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       # taz.de -- Expertin über Medien und Suizid: „Nachahmungseffekte verhindern“
       
       > Der Verein „Freunde fürs Leben“ informiert auf sämtlichen Medienkanälen
       > über mentale Gesundheit. Warum sie das aber nicht auf Tiktok tun.
       
   IMG Bild: Diana Doko vom Verein „Freunde fürs Leben“
       
       taz: Frau Doko, seit 23 Jahren klären Sie mit Ihrem Verein „Freunde fürs
       Leben“ über [1][Depressionen] auf. Warum machen Sie das? 
       
       Diana Doko: Unsere Arbeit entstand aus persönlicher Betroffenheit: Mein
       Bruder hat sich in Folge seiner Depressionserkrankung das Leben genommen,
       bei meinem Kollegen Gerald Schömbs war es seine Freundin. Beide haben wir
       danach erlebt, dass Leute unfähig waren, uns darauf anzusprechen, nicht aus
       Böswilligkeit, sondern aus Unwissenheit. Depression ist eine der häufigsten
       Krankheiten – jedes Jahr nehmen sich in Deutschland mehr als 9.000 Menschen
       das Leben – und trotzdem ist es ein Tabuthema. Weil es nicht auf der
       gesundheitspolitischen Agenda steht. Das zu ändern ist unser politisches
       Anliegen.
       
       Heißt das, es gibt [2][zu wenige Anlaufstellen] für Betroffene oder
       Therapien? 
       
       Vor allem gibt es kaum Aufklärung und kaum Wissen darüber, an welchen
       Anzeichen man eine Depression erkennt und dass es nicht einfach nur
       schlechte Laune oder eine Phase der Trübsal ist, sondern eine
       ernstzunehmende Erkrankung – die aber behandelbar ist. In Großbritannien
       oder den USA gibt es im öffentlichen Raum Plakatkampagnen. In Deutschland
       findet man Aufklärungsmaterial nur bei wenigen, spezialisierten
       Anlaufstellen – oder bei uns. Wir bieten auf unserer Website kostenloses
       Infomaterial zum Download an, für Lehrer*innen, Eltern,
       Jugendeinrichtungen, Kinderarztpraxen. Die Nachfrage ist riesig.
       
       Sie geben auch Workshops an Schulen. Ist bei jungen Leuten mehr
       Sensibilität für seelische Erkrankungen da als in den Generationen, in
       denen Depression als Zeichen von Schwäche galt? Immerhin liegen Achtsamkeit
       und mentale Gesundheit seit ein paar Jahren im Trend? 
       
       Grundsätzlich ist es gut, dass das Thema mentale Gesundheit mehr in den
       Medien, vor allem in den sozialen Medien thematisiert wird. Aber es ist
       andauernd von Triggerwarnung oder dergleichen die Rede, oft auf eine
       oberflächliche Art, die eher gefährlich ist. Wenn Influencer darüber
       sprechen, wie depri sie sind, weil sie sich gerade nicht so fühlen, ist das
       ein Schlag ins Gesicht für alle, die wirklich diese Diagnose haben.
       
       Es gibt auch Angebote, die ernsthaft über mentale Gesundheit aufklären,
       etwa der ADS-Podcast „Kirmes im Kopf“, der Depressionspodcast „Jung und
       Freudlos“ – oder Ihr Podcast „Kopfsalat“. Wen erreichen solche Formate? 
       
       Die Podcasts, in denen wir Expert:innen und Betroffene zu Wort kommen
       lassen, erreichen Erwachsene, Studierende. Auf unserem Youtube-Kanal
       frnd.tv haben wir mehrere Formate: für die MTV-Generation das Format „Bar
       Talk“ mit Marcus Kavka und Gästen wie Nora Tschirner oder Megaloh. Ein
       weiteres Interviewformat auf frnd.tv ist „Laut gedacht mit“ Gästen wie
       Klaas Heufer-Umlauf oder Luna. Jugendliche erreichen wir auf Instagram.
       Dort haben wir einen Kanal mit mehr als 22.000 Followern, in den wir viel
       Redaktionsarbeit stecken. Im Videoformat namens Real Talk etwa erklären wir
       in drei Minuten: Depression, was ist das? Wer kann es kriegen? Wie kann ich
       helfen, wenn jemand nicht mehr leben will?
       
       Die meisten Jugendlichen dürften eher auf Tiktok unterwegs sein … 
       
       Dort sind wir bewusst nicht – noch nicht. In unserer Ansprache vermeiden
       wir das Wort Suizid nicht, wir sagen: Es ist normal, dass du auch mal
       Suizidgedanken hast. Dadurch könnten wir auf Tiktok auch in Suizidforen
       landen.
       
       … also Gruppen, in denen sich Menschen treffen, die sich wirklich umbringen
       wollen. Ist das nicht Ihre Zielgruppe? 
       
       Absolut! Wir möchten sie gerne mit positiven Angeboten erreichen – aber
       immer wenn sie merken, dass man sie gefunden hat, ändern sie einen
       Buchstaben und ziehen weiter. Das Problem bei Tiktok ist: Wenn jemand sich
       für Depression interessiert oder für Suizid, dann kriegt er oder sie nur
       noch solche Videos vorgeschlagen. Das ist gefährlich. Wir sind deshalb
       bereits im Gespräch mit Agenturen, die für Tiktok tätig sind – aber solange
       der Algorithmus nicht gebrochen werden kann, finden wir es nicht
       verantwortbar, dort aufzutreten.
       
       Apropos Verantwortung: Auch Medien haben eine gewisse Scheu davor, über
       Suizide zu berichten. Man fürchtet den Werther-Effekt, also eine
       Nachahmungswelle. Ist da was dran? 
       
       Diesen Effekt gibt es, aber er wird stark überschätzt. Man sollte mehr über
       den Papageno-Effekt reden, der auch wissenschaftlich bestätigt ist: Je mehr
       man darüber redet und das Umfeld sensibilisiert, desto weniger allein fühlt
       sich die Person, der es schlecht geht. Der Papageno aus Mozarts Zauberflöte
       will sich umbringen. Aber seine drei Freunde helfen ihm. Für die Medien
       heißt das: Berichten ja, aber verantwortungsvoll. Nach dem Suizid des
       Sängers Kurt Cobain gab es in den Medien keine Detailinformationen über
       seinen Tod, sodass es auch keine Nachahmungseffekte gab. Im Unterschied zum
       Tod des Fußballlers Robert Enke oder des Schauspielers Robin Williams.
       Medien können durch ihre Berichterstattung Nachahmungseffekte verhindern.
       
       Was ist denn nun der Unterschied zwischen schlechter Laune und Depression? 
       
       Es gibt ein paar Hauptsymptome: gedrückte Stimmung, Interessen- oder
       Freudlosigkeit, Erschöpfung, Ess- und Schlafstörungen, Hoffnungslosigkeit.
       Wenn einige davon über mehr als zwei Wochen anhalten, handelt es sich
       höchstwahrscheinlich um eine Depression. Um die festzustellen, muss man
       übrigens nicht gleich zum Psychologen oder Psychiater, der Gang zum
       Hausarzt reicht. Die Diagnosemethoden sind recht gut entwickelt.
       
       Freunde fürs Leben e.V. versteht sich als eine Art Kommunikationsagentur
       für die Themen mentale Gesundheit, Depression und Suizid. Auf der Website
       frnd.de, sowie auf diversen Social-Media-Kanälen und Podcasts werden Wissen
       und Informationen verbreitet. 
       
       Kreisen Ihre Gedanken darum, sich das Leben zu nehmen? Sollten Sie von
       Selbsttötungsgedanken betroffen sein, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe.
       Bei der Telefonseelsorge finden Sie rund um die Uhr Ansprechpartner, auch
       anonym. Rufnummern: 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222
       
       1 Jun 2023
       
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