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       # taz.de -- Italienische Comic-Serie auf Netflix: Römische Nächte mit Schnabeltier
       
       > Ex-Premier Berlusconi, Prekarität und die Widersprüche der Realität: Die
       > neue Serie des linken italienischen Zeichners Zerocalcare ist da.
       
   IMG Bild: Kein Bösewicht: Der Comickünstler Zerocalcare wie er sich selbst zeichnet
       
       Das Timing ist perfekt. Gleich am Anfang der ersten Folge von „Questo mondo
       non mi renderà cattivo“ – eine offizielle Übersetzung des Titels habe ich
       nicht gefunden, es gibt auch keine deutsche Tonspur: besser so! – taucht
       der gerade verstorbene Silvio Berlusconi auf. Protagonist Zero trifft
       seinen aus der Vorgängerserie bekannten Freund und professionellen
       Onlinepoker-Spieler Zecco auf der Parkbank im römischen Vorstadtviertel.
       Mit Zecco zu telefonieren findet Zero zu riskant, sie haben
       hochphilosophische bis tief obszöne Dinge zu besprechen. Und hat nicht
       Berlusconi gesagt, dass in Italien jedes Telefonat abgehört würde (was
       stimmt)?
       
       Der Altpunk Zero, der antifaschistische Hänger Zecco – und dann der begabte
       Großkriminelle: Weiter lässt sich der Bogen einer Erzählung über das
       gegenwärtige Italien nicht spannen. Der Auftritt des konkreten Bösen zu
       Beginn der sechsteiligen Zeichentrickserie mit dem Titel „Diese Welt wird
       mich nicht zum Bösewicht machen“ steht für die Widersprüche, die einem
       auferlegt, was uns alle zerreißt: die Realität.
       
       Im Unterschied [1][zur ersten Netflix-Serie („An der perforieren Linie
       abreißen“, 2021)] des römisch-französischen Comiczeichner Michele Rech mit
       dem [2][Künstlernamen Zerocalcare] hat sein Protagonist Zero nun Erfolg.
       Manisch zeichnet er in seiner nicht mehr ganz so chaotischen Wohnung und
       versucht dem Titel der Serie gerecht zu werden, zwischen Telefonaten mit
       sabbernden Agenturmonstern, Verlagsnasenbären mit nikotingelben Zähnen und
       der konkreten Situation vor seiner Haustür.
       
       Dabei sind nicht nur die Faschisten das Problem, die gegen ein Heim für
       geflüchtete Menschen mobilisieren; es sind vielmehr die alten Freund:innen,
       die stagnieren, weil niemand an ihnen interessiert ist, weder an ihren
       Geschichten noch an ihrer Arbeitskraft, an ihren Ideen und Träumen. Und
       dann ist nach zwanzig Jahren als Patient und Hilfskraft in der Drogen-Reha
       auch noch der bullig-sensible Cesare plötzlich wieder da und zieht bei
       seiner alten Mutter ein. Was kann Zero für ihn tun, woran können die beiden
       anschließen, was können sie zusammen unternehmen? Gar nichts. Niemand kann
       Cesare helfen; und da kommen die Faschos ins Spiel, die einen Feind
       definieren: das Geflüchtetenheim im Viertel.
       
       ## Wunderschöne Abschweifungen
       
       Cesare wird also Fascho – und Zero steht dem genauso hilflos gegenüber wie
       dem Wandel seiner Freundin Sarah, die keine Lust mehr hat, das wie in Stein
       gemeißelte gute Gewissen des Viertels zu sein; die ihren Weg in der Welt
       sucht, bevor sie als ewig Prekäre zu alt für alles ist; die
       Grundschullehrerin werden will und nun ihre gerade errungene Anstellung
       gefährdet sieht durch den heraufbeschworenen Konflikt um das
       Geflüchtetenheim.
       
       Man kann Zerocalcares neuem Werk vorwerfen, dass hier wieder mal die alte
       linke Melancholie beschworen wird, älter noch als die Pier Paolo Pasolinis,
       als der seine Hoffnungen auf die erlösenden Fähigkeiten des römischen
       Subproletariats in den Vorstädten ( den „borgate“) nicht erfüllt sah: Der
       Kapitalismus habe die bitterarmen, aber würdevollen Peripheriebewohner in
       ihrer anthropologischen Substanz getroffen und zu reinen Konsumenten
       umgeformt. Ich finde das nicht. Es gibt Szenen, die altlinke Romantik
       anklingen lassen, aber Zerocalcare geht dann eben doch einen durchaus
       überraschenden Schritt weiter, was die Frage angeht, wer eigentlich
       Protagonist des eigenen Schicksals ist.
       
       Jenseits dieser politisch-dramaturgischen Grundlinie ist „Diese Welt wird
       mich nicht zum Bösewicht machen“ ein Werk voller wunderschöner
       Abschweifungen und bitterer Kenntlichmachungen – so wenn die
       Dumpfpopulisten der 5-Sterne-Bewegung als Schnabeltiere auftauchen, weil
       sie sich wie das eierlegende Säugetiere aus den Trümmern der Ideologien des
       20. Jahrhunderts ihre nicht-links-nicht-rechts-Weltsicht zusammengebastelt
       haben, die am Ende – oh Wunder – eben doch immer nach rechts schwenkt.
       
       Berlusconi, heißt es, hat die Italiener in ihren Schwächen erkannt und
       ihnen vermittelt: Schämt euch nicht, ich bin genauso wie ihr. Zerocalcare
       wagt den kritischen Blick in den Spiegel und fordert uns so auf, uns zu
       überlegen: Kommt es am Ende darauf an, kein Arschloch zu werden in dieser
       Welt oder sie besser zu machen?
       
       15 Jun 2023
       
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