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       # taz.de -- Shoa-Museum der Warschauer Ghettokämpfer: Viel jüdisches Blut und Tränen
       
       > 1943 leistete die jüdische Jugend im Warschauer Ghetto Widerstand. Zivia
       > Lubetkin gründete mit anderen Ghettokämpfern das erste Museum der Shoa.
       
   IMG Bild: Die Ghettokämpfer Zivia Lubetkin und Yitzhak Zuckerman heirateten und lebten zusammen im Kibbuz
       
       Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sahen sich auch in Osteuropa Jüd:innen mit
       einem immer zügelloser um sich greifenden Antisemitismus konfrontiert.
       Infolge dessen politisierte sich die junge Generation von Jüd:innen stark
       und organisierte sich in Jugendorganisationen verschiedener politischer
       Strömungen. Auch [1][die spätere Widerstandskämpferin Zivia Lubetkin]
       schloss sich schon in jungen Jahren der sozialistisch-zionistischen
       Bewegung „Freiheit“ an, die später unter dem Namen „Dror“, Hebräisch für
       Freiheit, operierte.
       
       Im Herbst 1940, ein Jahr nach dem Überfall des nationalsozialistischen
       Deutschlands auf Polen, errichteten die Deutschen in Warschau ein jüdisches
       Ghetto. Fast 30 Prozent der Bevölkerung der Stadt wurde auf nur 2,4 Prozent
       ihrer Fläche eingesperrt, [2][es grassierte der Hunger, Krankheiten wie
       Typhus verbreiteten sich schnell.]
       
       ## Illegale Schulen für Kinder
       
       Trotz der Verzweiflung, die im Ghetto herrschte, blieben viele
       Jugendorganisationen weiterhin aktiv. Anführer:innen der
       Jugendbewegungen, die zu Beginn des Krieges in die Sowjetunion geflohen
       waren, kehrten aus Pflichtgefühl gegenüber ihren Organisationen und der
       jüdischen Bevölkerung in die besetzten Gebiete zurück, wo nicht wenige
       später brutal ermordet wurden. Auch Zivia Lubetkin und Yitzhak Antek
       Zuckerman kamen nach Warschau zurück, um gemeinsam mit anderen
       „Dror“-Mitgliedern Suppenküchen und illegale Schulen für Kinder zu
       organisieren.
       
       In ihren Memoiren beschreibt Lubetkin, wie die Jugendbewegungen der
       sozialen Kälte, die sich unter den Menschen in Not ausbreitete, etwas
       entgegenzusetzen versuchten: „Allein die Tatsache, dass es in einer Zeit,
       in der jeder um sein eigenes Leben und seinen Lebensunterhalt kämpfen
       musste, oft auf Kosten anderer, noch Gruppen gab, die menschliches
       Mitgefühl und gegenseitige Hilfe praktizierten und daran glaubten; die das
       teilten, was sie selbst zufällig besaßen, reichte aus, um uns
       aufrechtzuerhalten und unsere menschliche Würde zu bewahren, die nach dem
       Bild Gottes geschaffen wurde.“
       
       ## Jugendlicher Widerstand im Ghetto
       
       Die Jugendorganisationen erahnten schon früh die Absicht der Deutschen, die
       jüdische Bevölkerung im Ganzen auszulöschen, und begannen, sich auf
       bewaffneten Widerstand vorzubereiten. Nachdem deutsche SS- und
       Polizeieinheiten im Sommer 1942 etwa 265.000 Ghettobewohner:innen aus
       Warschau nach Treblinka deportierten, schlossen sich im November desselben
       Jahres linke jüdische Jugendorganisationen zur Jüdischen Kampforganisation
       (ŻOB) zusammen.
       
       Als die Deutschen im Januar 1943 erneut Deportationen durchführten,
       stellten sich ihnen zum ersten Mal Jugendliche und junge Erwachsene mit
       wenigen Waffen entgegen, darunter auch Yitzhak Antek Zuckerman und die
       28-jährige Zivia Lubetkin, die als einzige Frau zur Führungsriege der
       Aufständischen zählte.
       
       Die Jüdische Kampforganisation wurde zur neuen inoffiziellen Führung des
       Ghettos, viele Jugendliche schlossen sich dem Widerstand an. Als am 19.
       April 1943 SS- und Polizeieinheiten in das Ghetto einfielen, um die
       verbliebene Bevölkerung zu deportieren, warteten überall im Ghetto
       versteckte Einheiten der ŻOB auf die mit Panzern vordringenden Deutschen.
       
       ## Sie fühlten in sich Jubel
       
       Unter den Kämpfenden war auch Zivia Lubetkin. Fast 20 Jahre später
       berichtete sie im Eichmann-Prozess von der Bedeutung des Aufstands für den
       Stolz der jüdischen Jugendlichen: „Wir wussten, dass unser Ende gekommen
       war. Wir wussten im Voraus, dass sie uns besiegen würden, aber wir wussten
       auch, dass sie einen hohen Preis für unser Leben zahlen würden. Und das
       taten sie auch.
       
       Es ist schwer zu beschreiben, und es wird sicherlich viele geben, die es
       nicht glauben werden, aber als die Deutschen sich dem Fuß eines unserer
       Stützpunkte näherten und in Formation vorbeizogen, und wir die Bomben und
       Handgranaten warfen und wir sahen, wie deutsches Blut in den Straßen
       Warschaus floss, nachdem zuvor so viel jüdisches Blut und Tränen in den
       Straßen Warschaus geflossen waren – da fühlten wir in uns einen großen
       Jubel, und es war nicht wichtig, was am nächsten Tag geschehen würde.“
       
       Trotz der Verluste, die die etwa 800 ŻOB-Kämpfer:innen den Deutschen
       zufügen konnten, waren sie unterlegen. Als die Deutschen am dritten Tag
       begannen, das Ghetto von allen Seiten anzuzünden, gelang es einigen
       Untergrundkämpfer:innen, sich in versteckte Bunker zurückzuziehen und den
       Widerstand noch einige Wochen aufrechtzuerhalten, während die SS nach und
       nach Verstecke aufspürte und die letzten Bewohner:innen des Ghettos
       ermordete. Am 16. Mai 1943 sprengten die Deutschen symbolisch die Große
       Synagoge von Warschau und erklärten das Ghetto für aufgelöst.
       
       ## Das erste Holocaust-Museum der Welt
       
       Zivia Lubetkin gelang es, mit einigen anderen Kämpfer:innen durch die
       Kanalisation aus dem Ghetto zu fliehen. Gemeinsam mit Yitzhak Antek
       Zuckerman kämpfte sie von August bis Oktober 1944 im Warschauer Aufstand
       gegen die deutsche Besatzung.
       
       Nach dem Krieg halfen beide, die Emigration von Jüd:innen in das
       britische Mandatsgebiet Palästina zu organisieren und bauten Strukturen
       ihrer Jugendorganisationen in Osteuropa wieder neu auf. Im Juni 1946 gelang
       Lubetkin die Emigration in das Mandatsgebiet, Zuckerman kam im Jahr darauf
       nach. Die beiden heirateten. 1949 gründeten sie gemeinsam mit anderen
       Überlebenden der Shoa im westlichen Galiläa den Kibbuz Lohamei Hagetaot
       (Kibbuz der Ghettokämpfer), in dem sie den Rest ihres Lebens bleiben
       sollten. Bereits im ersten Monat errichteten sie auch das Ghetto Fighters’
       House, das erste Holocaust-Museum der Welt.
       
       ## Noch heute am selben Ort
       
       Die Mitglieder des Kibbuz wohnten noch in Zelten oder Hütten, während die
       erste Ausstellung, bestehend aus Fotos und Objekten, in einem kleinen
       Steinhaus gezeigt wurde. Das Ghetto Fighters’ House besteht noch heute am
       selben Ort, es ist in den letzten 74 Jahren zu einem größeren Gebäude mit
       einem Archiv, einer kleinen Bibliothek und mehreren Ausstellungsräumen
       angewachsen.
       
       Noam Rachmilevitch arbeitet seit 19 Jahren im Archiv des Ghetto Fighters’
       House. Er stellt Nachforschungen zu Biografien von Familien an und sorgt
       dafür, dass die Sammlung an Material für die Holocaustforschung zugänglich
       wird. „Das Ghetto Fighters’ House wurde von den Kibbuz-Mitgliedern mit
       einem ganz bestimmten Ziel gegründet: die neuen Generationen mit
       sozialistischen und humanistischen Werten für eine bessere Welt zu
       unterrichten“, sagt er.
       
       ## Ein Thema, das zu wenig Ausdruck findet
       
       Die Gründer:innen des Museums hätten bewegende Geschichten hinter sich.
       „Einige von ihnen waren bei den Partisanen, einige waren
       Ghetto-Kämpfer:innen, alle trugen einen Schmerz mit sich.“ Neben stetig
       wechselnden Ausstellung zu Kunst des Holocausts – aktuell etwa über den
       Künstler Joseph Wisnia – liegt ein besonderer Fokus des Ghetto Fighters’
       House auf Yad Leyled, dem Kindermuseum. In Erinnerung an die anderthalb
       Millionen im Holocaust ermordeten Kinder wird dort jungen Menschen nach
       Altersstufen unterteilt das Thema der Shoa nähergebracht, etwa indem sie
       mit Zeitzeug:innen sprechen, die den Holocaust selbst als Kinder
       erlebten.
       
       Das Ghetto Fighters’ House organisiert zudem Vortragsreihen zu neuen
       Erkenntnissen der Holocaustforschung. Noam Rachmilevitch betont, dass dabei
       auch Bereiche angesprochen werden, die wenig Aufmerksamkeit erhalten: „Ein
       Thema, das zu wenig Ausdruck findet, ist zum Beispiel der Missbrauch von
       jüdischen Frauen und Kindern während der Shoa.“
       
       Lange hätten Frauen aufgrund von Stigmatisierung nicht darüber sprechen
       wollen, was ihnen geschehen war. „Man konnte also über die Grauen des
       Holocaust sprechen, aber über sexuellen Missbrauch wurde geschwiegen. Dabei
       geschah es überall“, sagt der Archivar. „Wir würden uns wünschen, dass
       dieses Thema von der Holocaustforschung noch mehr beachtet wird.“
       
       ## Lernen für die Zukunft
       
       Bis heute ist das Ghetto Fighters’ House zur Hälfte Eigentum des Kibbuz
       Lohamei Hagetaot, deren Bewohner:innen, die Nachkommen der
       Ghettokämpfer:innen, dadurch auch Einfluss auf die Bildungsprogramme des
       Museums nehmen können.
       
       Nicht weit vom Museumsgebäude befindet sich der Friedhof des Kibbuz, auf
       dem auch die 1978 verstorbene Zivia Lubetkin begraben ist. Als eine der
       wenigen Überlebenden des Aufstands im Warschauer Ghetto vor 80 Jahren war
       es ihr Anliegen, künftigen Generationen die Wichtigkeit von Stolz und
       Solidarität auch unter unerträglichen Umständen zu vermitteln: „Wir
       wollten, dass ihr es wisst, nicht nur um der Geschichte willen, sondern
       auch für die Zukunft. Erinnert euch an die Vergangenheit und lernt für die
       Zukunft.“
       
       Das Archiv des Ghetto Fighters’ House ist zum größten Teil [3][online
       zugänglich] und freut sich über Zusendungen von Dokumenten wie Briefen oder
       Tagebüchern aus der NS-Zeit, auch von deutscher Seite.
       
       24 May 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Historiker-ueber-Jugend-im-Warschauer-Ghetto/!5850165
   DIR [2] /Schriften-aus-dem-Warschauer-Ghetto/!5885495
   DIR [3] https://www.gfh.org.il/eng/Archive
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Rosa Budde
       
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