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       # taz.de -- Debatte um DDR-Geschichte: Leerstelle im Ost-Diskurs
       
       > Darf man über die DDR Gutes schreiben? Die aktuelle Aufregung zeigt: Es
       > fehlen neue, unverstellte Blicke auf den SED-Staat.
       
   IMG Bild: Menschen erinnern sich selektiv an das Positive
       
       Es war nicht alles schlecht – dieser Satz fiel in den neunziger Jahren
       häufig im Osten Deutschlands, wenn es um die DDR ging. Mal fiel der Satz
       sarkastisch, mal ironisch, mal durchaus ernst gemeint. „Es war nicht alles
       schlecht“ ist grob gesagt auch der Tenor von zwei Sachbüchern, die seit
       Wochen an der Spitze der Bestsellerlisten stehen. Es ist das Wut-Buch des
       Leipziger Literaturprofessors Dirk Oschmann „Der Osten: eine westdeutsche
       Erfindung“ und [1][„Diesseits der Mauer“ der in London forschenden und in
       der DDR geborenen Historikerin Katja Hoyer]. Und das Land ist – wieder
       einmal – mittendrin in einer Ost-Debatte.
       
       Zwei Dinge lassen sich aus dem Erfolg der Bücher herauslesen: Offizielle
       Reden zum Einheitsfeiertag 3. Oktober sind für alle, denen staatstragende
       Symbolik egal ist, sinnlos. Debatten werden nicht durch routinierte
       Redenschreiber-Texte ausgelöst, sondern durch Bücher, und das ist erst
       einmal eine gute Nachricht. Zweitens: Obwohl – oder weil – es inzwischen
       regalmeterweise wissenschaftliche Literatur über die DDR und die
       Nachwendezeit gibt, herrscht offenbar weiter großer Gesprächsbedarf über
       den Arbeiter-und-Bauern-Staat und die Folgen der Wiedervereinigung.
       
       Die beiden Bücher sind erfolgreich, gerade weil sie nicht differenzieren.
       Oschmann schreibt wie jemand, der sich nach einer langjährigen Beziehung
       trennt und im Trennungsgespräch wie ein Buchhalter die Verfehlungen des
       anderen der letzten Jahrzehnte auflistet. Die aufgestaute Kränkung muss
       raus, und sie hangelt sich oftmals ziemlich kleinlich von Banalität zu
       Banalität, um etwas Größeres auszudrücken: Du hast mich schwer enttäuscht
       und meine Bedürfnisse nicht ernst genommen. In seinem Fall ist der
       Ex-Partner die westdeutsche Mehrheitsgesellschaft.
       
       Eine Kostprobe: „Als Franziska Giffey 2018 zur Familienministerin ernannt
       wurde, besaß die [2][ARD-Journalistin Pinar Atalay] zur Hauptsendezeit doch
       tatsächlich die Dreistigkeit, Frau Giffey als ‚Quoten-Politikerin‘ zu
       bezeichnen und sie zu fragen, ob sie nicht allein deshalb Ministerin
       geworden sei, weil sie aus dem Osten stamme.“ Zur Hauptsendezeit! Wer in
       ostdeutschen Kleingärten unterwegs ist oder sich in Kantinen ostdeutscher
       Betriebe setzt, bekommt eine Ahnung davon, dass Gespräche im Osten über den
       Westen oft ziemlich genau so ablaufen, zumindest bei den Älteren.
       
       ## Jeans aus Templin
       
       Katja Hoyers Buch kommt im Gewand einer neutralen Chronik mit einigen
       pflichtschuldigen Schlenkern zu Menschenrechtsverletzungen der DDR und
       privaten Erinnerungen von Zeitzeugen daher. Gewissenhaft notiert sie in
       einer seitenlangen Passage über Jeanshosen: „Die Marke ‚Wisent‘ wurde im
       VEB Bekleidungswerke Templin hergestellt, etwa eine Stunde nördlich von
       Berlin.“
       
       Das Buch erfüllt die Sehnsucht eines Publikums, dass das Leben in der DDR
       endlich „sachlich“, wie es oft heißt, dargestellt wird. Es ist ein
       Geschenkbuch, ein Dia-Abend für die ganze Familie – weißt du noch? Man
       konnte ganz gut leben in der DDR, ist die Botschaft des Buches.
       
       Der Erfolg weist auf eine Leerstelle im Ost-Diskurs hin. Es ist bisher
       nicht gelungen, die Lücke zwischen individuellen Lebenserfahrungen und dem
       Rahmen, den die Diktatur bildete, zu schließen. Die an sich banale Aussage,
       dass es in der DDR auch privates Glück und private Erfolgsgeschichten gab,
       wird von der offiziellen Gedenkarbeit und der Forschung geradezu zwanghaft
       verknüpft mit einem großen „Aber“: Es gab flächendeckende Kitas und
       wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen? Ja, aber das wurde nur gemacht,
       weil der SED-Staat Frauen als Arbeitskräfte brauchte.
       
       Der Wohnraum war billig? Ja, aber es gab Wohnungsnot und den Verfall der
       Altbauten. Das Problem dabei ist: So funktioniert privates Erinnern nicht.
       Der Mensch erinnert sich an das Positive, selektiv, aus einem einfachen
       Grund: Man möchte große Teile des eigenen Lebens von anderen nicht als
       entwertet, da in einer Diktatur verbracht, beurteilt sehen. Wer in einem
       FDJ-Ferienlager seine erste Liebe kennengelernt hat, dem ist es egal, dass
       die FDJ eine De-facto-Zwangsorganisation des Staates war.
       
       Erinnerungen sind zudem selbstredend unterschiedlich. Wer in einem
       Chemiekombinat seine Gesundheit ruiniert hat oder in Stasi-Haft saß, hat
       eine andere Erinnerung an die DDR als derjenige, der als politisch
       Angepasster oder Überzeugter ein kommodes Leben im Partei- oder
       Staatsapparat zubrachte. Oder sich als Vertreterin der sogenannten
       technischen Intelligenz, als Ingenieurin etwa, von der Politik, so gut es
       ging, fernhalten konnte, aber in ihrer Arbeit Sinn und Bestätigung sah.
       
       Die Relativierung, die besonders Katja Hoyer vorgeworfen wird,
       [3][betreiben auch ihre Kritiker]. Alles individuell positiv Erfahrene wird
       mit dem Label „aber Diktatur“ versehen. Das liegt darin, dass das
       offizielle DDR-Erinnerungsbusiness einerseits von westdeutschen, politisch
       eher konservativ geprägten Historikern und andererseits von
       Bürgerrechtsbewegungsveteranen, die sich aus verständlichen Gründen ihre
       Deutung der DDR nicht nehmen lassen wollen, nahezu monopolisiert wird.
       
       Eine eher zweifelhafte Rolle nimmt dabei die „Bundesstiftung zur
       Aufarbeitung der SED-Diktatur“ ein, [4][deren geförderte Forschungsvorhaben
       immer kleinteiliger werden]. Überraschende, frische Sichtweisen auf die DDR
       sind in diesem hermetisch abgeriegelten, sich selbst bestätigenden Milieu
       nicht möglich; neue und überraschende Fragen werden nicht gestellt.
       
       So wird die DDR bislang immer nur vom Endpunkt ihres Scheiterns aus
       betrachtet. Interessanter wäre es nach über 30 Jahren zu fragen: Warum war
       die DDR eigentlich so relativ lange stabil? Warum kam es, ganz anders als
       im Nachbarland Polen, von 1954 bis 1988 zu keinen Aufständen mehr? An der
       staatlichen Repression allein kann es nicht gelegen haben, die in Polen
       genauso massiv war.
       
       ## Soziale Mobilität nach oben
       
       Es ist Zeit, die komplexen Dynamiken von Repression, Alltagswiderstand,
       Anpassung, einem im Vergleich zu den sozialistischen Bruderstaaten relativ
       guten Sozialstandard und hoher sozialer Mobilität zu erforschen. Die DDR
       war ein Gefängnis für sehr viele, aber wer aus sogenannten einfachen
       Verhältnissen kam, mitmachte und funktionierte, konnte Karrierewege
       einschlagen, die ihm in der frühen Bundesrepublik wahrscheinlich verwehrt
       geblieben wären. Was die Funktionseliten in Kombinaten, SED-Kreisleitungen,
       Armee und Universitäten angeht, war die DDR tatsächlich ein Arbeiterstaat –
       es dominierten solche mit Kleine-Leute-Hintergrund.
       
       Plötzlich konnten Landarbeitersöhne Generäle werden. Die Kehrseite war
       selbstverständlich die Diskriminierung sogenannter bürgerlicher Familien.
       Aber festzuhalten ist, dass doch einige Hunderttausend, so zynisch es
       klingt, von der Diktatur des Proletariats karrieremäßig profitiert haben.
       Die DDR hat viele Karrierewege und Lebensträume zerstört, aber sie
       funktionierte auch als Fahrstuhl nach oben für andere.
       
       Es ist kein Zufall, dass Dirk Oschmann, wie er im Buch mehrmals betont, ein
       Arbeitersohn ist, der in der DDR studieren konnte. Katja Hoyer war erst
       vier Jahre alt, als die Mauer fiel, aber die Küchentischgespräche mit ihren
       Eltern – Mutter Lehrerin, Vater ehemaliger NVA-Offizier – dürften sie
       geprägt haben. Denn gerade solche, die in sogenannten staatsnahen Berufen
       arbeiteten, haben das Ende der DDR oftmals als beruflichen Abstieg erlebt.
       Erinnerung setzt sich generationsübergreifend fort.
       
       Vieles ist bislang ungeklärt, auch was die Nachwendezeit angeht. Was genau
       und warum ist es schiefgelaufen nach 1989? Dabei ginge es um zentrale
       Fragen: warum die Existenzangst nach der Wende flächendeckend so groß war,
       obwohl der bundesdeutsche Vor-Hartz-IV-Sozialstaat gut ausgestattet war.
       Warum das Verhältnis zwischen den neuen Firmenchefs, Behördenleitern und
       Politikern, die nach 1990 zu Zehntausenden aus dem Westen kamen, und den
       Ostdeutschen so asymmetrisch, in der Tendenz ein Herr-und-Diener-Verhältnis
       war.
       
       ## Über beschwiegene Konflikte reden
       
       Warum die Protestenergie, die Selbstermächtigung von 1989, so schnell in
       Resignation umschlug. Warum die vielfältigen Demonstrationen der frühen
       neunziger Jahre, [5][die teilweise wilden und politischen Streiks] gegen
       die Privatisierungs- und Schließungspolitik der Treuhandanstalt, so schnell
       erstarben – und was dabei eigentlich die Rolle der personell westlich
       dominierten Gewerkschaftsspitzen in den neuen Ländern war, die aus
       politischen Gründen gegen Massenstreiks waren.
       
       Der nahezu komplette Austausch der regionalen Eliten in Staat, Wirtschaft,
       Wissenschaft und Kultur nach 1989 sollte auch noch mal genauer untersucht
       werden. [6][Ritualhaft wird beklagt, dass es zu wenige Ostdeutsche in
       Führungspositionen gebe], aber die Kritik daran kommt viel zu spät. Als die
       Posten in den neunziger Jahren neu besetzt wurden, wurde kaum öffentliche
       Kritik in Ostdeutschland laut – warum eigentlich?
       
       Nötig wäre auch ein innerostdeutsches Gespräch: dass über die beschwiegenen
       alten Konflikte einmal geredet wird, die kleinen und größeren
       Verstrickungen in Schuld und die Rolle von Opportunismus. Da gibt es die
       Geschichten vom lokalen linientreuen SED-Funktionär, der zu DDR-Zeiten
       Karrieren ruinieren konnte, aber nach 1990 schnell die Fahne nach dem neuen
       Wind ausrichtete und von seinem Marxismus plötzlich nichts mehr wissen
       wollte. Oder wie sich Privilegien und Diskriminierungen in der DDR in der
       Bundesrepublik fortsetzten: Wer als Kind von SED-Kadern Auslandserfahrungen
       machen konnte, hatte in der Bundesrepublik bessere Startchancen als der
       renitente Akademiker, der in der DDR mit Hilfsarbeiterjobs bestraft wurde.
       
       Erfahrungen vergehen nicht, nur weil die Zeit vergeht. Aber solange die
       unterschiedlichen Post-DDR-Milieus in ihren abgeschotteten Diskursblasen
       sitzen und Beißreflexe dominieren, wird es Trotzbücher wie die von Dirk
       Oschmann und Katja Hoyer immer wieder geben.
       
       5 Jun 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Buch-ueber-DDR-Geschichte/!5931542
   DIR [2] /Doku-ueber-Deniz-Yuecel-im-Knast/!5585062
   DIR [3] https://www.spiegel.de/geschichte/katja-hoyer-debatte-ueber-alltag-in-der-ddr-sie-wollte-den-farbfilm-nicht-vergessen-a-136b1d5f-8ce6-4ffc-8379-5fce3abf5312
   DIR [4] https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/vermitteln/wissenschaft/promotionsfoerderung-stipendienprogramm/stipendiaten
   DIR [5] https://www.marx21.de/der-vergessene-widerstand-gegen-die-treuhand/
   DIR [6] /Fuehrungskraefte-in-Bundesbehoerden/!5907888
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gunnar Hinck
       
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