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       # taz.de -- Trauer und Zeitung machen: Tage ohne Ordnung
       
       > Je dichter die Nachrichten an die BlattmacherInnen heranrücken, desto
       > schwieriger ist es, kühl zu berichten. Diese Woche war besonders
       > herausfordernd.
       
   IMG Bild: Menschen, die sonst meist ruhig und abgeklärt wirken, weinten in Konferenzen. Andere umarmten sich still und kamen abends noch einmal zusammen
       
       Zur Tagesordnung übergehen, irgendwie schnell weitermachen, auch wenn etwas
       Schreckliches passiert ist, gehört im Journalismus zwangsläufig zur
       Jobbeschreibung. Weil leider häufig etwas Schreckliches passiert und die
       nächste Ausgabe nicht wartet. Sie muss ja trotzdem vollgeschrieben werden.
       Oder gerade erst recht. Online sogar sofort.
       
       Da cool zu bleiben ist nicht immer einfach, aber meistens geht es, solange
       uns die schlechten Nachrichten nicht direkt selbst betreffen. Und auch wenn
       sie näher rücken, hilft der Zeitdruck, um sich durch konzentrierte Arbeit
       von eigenen Ängsten abzulenken. Manche schützen sich durch einen Panzer aus
       Routine und einen Abwehrmechanismus, der bisweilen ins Zynische abgleitet.
       Bomben auf die Ukraine? [1][Dachschaden in Moskau]? Gibt’s denn nicht was
       Neues?
       
       Die meisten versuchen die Not nicht an sich heranzulassen und nach
       Redaktionsschluss abzuschalten. Oft ist der Schreck am nächsten Morgen
       tatsächlich abgeklungen, verdrängt, verlacht, vergessen. In dieser Woche
       ging das in der taz für viele nicht mehr. Menschen, die sonst meist ruhig
       und abgeklärt wirken, weinten in Konferenzen. Andere umarmten sich still
       und kamen abends noch einmal zusammen.
       
       Nicht um sich abzulenken, sondern um gemeinsam um einen Kollegen zu
       trauern, der gerade erst 50 geworden war und plötzlich nicht mehr da ist.
       Dass er vor drei Monaten zum [2][Spiegel] ging, spielte keine Rolle. Denn
       [3][Martin Reichert] war jahrzehntelang ein tazler und für viele ein
       Freund, für manche ein enger Wegbegleiter, für seinen Mann der Liebste.
       Dass Martin sich am vergangenen Freitag selbst das Leben nahm, hat die
       ganze taz erschüttert.
       
       ## Vielleicht ein paar mehr Fehler als sonst
       
       Ich bitte deshalb um Verständnis, dass ich hier nicht die Großereignisse
       der Woche von [4][BVB] bis [5][Lina E.] launig Revue passieren lasse. Wir
       Rote-Faden-SpinnerInnen versuchen ja sonst gern, das Tragikomische im
       Weltgeschehen zu finden, aber ich will diesmal nicht so tun, als hätte mich
       das ewige Gezerre um Habecks missglücktes Heizungsgesetz oder der
       Haushaltsstreit in den USA lang beschäftigt und belustigt.
       
       Dafür denke auch ich zu viel an meinen ehemaligen Mitstreiter im
       Redaktionsrat und an die Menschen, die ihm viel näher standen und die drei
       Seiten über Martin vollgeschrieben haben. Damit die Lücke, die er
       hinterlässt, sichtbar wird – und der Schock nachvollziehbar. Vielleicht
       wird Ihnen das alles jetzt zu viel. Vielleicht denken Sie, wir sollten uns
       zusammenreißen und wie andere Leute auch nach Schicksalsschlägen trotzdem
       weiter unseren Job machen, also die politische Lage einordnen.
       
       Haben wir ja auch getan – so gut es ging. Aber falls in der taz im Laufe
       dieser Woche mehr Fehler als gewohnt auftauchten und manches Wichtige
       wegfiel, wissen Sie nun wenigstens, warum. Und Milde wäre nett. Vielleicht
       sollten JournalistInnen generell öfter zugeben, dass sie nicht immer
       neutral die Nachrichten sortieren. Sosehr wir uns bemühen, Empathie für
       alle globalen Probleme aufzubringen und auf weit entfernte Missstände
       aufmerksam zu machen:
       
       Natürlich berühren auch uns Gefahren in unserer Nähe mehr als Ereignisse in
       Australien, wenn wir dort niemanden kennen. Bei den aktuellen
       Kriegsmeldungen haben manche vordringlich Angst um FreundInnen in der
       Ukraine, andere vor einem Atomkrieg hier. In der [6][Coronazeit] setzten
       JournalistInnen, die sich selbst oder Angehörige zu den vulnerablen Gruppen
       zählten, verständlicherweise andere Akzente als medizinisch eher unbesorgte
       Eltern, deren Gedanken vor allem um die Bewegungsfreiheit ihrer Kinder
       kreisten.
       
       Trotzdem alle Sichtweisen abzubilden gehört zum Zeitungmachen. Aber
       manchmal wäre ein persönlich begründeter Meinungstext wohl ehrlicher als
       ein zu einseitig geschriebener Bericht. So oder so können wir früher oder
       später zur Tagesordnung übergehen. Martin konnte es leider nicht mehr.
       
       Sollten Sie Suizidgedanken haben, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe.
       Anononym bei der Telefonseelsorge: 0800/111 0 111 und 0800/111 0 22
       
       3 Jun 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Drohnenangriffe-auf-Russland/!5934756
   DIR [2] https://www.spiegel.de/kultur/martin-reichert-ist-tot-mit-leisem-laecheln-a-d2952b3e-ddd6-46c2-a6ff-41d56a0a60f4
   DIR [3] /Nachruf-Martin-Reichert/!5937085
   DIR [4] /Entscheidung-in-der-Bundesliga/!5934379
   DIR [5] /Urteile-im-Linksextremismus-Prozess/!5934710
   DIR [6] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746
       
       ## AUTOREN
       
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