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       # taz.de -- Marsch für die Oder: Den Fluss persönlich nehmen
       
       > Die Oder steht vor Problemen. Deswegen sind ein Jahr nach dem
       > katastrophalen Fischsterben Aktivisten am Fluss unterwegs, um für sie als
       > Rechtsperson zu werben.
       
   IMG Bild: Unterwegs für den Fluss: aktivistischer Protest entlang der Oder
       
       Am morgendlichen Treffpunkt des „Marschs für die Oder“ bietet der Fluss ein
       malerisches Bild. Hier am polnischen Dorf Czelin, über 600 Kilometer von
       seiner Quelle in den tschechischen Oderbergen entfernt, fließt der Fluss in
       gemächlicher Breite. Die Morgensonne spiegelt sich auf der glatten
       Oberfläche, zwei Schwäne fliegen vorbei und an den üppig bewachsenen
       Uferwiesen grast eine Herde Kühe. Die andere Uferseite sieht ähnlich
       idyllisch aus. Nur ein halb verwahrlostes Schild mit der Aufschrift
       „Granica Państwa“ – Staatsgrenze – weist darauf hin, dass dort deutsches
       Staatsgebiet beginnt.
       
       Alicja Witucka-Piskorska wartet unter der Hütte eines Wandersrastplatzes
       auf Mitstreiter:innen, die sich der heutigen Tagesetappe anschließen
       wollen. Noch ist es frisch, die 60-Jährige trägt eine graue Funktionsjacke,
       über ihrem Rucksack hängt ein selbst gemaltes Banner mit dem Titel des
       Marsches. „Osoba Odra“ steht dort mit blauen Lettern – auf Deutsch „Person
       Oder“. „Mal gucken, wer heute noch auftaucht“, sagt sie in etwas unsicherem
       Englisch.
       
       Knapp 24 Kilometer liegen heute vor uns, wo immer es geht am Ufer der Oder
       entlang. Bereits 34 Tage zuvor hat sich eine kleine Gruppe von
       Umweltaktivist:innen aufgemacht, die Oder bis zu Mündung in die
       Ostsee abzulaufen. Ihre Forderung: Ähnlich wie ein Unternehmen soll der
       Fluss als juristische Person anerkannt und mit eigenen Rechten ausgestattet
       werden. Dann, so hoffen die Umweltaktivist:innen, könnten sie und andere
       Vertreter:innen im Namen des Flusses rechtlich effektiver gegen die
       Zerstörung des Ökosystems vorgehen.
       
       Der Marsch ist daher offen gestaltet. Jeder kann mitmachen, zu den
       morgendlichen Treffpunkten zustoßen, die auf [1][der Website]
       veröffentlicht werden, und einen Tag oder mehrere mitlaufen. Länger dabei
       sind nur Marschleiter:innen wie Alicja, die sich verpflichten, eine
       mehrtägige Etappe von insgesamt rund 100 Kilometern zu laufen. Gestartet
       ist der Marsch mit 9 Leuten, bei einigen Etappen waren es sogar 40 bis 50
       Menschen. Am Tag zuvor besuchte eine Gruppe von über 20 Aktivist:innen, die
       sich in Deutschland gegen den Oderausbau einsetzten, den Marsch.
       
       Heute taucht allerdings niemand weiteres auf, zusammen mit Marta
       Granocha-Cieciwra, einer 34-jährigen Datenanalystin aus Warschau, die seit
       zwei Tagen mitläuft, bleiben wir zu dritt: „Der Marsch ist wie der Fluss,
       manchmal ist er stärker, manchmal ist er schwächer“, sagt Alicja lächelnd.
       
       Die Idee für den Marsch entstand im vergangenen Sommer als Reaktion auf das
       [2][massenhafte Fischsterben in der Oder]. Der Anblick und Gestank
       Tausender toter Fische, die zunächst ohne bekannte Ursache langsam
       verwesend auf der Oberfläche des Flusses herumtrieben, war auch in Polen
       ein Weckruf, sich ernsthafter mit dem Zustand des Flusses zu beschäftigen.
       
       „Nach der Katastrophe hatte ich das Gefühl, ich müsste etwas tun“, sagt
       Alicja. Auf Facebook sah sie einen Post des polnischen Schriftstellers
       Robert Rient mit dem Vorschlag, einen Protestmarsch für die Oder zu
       organisieren. Die kürzlich pensionierte Biologielehrerin war sofort
       begeistert und wurde mit zwei Dutzend weiteren Aktivist:innen Teil des
       Kernteams.
       
       Die Ursachen für das Fischsterben sind mittlerweile gefunden.
       Expert:innen im Auftrag des Bundesumweltamtes konnten in Proben
       massenweise das Gift der Goldalge nachweisen, einer Pflanze, die
       normalerweise nicht in Flüssen, sondern nur in deutlich salzhaltigeren
       Gewässern gedeiht. Doch durch unkontrollierte Einleitungen der Tagebaue am
       oberen Flusslauf stieg der Salzgehalt des Flusses, in Verbindung mit durch
       Klimawandel bedingtem Niedrigwasser und warmen Temperaturen kam es zu einer
       Algenblüte. Über 400 Tonnen Fisch, Muscheln und Schnecken verendeten –
       schätzungsweise die Hälfte des damaligen Bestandes.
       
       Trotz Beteuerungen der polnischen Regierung, den Salzgehalt stärker zu
       überwachen und Einleitungen schärfer zu kon-trollieren, halten es
       Expert:innen weiterhin für möglich, dass es auch in Zukunft wieder zu
       einem Massensterben kommt. Bereits Ende April kam es in einem Stausee bei
       Breslau zu einem Fischsterben, auch hier stellten die Behörden eine erhöhte
       Konzentration der Goldalge fest.
       
       Die Angst, dass sich das Sterben wiederholt, motiviert auch Marta. „Alle
       Berichte machen deutlich, dass die Minen für das Sterben verantwortlich
       sind. Doch trotzdem ist nichts passiert. Das machte mich sehr wütend“, sagt
       sie. Die Diskussionen, die die Katastrophe im vergangenen Jahr ausgelöst
       habe, seien mittlerweile abgeebbt, die Probleme würden aber weiter
       bestehen. Mit dem Marsch hofft sie, die Diskussion in Polen wieder anfachen
       zu können.
       
       Für Marta ist die Beziehung zur Oder sehr persönlich. Ihre Großeltern leben
       in Gryfino, einer Kleinstadt nahe der Mündung. „Ich habe sehr viele
       positive Erinnerungen aus meiner Kindheit an den Fluss.“ Die Katastrophe im
       vergangenen Jahr habe sie deshalb besonders schockiert.
       
       Wir laufen los, flussabwärts entlang der deutsch-polnischen Grenze. Knapp
       200 Kilometer weiter wird die Oder bei Stettin in die Ostsee münden, für
       heute reicht uns erst einmal das kleine Dörfchen Stara Rudnica als Ziel.
       Der erste Teil der Strecke führt durch einen dichtbewachsenen Wald,
       unzählige Mücken schwirren umher und freuen sich über menschliche
       Gesellschaft. In der ausgedehnten Flusslandschaft mit seinen zahlreichen
       Feuchtwiesen und Auenwäldern finden nicht nur Mücken beste Bedingungen vor
       – auch zahlreiche seltene Pflanzen- und Insektenarten wachsen hier.
       
       Die Oder gilt als eine der letzten naturnahen großen Flusslandschaften
       Mitteleuropas. Im Gegensatz zu vielen Flüssen auf deutschem Staatsgebiet
       halten sich die menschlichen Eingriffe auf den Fluss bislang noch in
       Grenzen.
       
       Staustufen, Begradigungen und Fahrrinnenvertiefungen, die den Fluss
       bändigen und somit auch schwereren Schiffen ermöglichen sollen, Waren und
       Menschen auf- und abwärts zu transportieren, gab es zwar auch hier, doch
       ein Großteil der Regulierungsmaßnahmen stammt noch aus dem 19. und frühen
       20. Jahrhundert. In der Zwischenzeit wurde die Oder weitgehend sich selbst
       überlassen, wodurch sich ein artenreiches und einzigartiges Ökosystem
       bilden konnte.
       
       Doch Schadstoffeinleitungen und Klimawandel sind nicht die einzigen
       Bedrohungen für dieses Ökosystem. Schon seit Jahren versetzten die Pläne
       der polnischen Regierung, die Oder umfassend auszubauen,
       Umweltschützer:innen in Alarmbereitschaft. Unter dem Vorwand des
       Hochwasserschutzes treibt sie die Vertiefung der Oder voran.
       
       Kurz hinter dem Dorf Gozdowice, das wir gegen Mittag erreichen, sind die
       kniehohen Uferwiesen durchbrochen von sandigen Bauwegen. Während wir
       laufen, fährt ein Laster an uns vorbei. Am Ufer stehen Bagger, neben ihnen
       riesige Geröllhaufen aus hellem Gestein; alle paar hundert Meter wiederholt
       sich die Szenerie. Statt Naturidylle wirkt die Oder hier eher wie eine
       Großbaustelle.
       
       Ein herumstehender Bauarbeiter schüttelt auf die Frage, woran er und seine
       Kollegen arbeiten, bloß den Kopf. Marta reagiert gelassen: „Die sind wie
       unsere Politiker. Bloß nicht mit den Umweltaktivisten reden, aus Angst,
       dass wir uns weiter aufregen.“
       
       Die studierte Biologin, die ehrenamtlich in einer NGO für den Erhalt von
       Flusslandschaften aktiv ist, erklärt, was es mit den Gesteinshaufen auf
       sich hat. Als erste Maßnahme, um den Fluss zu vertiefen, lasse die
       Regierung neue Buhnen bauen. Dabei handelt es sich um kleine Dämme, die in
       regelmäßigen Abständen zur Flussmitte hin verlaufen. Dadurch werde das
       Wasser im Fluss in die Mitte gedrängt, erklärt Marta. “Dadurch erhöht sich
       die Fließgeschwindigkeit in der Mitte. Die Hoffnung ist, dass der Fluss
       dadurch tiefer wird, weil mehr Sedimente abgetragen werden.“
       
       Die Vertiefung erfolgt vorgeblich, um im Winter den Einsatz von Eisbrechern
       zu ermöglichen, welche die Gefahr von einem durch Eisstau entstehenden
       Winterhochwasser verhindern sollen. Das Risiko für die deutlich häufiger
       vorkommenden Sommerhochwasser wird mit der Maßnahme allerdings erhöht, wie
       ein [3][Gutachten des Deutschen Naturschutzrings von 2018] belegt.
       Hochwasserkatastrophen wie das Oderhochwasser 1997 oder zuletzt 2010 sind
       Anwohner:innen auf beiden Seiten des Flusses noch gut im Gedächtnis.
       
       Umweltverbände wie „Save Oder“, ein Bündnis aus deutschen, tschechischen
       und polnischen Naturschutzorganisationen, das sich zum Erhalt der Oder
       gegründet hat, vermuten daher, dass die Hauptmotivation ist, die Oder als
       Wasserstraße für die Binnenschifffahrt auszubauen. Der Fluss soll in
       Zukunft Teil des europäischen Wasserstraßennetzes werden und ermöglichen,
       Waren von der Elbe über die Oder und Donau bis hin zum Schwarzen Meer zu
       transportieren.
       
       Die Folgen der Vertiefung für die Oder wären verheerend. Besonders die
       Auenlandschaften und Feuchtwiesen würden durch die einhergehende Absenkung
       des Grundwasserspiegels trockenfallen. Die zusätzlichen am Oberlauf
       geplanten Staustufen erhöhen die Gefahr einer Goldalgenblüte noch weiter,
       da das Wasser hinter den Staustufen steht, sich stärker erwärmt und den
       Algen somit bessere Bedingungen bietet. Auch wären sie unüberwindbare
       Hindernisse für Fische, die bislang den Fluss von der Mündung ganze 500
       Kilometer ungestört hochwandern können.
       
       Aber wie könnte bei diesen gravierenden Problemen der Oder die Anerkennung
       des Flusses als juristische Person, wie sie der Marsch fordert, helfen?
       Immerhin missachtet die polnische Regierung schon jetzt ein Gerichtsurteil,
       das eigentlich einen sofortigen Baustopp angeordnet hat. „Uns geht es nicht
       nur um das Gesetz“, sagt Alicja mit Anspielung auf den Gesetzesentwurf, den
       die Initiative entworfen hat, „sondern auch um einen Bewusstseinswandel in
       der Gesellschaft.“
       
       Man müsse den Menschen zeigen, wie eng sie mit der Natur verbunden seien.
       Wenn sie die Schönheit eines Ökosystems wie der Oder erkennen und begreifen
       würden, dass sie sowohl Teil davon und als auch darauf angewiesen seien,
       dann würde automatisch das Bedürfnis entstehen, es zu beschützen, erklärt
       Alicja. „Unsere Botschaft ist sehr optimistisch“, sagt sie lächelnd, als
       Lehrerin wisse sie, wie man Menschen motiviere.
       
       Die Oder als Person, sogar als Verwandten darzustellen, wie die
       Aktivist:innen von Osoba Odra es tun, helfe dabei, diese Beziehung zur
       Natur zu vergegenwärtigen. Eine, die nicht wie in der Tradition der
       europäischen Moderne auf Unterordnung und Ausbeutung basiert, sondern auf
       Ebenbürtigkeit.
       
       Auch für Menschen, die die Oder nie persönlich erlebt haben, leiste das
       Ökosystem viel, erklärt Marta, während links neben uns auf dem Fluss ein
       mit Steinen beladener Lastenkahn vorbeifährt. So filtere das Schilf an den
       Ufern die Düngemittel aus der Landwirtschaft. Anstatt die Schilffelder
       durch den Ausbau zu zerstören, brauche es eigentlich noch viel mehr davon.
       Die Ostsee leide unter immer heftigeren Algenblüten, die zur Ausweitung von
       sauerstofflosen „Todeszonen“ führten, in denen kaum noch Leben möglich sei.
       „Der Fluss sollte Platz haben, sich selbst zu reinigen“, sagt Marta.
       Schließlich sei das sein gutes Recht.
       
       Wie schön, wenn die Oder das auch vor Gericht einfordern könnte.
       
       5 Jun 2023
       
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