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       # taz.de -- Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft: Lange Nacht mit prekärer Forschung
       
       > Beschäftigte an den Unis wollen mit Protestaktionen zur Langen Nacht der
       > Wissenschaften auf ihre schlechten Arbeitsbedingungen aufmerksam machen.
       
   IMG Bild: Neben Raum für Kreativität und Experimente gehört auch Ausbeutung zum Traumjob Forscher*in
       
       Berlin taz | Am kommenden Samstag laden Berlins Universitäten zur 21.
       Langen Nacht der Wissenschaften. Viele Forschungseinrichtungen öffnen ihre
       Türen, über 2.000 Veranstaltungen sind geplant. Berlin möchte in der
       „klügsten Nacht des Jahres“, wie es auf der Senatswebsite heißt, die Stadt
       als Ort der Forschung und Innovation präsentieren. „Mich macht das wütend“,
       sagt Barbara Orth. „Für uns ist im Grunde jede Nacht die lange Nacht der
       Wissenschaften.“
       
       Orth ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin.
       In der Geografie schreibt sie gerade ihre Doktorarbeit. „Auf der Langen
       Nacht der Wissenschaften werden Dinosaurier und Co. als tolle
       Forschungsarbeit verkauft, aber dabei wird vergessen, unter welchen
       Bedingungen die Forschung stattfindet“, sagt sie und fügt hinzu: „Ich kenne
       Leute, die haben in fünf Jahren 17 befristete Stellen. Dazu gibt es viele
       Überstunden, Konkurrenzdruck und deshalb höhere Burnout-Raten als in
       anderen Berufsgruppen.“
       
       Und es gebe noch ein weiteres gravierendes Problem. „Wir haben keine Chance
       auf eine richtige Lebensplanung. Bis Ende 30, Anfang 40 haben wir nur
       befristete Verträge. Danach gibt kaum etwas Langfristiges an den Unis.“,
       sagt Orth. Die meisten Promovierenden seien also gezwungen, entweder den
       Beruf zu wechseln oder ins Ausland gehen. Eine so prekäre Perspektive
       schließe besonders Menschen mit Pflegeverantwortlichkeiten für Kinder oder
       Angehörige aus dem Wissenschaftsbetrieb aus, erklärt Orth. [1][Oder
       Menschen, die sich eine solche „Selbstausbeutung nicht leisten können“.]
       
       Das Kernproblem für die Wissenschaftlichen Mitarbeitenden der Hochschulen
       ist das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (kurz: WissZeitVG). Das schreibt
       vor, dass WiMis – wie die Arbeitenden in Forschung und Lehre abgekürzt
       werden, die nicht Professor*innen sind – vor und nach ihrer Promotion
       jeweils maximal sechs, also insgesamt zwölf Jahre befristet beschäftigt
       werden dürfen. Danach müssen sie in eine unbefristete Stelle wechseln oder
       dürfen bundesweit nicht mehr forschen und lehren.
       
       Das Bundesamt für Bildung und Forschung verspricht sich davon
       Innovationskraft, erntet dafür aber [2][bereits seit Jahren Kritik im
       Netz.] An den Unis ist ein bundesweiter Zusammenschluss entstanden, der
       versucht aufzuklären und politischen Druck zu erzeugen. [3][Das Netzwerk
       für Gute Arbeit in der Wissenschaft.]
       
       ## Tarifverhandlungen stehen an
       
       Barbara Orth ist Teil des Netzwerks und plant gemeinsam mit ihren
       Kolleg*innen eine Aktion am Samstagabend – parallel zur langen Nacht der
       Wissenschaften – um 18 Uhr in Berlin. „Details kann ich noch nicht
       verraten. Aber das ist auch nur ein Teil unserer Arbeit“, sagt sie. Sie
       versuchten in Berlin gerade eine neue Vernetzung aufzubauen und sich fester
       zu organisieren. „Es ist nicht so, dass das Problem nicht klar ist, sondern
       dass wir nicht gehört werden, zu wenig Macht haben“, sagt sie. „Das jetzt
       so eine Aktionswoche stattfindet, stimmt mich aber hoffnungsvoll, dass wir
       mehr werden und etwas verändern können.“
       
       Auch eine weitere Gruppe Beschäftigter im Hochschulbetrieb ist dabei, sich
       zu organisieren, und plant ebenso eine Aktion für Samstagabend, 18 Uhr.
       „Wir machen vor der HU eine Kundgebung gegen prekäre Arbeitsverhältnisse in
       der Wissenschaft an sich“, sagt Louis von [4][TV-Stud Berlin]. Die Gruppe
       organisiert studentische Beschäftigte, um die Einhaltung und Erhöhung des
       studentischen Tarifvertrages (gleichnamig: TV-Stud) einzufordern.
       
       „520 Euro im Monat sind zu wenig, vor allem wenn das durchschnittliche neu
       vermietete WG-Zimmer 640 Euro kostet.“, sagt er. Ganze Bevölkerungsgruppen
       – gerade Arbeiter*innenkinder und Studierende, die als Erste in ihrer
       Familie den Schritt an die Uni gemacht haben – würden so direkt wieder aus
       der Wissenschaft ausgeschlossen, erklärt Louis.
       
       Ein Hebel zur Verbesserung der prekären Gehälter ist in diesem Jahr
       greifbar. Der TV-L, also der Tarifvertrag, der bundesweit die Gehälter der
       Beschäftigten in Lehre und Forschung regelt und an dem auch der TV-Stud
       hängt, wird im Herbst neu verhandelt. Für Louis sei klar, dass
       Zugeständnisse der Arbeitgeberseite nicht ohne Kämpfe dafür zu erwarten
       sind. „Wir sind dabei uns zu organisieren, in Berlin und bundesweit.“
       
       15 Jun 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.ites-werkstatt.de/ichbinhanna/
   DIR [2] /Arbeitsbedingungen-in-der-Wissenschaft/!5776997
   DIR [3] https://mittelbau.net/
   DIR [4] https://tvstud.berlin/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tobias Bachmann
       
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