auch auf die Herkunft bezogen“, sagt Binger. „28 Jahre später
       sprechen wir von einer postmigrantischen Gesellschaft, die den
       Kulturbegriff auch ganz anders definiert. Sie wollen das, was sie
       praktizieren, in Form von Kunst auf die Straße bringen. Das muss dann gar
       nicht mehr herkunftsbezogen sein. Das sind dann Gruppen, die aus
       unterschiedlichen Begegnungen etwas Neues kreieren.“
       
       ## In erster Linie dabei, weil es Spaß macht
       
       Zu Letzteren gehört das kolumbianische Canoafolk, aber auch die Grupo Chile
       Berlin, bei der Felix Perder mitmacht. Sechs Mitglieder sind bereits am
       Proben, als Perder fast 40 Minuten zu spät angehetzt kommt. Ein Mitglied
       namens Claudio Rivera gibt auf Spanisch die Schritte an, die anderen folgen
       ihm. Der Probenraum ist eng, es gibt nicht viel Platz zum Tanzen, aber für
       die sieben Leute, die sich am Freitagabend zum Üben versammelt haben,
       reicht er aus.
       
       „Es gibt auch Gruppen, die ganz explizite politische Botschaften haben. Wir
       hingegen drücken sie durch unsere Performance aus“, erklärt Perder. „Ich
       bin in erster Linie dabei, weil wir eine tolle Freundesgruppe sind und das
       mit den Leuten super klappt.“
       
       Auf die Frage, ob sie Rassismus oder Diskriminierung erlebt hätten,
       antworten die Gefragten aus der Grupo Chile Berlin, das sie nicht so.
       Vielmehr ist es der Spaß an der Aufführung, der sie zum Mitmachen
       motiviere.
       
       Zuerst probt die Gruppe ohne Musik, Rivera gibt dafür den Rhythmus vor.
       Irgendwann schalten sie eine Volksmusik dazu, zu der sie schnelle
       Trippelschritte tanzen. Mit Blick auf die Mitglieder erklärt Perder, dass
       Grupo Chile Berlin jahrelang vor allem Cueca getanzt hätte, einen
       chilenischen Paar- und Nationaltanz. Im diesjährigen Karneval widmet sich
       die Gruppe allerdings einem Volkstanz aus Chiloé, einer Insel im Süden
       Chiles. Sie seien auf die Idee gekommen, nachdem sie Chiloé besucht und
       dort die Schritte beigebracht bekommen haben, sagt Perder. Deswegen sind
       die Schritte noch neu.
       
       ## Geweint, weil zum ersten Mal richtig repräsentiert
       
       „Es gibt innerhalb Chiles ein Bild von den Chiloten, also den Bewohnern von
       Chiloé, dass sie weitab vom Schuss leben“, erklärt Perder. „Die Kleidung
       von Chiloé wird in Zentralchile überspitzt präsentiert, mit dicken
       Wollsocken und Mützen. Als wir mit Chiloten gesprochen haben, haben wir
       gemerkt, dass sie sich klischeehaft dargestellt fühlen und in solchen
       Outfits nicht ihre Tänze tanzen.“ Es sei der Gruppe daher wichtig, dass
       sich niemand aus der Region auf den Schlips getreten fühlt.
       
       Deshalb fragte Grupo Chile Berlin Bekannte aus Südchile um Rat, man sah
       sich Videoaufnahmen zu den Tänzen und Kostümen an und hielt Rücksprache. Im
       vergangenen Jahr traten sie mit ihrer Aufführung auf einer Veranstaltung in
       Nürnberg auf. „Eine Frau im Publikum hat uns gesehen und geweint“, sagt
       Perder und lächelt. „Sie kam von Chiloé und hatte noch nie gesehen, dass
       der Süden von Chile so dargestellt wird, wie wir ihn gezeigt haben. Sie war
       total gerührt, war glücklich, nicht nur, weil wir es gezeigt haben, sondern
       weil das alles nicht so überzogen dargestellt wurde.“
       
       Dass Perder als Deutscher mittanzt, stört die Gruppe nicht. „All of us love
       Felix“, sagt Rivera, der die Choreografie anführt. Perder kümmere sich um
       Verwaltungsaufgaben, um den Chilen:innen die Kreativität zu überlassen.
       „Anfangs hatte ich gedacht, die Chilenen könnten sauer sein, wenn man
       ‚ihre‘ Cueca nicht perfekt tanzt“, erklärt Perder. Diese Kritik habe er
       aber nie zu hören bekommen: „Die Leute finden das toll, dass ich auch als
       Deutscher Cueca tanze. Sie sehen, ich habe es geübt und gebe mir Mühe.“
       
       ## Über Straßen hinweg tanzen
       
       Zurück in Prenzlauer Berg, geht die kolumbianische Gruppe Canoafolk runter
       vom Arnswalder Platz. Der sandige Boden sei nicht ideal zum Üben, erklärt
       ein Mitglied. Stattdessen läuft die Gruppe hundert Meter weiter, auf den
       Fußgängerweg, und schaltet die Musik wieder an. Mit langsamen
       Vorwärtsschritten überquert Canoafolk die Straße vor dem Park,
       Fußgänger:innen und Fahrradfahrende verlangsamen ihren Gang, manche
       bleiben stehen und schauen gebannt zu.
       
       Da sich die Gruppe nach vorne bewegt – ganz wie der Fluss, der nicht auf
       der Stelle stehen bleibt – muss ein Mitglied einen Lautsprecher auf dem Arm
       mit sich herumtragen, wie eine gigantische Einkaufstüte. Aus der Box tönt
       elektronische Musik, kombiniert mit Trommeln.
       
       Ein Blick auf die Playlist verrät: Das eine Stück stammt von einem
       elektronischen Künstler, das andere von einer Gruppe, die afro-indigene
       Musik aus Belize und Honduras macht. Den Tanz hat Rocío Klug-Correa an
       einen Volkstanz angelehnt, der speziell an der pazifischen Küste Kolumbiens
       praktiziert wird. „Wir tanzen auch viel Salsa“, erklärt sie. „Aber eben
       nicht nur das.“
       
       ## Indien im Herzen
       
       Doch auch die Gruppen, die auf den ersten Blick ganz klassisch eine Kultur
       repräsentieren, sind nicht so homogen, wie sie vielleicht scheinen. Die
       Gruppe „Berlin Indiawaale“ besteht aus etwa 70 Frauen, Kindern und Männern,
       die bei ihren Auftritten bunte, „klassisch indische“ Kostüme tragen, die
       Frauen und Mädchen haben einen Bindi, einen aufgemalten roten Punkt,
       zwischen die Augenbrauen geschminkt, wie es bei Hindu-Frauen üblich ist.
       
       Zehn von ihnen erscheinen am Montag bei der [6][Vorab-Pressekonferenz des
       Karnevals], und dabei sind auch ein paar deutsche Frauen, sie sind nicht
       kostümiert und geschminkt, und stechen – auch mit ihrem blassen Teint – ein
       wenig aus der Gruppe aus. Was machen sie bei einer indischen Gruppe?
       
       „[7][Wir lieben Indien]“, erklärt Anja Arif, die mit einem Inder
       verheiratet war, inzwischen aber verwitwet ist. Diese Liebe solle auch der
       Name der Gruppe ausdrücken, Indiawaale bedeute so viel wie „Indien im
       Herzen“, erklärt sie.
       
       Seit 2014 ist Berlin Indiawaale beim Karneval dabei, 2019 haben sie den
       Preis für die beste Choreografie und den besten Tanz gewonnen – sie sind
       also Titelverteidiger. Was die Gruppe beim Karneval vorstellt, ist – den
       Kostümen entsprechend – „klassisch indisch“, könnte man sagen. „Wir sind in
       Gruppen unterteilt, die verschiedene Teile Indiens repräsentieren und
       unterschiedliche Tänze aufführt“, erklärt Abhimnaya, eine junge Frau.
       Getanzt wird dieses Jahr unter anderem Bhangra, ein Tanz aus Punjab, dann
       Garba, ein Tanz aus der Region Gujarat – und natürlich gibt es einen Tanz
       im Stil „Bollywood“.
       
       Dass mit solchen Darstellungen – wie überhaupt mit dem Karneval – vor allem
       Klischees transportiert werden, findet Tara, eine weitere deutsche
       Indienliebhaberin, überhaupt nicht. „Alle Menschen haben ihre Freude und
       ihre Ausdrucksweise über Tanz, über Musik, über Kultur“, sagt sie. „Und
       beim Karneval stellen alle Gruppen – ausgenommen vielleicht die politischen
       Gruppen – ihre Kultur durch Tanz, durch Musik da – das ist was, was
       universell verbindet.“
       
       Mitarbeit: Susanne Mermarnia
       
       26 May 2023
       
       ## LINKS
       
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