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       # taz.de -- Drag-Künstler*innen lesen Kindern vor: Rechte Hetze trifft auf Realität
       
       > Draußen rufen Menschen „Hände weg von unseren Kindern“, drinnen lesen
       > zwei Drag-Künstler*innen Bilderbücher vor. Das wird zum Politikum.
       
   IMG Bild: Letztes Jahr blieb die Lesung völlig unbeachtet. Jetzt wurde sie im Wahlkampfjahr zum Politikum
       
       München taz | Zwei Erwachsene verkleiden sich und lesen Kindern ab vier
       Jahren aus Bilderbüchern vor. So weit, so unspektakulär. Doch die Lesung
       der Dragqueen Vicky Voyage und des Dragking Eric Big Clit in der
       Stadtbibliothek München-Bogenhausen [1][sorgte schon im Vorfeld für massive
       Diskussionen], unter anderen rief die AfD zur Demo gegen die Veranstaltung
       auf.
       
       Rund 225 Menschen stehen in einem eingezäunten Bereich auf dem
       Rosenkavalierplatz, der für doppelt so viele Personen ausgelegt ist.
       Insgesamt 445 Menschen waren auf den vier Demos gegen die Lesung „Wir lesen
       euch die Welt, wie sie euch gefällt“ der Münchener Stadtbibliotheken
       angemeldet – von der AfD, dem Anti-Abtreibungsverein „Stimme der Stillen“
       und zwei Privatpersonen, die laut Polizeiangaben zur Querdenker-Szene
       gehören.
       
       Ihre Rufe „Hände weg von unseren Kindern“ gehen aber unter in der Musik und
       den „Nazis raus“-Rufen der rund 500 Gegendemonstrant*innen, die dem Aufruf
       des Vereins „München ist bunt“ gefolgt sind.
       
       Mit dabei ist auch der katholische Priester Wolfgang F. Rothe, der zuvor
       Anzeige gegen die AfD-Plakate gestellt hatte, die in seinen Augen die
       Kriterien der Volksverhetzung erfüllen: Auf dem entsprechenden Plakat ist
       ein blonder Junge zu sehen, im Hintergrund ein geschminkter Mann, der nach
       dem Kind greift. Auch Dragqueen Vicky Voyage kritisiert die Plakate scharf:
       „Ich persönlich sehe da keinen Unterschied zwischen den Plakaten und denen
       von 1944.“
       
       ## Freundschaft, Lieblingstiere und Puppen
       
       Vicky Voyage ist eine der beiden Drag-Künstler*innen, die auf der Lesung
       aus queeren Kinderbüchern vorlesen: Im langen weißen Kleid, mit Elsa-Frisur
       und Krönchen tritt sie zu dem Song „Lass jetzt los“ aus dem Film „Die
       Eiskönigin“ auf. Gemeinsam mit dem Dragking Eric Big Clit (der standesgemäß
       zu dem Song „Ich will jetzt gleich König sein“ aus „Der König der Löwen“ in
       einem lilafarbenen Anzug mit Plüschtier-Fuchsmantel auftritt) sprechen sie
       mit den Kindern über Freundschaft, Lieblingstiere und -farben, Kleidung,
       Puppen und darüber, dass es okay ist, anders zu sein.
       
       Egal ob man sein Butterbrot von außen nach innen isst oder als
       Kaninchenjunge einen anderen Kaninchenjungen heiraten möchte oder als
       Prinzessin lieber eine andere Prinzessin als einen Frosch küsst.
       
       Gelesen wird aus den Bilderbüchern „Flora und der Honigkuss“ von Barbara
       Müller und Ann-Kathrin Nikolov, „Der Junge im Rock“ von Kerstin Brichzin
       und Igor Kuprin und „Ein Tag im Leben von Marlon Bundo“ von Marlon Bundo
       und Jill Twiss, sowie nach der Pause für die etwas älteren Kinder aus
       „Puppen sind doch nichts für Jungen“ von Ludovic Flamant und Jean-Luc
       Englebert und „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry.
       
       ## Letztes Jahr interessierte es niemanden
       
       „Wir haben hier im richtigen Kontext das richtige Programm präsentiert“,
       sagt Dragking Eric Big Clit, der vor allem wegen seines Künstlernamens und
       seines teils sehr expliziten Abendprogramms in der Kritik stand. Alice Moe
       Möschl, die hinter der Kunstfigur steckt, hat Soziale Arbeit studiert und
       früher in der Kinderbetreuung gearbeitet. „Wir wissen ja: Am meisten Arbeit
       machen die Erwachsenen, in diesem Falle die Politiker.“
       
       Damit spielt der Dragking auf die Debatte an, die in den letzten Wochen
       hochgekocht ist: Blieb die gleiche Lesung unter dem gleichen Titel im
       letzten Jahr unbeachtet, wurde sie im Wahlkampfjahr zum Politikum: In der
       AfD, der CSU und bei den Freien Wählern fielen die Worte
       „Kindeswohlgefährdung“ und „Indoktrination“, Politiker sprachen von
       „[2][woker Frühsexualisierung]“.
       
       [3][Aus der rechten Szene] schlug den Veranstalter*innen durch die
       große Aufmerksamkeit Hass entgegen. „Wir waren massiven Beschimpfungen und
       Bedrohungen ausgesetzt, per Mail und auch persönlich in unseren
       Bibliotheken“, sagt Bibliotheksdirektor Dr. Arne Ackermann. „Das ging sogar
       so weit, dass wir gefragt wurden, ob unsere Fenster kugelsicher sind.“
       
       ## Wegen Morddrohungen abgesagt
       
       Vicky Voyage bekam im Vorfeld der Lesung mehrere Morddrohungen. Und die
       dreizehnjährige trans Autorin Julana Gleisenberg, die eigentlich aus ihrem
       Buch „Julana, endlich ich“ lesen wollte, sagte ihren Auftritt aus
       Sicherheitsgründen ab. „Uns hat das sehr betroffen gemacht“, sagt
       Ackermann. Man müsse sich auch die Frage stellen, wie eine
       Kinderveranstaltung so sehr in den Strudel des Wahlkampfs geraten konnte
       und wer die Verantwortung für den ganzen Hass trage, der hier letztlich
       auch den Kindern entgegenschlage.
       
       Die Demonstrationen auf dem Rosenkavalierplatz bleiben friedlich, auch wenn
       die Rufe noch drinnen zu hören sind und die Lesung aus Sicherheitsgründen
       in einem kleineren Raum im oberen Stockwerk statt im Bibliothekssaal selbst
       stattfindet. In der Pause der Lesung kommt es zu einem Zwischenfall, als
       sieben Mitglieder der Identitären Bewegung es schaffen, ins Gebäude
       einzudringen. Die Polizei nimmt ihre Personalien auf und begleitet sie
       wieder hinaus. Laut einem Polizeisprecher wird Anzeige wegen
       Hausfriedensbruch gegen die Eindringlinge erstattet.
       
       Die Veranstalter*innen sind letztlich froh, dass die Lesung
       stattfinden konnte. „Wir brauchen Vorbilder, die zeigen, dass es okay ist,
       anders zu sein. Das ist die Botschaft, nicht, dass jetzt plötzlich alle
       Jungen Röcke tragen müssen.“ Denn zwischen dem, was draußen auf der Demo
       befürchtet wurde – halbnackte Drag-Künstler*innen, die mit Kindern über Sex
       sprechen – und dem, was drinnen passiert ist – Künstler*innen lesen in
       Märchenkostümen Bilderbücher mit teilweise queeren Protagonist*innen –
       liegen Welten.
       
       14 Jun 2023
       
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