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       # taz.de -- Linke Parteien in der Krise: Das böse Erwachen
       
       > Die moderat linken Parteien Europas stecken in der Krise. Daraus lässt
       > sich lernen: Solides Regierungshandwerk ist besser als zu viel
       > Sendungsbewusstsein.
       
   IMG Bild: Wird auch Finnland bald rechts regiert? Bei der Wahlparty des konservativen Petteri Orpo
       
       Als Lars Klingbeil ein „sozialdemokratisches Jahrzehnt“ ankündigte, klang
       das übermütig, ja großsprecherisch. Aber entlegen war die Idee nicht. Der
       Neoliberalismus ist ein Untoter. Die Versprechungen grenzenloser Freiheit,
       die Feier des Ichs und des Marktes haben nach dem Finanzcrash 2008 und erst
       recht nach der Pandemie an Leuchtkraft verloren. Wenn das Dach brennt, ist
       nur auf einen Verlass: den Staat.
       
       Das 750-Milliarden-Euro-Post-Corona-Paket in der EU fegte das in
       Deutschland lange heilige Credo hinweg, dass es nie gemeinsame Schulden in
       der EU geben wird. Auch in der Klimapolitik ist der Staat als zentrale
       Agentur, die die Investitionsströme lenkt, unverzichtbar. Sogar die
       zombiehafte FDP machte den Weg frei, um 60 Corona-Milliarden für
       Klimapolitik zu mobilisieren. Je mehr Krise, desto mehr Staat.
       
       Eigentlich sind das Zeiten, in denen moderat linke Parteien gebraucht
       werden, die sozial verträgliche ökologische Reformen mit Etatismus, soziale
       Sicherheit mit maßvoller Gleichstellungspolitik zu einem recht hübschen
       Strauß zusammenbinden. Oder: Es müssten gute Zeiten sein. Es gab zwar
       Erfolge linker Bündnisse in Portugal, Spanien und Finnland. Aber der Wind
       hat sich gedreht und bläst scharf in die Gegenrichtung. In Finnland wollen
       Konservative mit Rechtspopulisten regieren.
       
       In [1][Schweden lassen sich Konservative von Rechtspopulisten tolerieren].
       In Italien stützen Konservative eine Postfaschistin. Der Traum von einem
       von Mitte-links regierten Reform-Europa wird gerade von einer dunklen Wolke
       verdrängt – nämlich einer EU, in der Konservative Rechtspopulisten beim
       Aufstieg zur Macht freundlich die Leiter halten. Wenn dieser Trend so
       bleibt, wird es bei der Europawahl 2024 für alle links der Mitte ein böses
       Erwachen geben.
       
       ## Too woke to win?
       
       Warum die Erfolge der Rechten, in einer eigentlich für Linke günstigen
       Zeit? Ein Grund ist vielleicht – too woke to win. Das legt Spanien nahe.
       Dort regiert der Vorzeige-Sozialdemokrat Pedro Sánchez im Bündnis mit
       Podemos. Die soziale Bilanz passt in das etatistische Anforderungsprofil.
       Mindestlohn und Rente wurden erhöht, die Energiepreise schon gedeckelt, als
       die Grünen in Berlin noch an der Gasumlage werkelten. Spanien hatte schon
       eine Übergewinnsteuer, als die Ampel noch nicht wusste, dass es so was
       gibt.
       
       Dass die spanische Linke gerade in den Regionalwahlen [2][mit wehenden
       Fahnen untergegangen ist], hat andere Gründe. Eine forsche
       Podemos-Ministerin startete schwungvoll mit woken Themen und einem neuen
       Sexualstrafrecht („Nur ja heißt ja“) – und scheiterte. Das Gesetz
       provozierte einen Kulturkampf. Außerdem war es handwerklich von
       zweifelhafter Güte. Dutzende Sexualstraftäter kamen unverhofft auf freien
       Fuß. Am Ende beschlossen die entnervten Sozialisten zusammen mit den
       oppositionellen Konservativen gegen Podemos ein verändertes
       Sexualstrafrecht.
       
       Das erinnert ein kleines bisschen an das hiesige Heizungsgesetz. Viel
       Sendungsbewusstsein gepaart mit übersichtlichen Fähigkeiten, ein
       einleuchtendes Gesetz vorzulegen, ergeben eine ungünstige Mischung. Sie
       wirken wie eine Einladung an rechte Medien und Parteien, aus Sachthemen
       (wie schützt das Gesetz Frauen am besten vor Übergriffen? Wie heizen wir
       klimaneutral?) Kulturkämpfe gegen grüne/ woke/ feministische Eliten und
       linke Regierungen zu machen. Kleiner Spoiler: Solche Kämpfe verlieren
       linksliberale Regierungen in der Regel.
       
       ## Veränderungsmüdigkeit sollte berücksichtigt werden
       
       Daraus lässt sich lernen, dass man mit langweiligem, solidem
       Regierungshandwerk weiter kommt als mit Moralfanfaren. Und mit sozialem
       Ausgleich besser fährt als mit Themen, die zur Gut-Böse-Frage hochgejazzt
       werden können. Jedenfalls wenn man nicht in Schönheit und Bitternis
       untergehen will.
       
       Europa ist ein alter Kontinent. Das Durchschnittsalter liegt bei 45 Jahren
       (in Indien bei 28, in den USA bei 38). Ältere Gesellschaften sind Neuem
       gegenüber etwas reservierter und schneller überfordert. Es war kein Zufall,
       dass besonders ältere Deutsche mit Panik auf das Heizungsgesetz reagierten.
       Das ist ein zarter Hinweis darauf, dass linke Reformpolitik ihre Ziele im
       Auge behalten sollte, aber Tempo und eine allzu fordernde Rhetorik (wir
       retten hier die Welt, also stellt euch nicht so an) etwas herunterdrosseln
       sollte. Verlangsamung ist zwar eine klassische konservative Attitüde, die
       zur linken Fortschrittsidee nicht passt. Aber langsam ankommen ist besser
       als schnell scheitern.
       
       Zudem gibt es nach Corona, Energiekrise, Inflation ja nicht nur die
       Sehnsucht nach einem schützenden Staat, sondern auch eine gewisse
       Veränderungsmüdigkeit. Die sollten linke Regierungen einpreisen. Sonst
       steht uns kein sozialdemokratisches, sondern ein rechtskonservatives
       Jahrzehnt bevor.
       
       3 Jun 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Ministerpraesident-in-Schweden-gewaehlt/!5888405
   DIR [2] /Spaniens-Regierung-zieht-Wahlen-vor/!5934960
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Reinecke
       
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