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       # taz.de -- Eine Vermessung der Niederlande: Die abgehängte Provinz
       
       > Der Wahlerfolg der Bauern-Bürger-Bewegung hat gezeigt, wie gespalten die
       > Niederlande sind. Der Riss verläuft zwischen Ost und West, Provinz und
       > Stadt.
       
   IMG Bild: Tubbergen ist stark agrarisch geprägt. Die BBB holte hier am 15. März knapp 59 Prozent der Stimmen, so viel wie nirgendwo sonst
       
       Doetinchem/Tubbergen und Winschoten taz | Harma Kempinga, eine große Frau
       mit kurzen, rot gefärbten Haaren und auffallend blauen Augen, ist gerade
       von ihrer Runde als Briefträgerin zurückgekehrt. Mit ihrem Mann Arie, einem
       Taxifahrer, wohnt sie in einem schmucklosen Reihenhaus in einer
       Backsteinsiedlung am Stadtrand von Winschoten, 30 Kilometer östlich von
       Groningen, nahe der deutschen Grenze. Die drei Kinder sind aus dem Haus. In
       der Diele hängt Kempingas orange-blaue Dienstkleidung. 12,06 Euro verdient
       sie in der Stunde, etwas mehr als der Mindestlohn – „nach zehn Jahren im
       Unternehmen“.
       
       Manchmal denkt Harma Kempinga ans Auswandern, weil alles so teuer ist,
       erzählt sie. Der ständige Blick auf Preise und Ausgaben ist ihr nach all
       den Jahren zur Gewohnheit geworden. Der Großeinkauf gestern: 90 Euro. „Und
       der Kühlschrank ist nicht mal voll“, sagt Kempinga anklagend im Tonfall der
       Region Groningen, den man besser versteht, wenn man mit jenem drüben in
       Ostfriesland vertraut ist.
       
       Auf dem Esstisch vor der offenen Küche stehen eine Obstschale und eine
       runde Dose mit Filzstiften. Für die Enkelkinder, die Kempinga „unsere
       Goldblümchen“ nennt, wenn sie zu Besuch sind. Daneben steht ein Teller
       Donuts. Ihr Mann serviert Nescafé.
       
       Harma Kempinga, 44 Jahre alt und wenige Kilometer entfernt aufgewachsen,
       gehört zu jenen Niederländer:innen, die bei den [1][Provinzwahlen im März
       ihr Kreuz bei der BoerBurgerBeweging] (BBB, auf deutsch:
       Bauern-Bürger-Bewegung) gemacht haben. Genau wie 32,5 Prozent der
       Wähler:innen der Kommune Oldambt, zu der Winschoten gehört.
       
       ## Unter der Armutsgrenze
       
       Warum? „Weil sie für Leute wie mich steht. Leute, die in Schwierigkeiten
       stecken, nach denen aber niemand guckt. Für Bauern, für einfache Menschen,
       nicht nur solche mit hohem Bildungsabschluss. Für Geringverdienende. Nach
       so etwas habe ich schon sehr lange gesucht. Und ich hoffe, dass ich es
       jetzt gefunden habe.“
       
       Die populistische BBB ist im März erstmals bei den Provinzparlamentswahlen
       angetreten, wo die Vertreter für die zwölf niederländischen Provinzen
       gewählt werden. Zugleich wird dort über die Zusammensetzung des
       niederländischen Senats entschieden. Die BBB wurde auf Anhieb stärkste
       politische Kraft, bekam 16 von 75 Sitzen im Senat. Seit der Wahl versuchen
       Medien und Sozialwissenschaftler:innen, die Unzufriedenheit in der
       niederländischen Gesellschaft zu erklären. Dabei landen sie schnell bei
       Menschen wie den Kempingas.
       
       Menschen, die mit wenig Mitteln ständig am Rand des Abgrunds balancieren.
       Die zu den mehr als 200.000 Personen gehören, die in Armut leben, obwohl
       sie Arbeit haben. Als Armutsgrenze gilt in den Niederlanden ein Betrag von
       1.500 Euro monatlich – bei Familien um die 2.000 Euro –, der die Kosten für
       Leben, Wohnung und Energie decken muss.
       
       In Winschoten sind die Kempingas kein Einzelfall. Wenn sie als
       Briefträgerin ihre Runde durch die 18.000-Einwohner-Stadt dreht, redet
       Harma Kempinga viel mit den Leuten. Vertrauen in die Regierung habe niemand
       mehr, sagt Kempinga. „Neulich sah ich an einem Haus ein Plakat. ‚Eigen volk
       eerst‘ stand darauf.“ Sie klingt betroffen.
       
       „Das eigene Volk geht vor“ – die Geschichte dieser Parole sagt einiges
       darüber aus, wie sich die Niederlande in den vergangenen 20 Jahren
       verändert haben. Einst hörte man diese Aussage nur in der extremen,
       völkischen Rechten. Heute ist sie konsensfähig geworden. Aus dem Ausland
       erscheint es dann oft, als hätte sich diese Gesellschaft mit einem Mal von
       einem Leuchtturm der Toleranz in ein Irrlicht der Xenophobie verwandelt.
       Was natürlich Unsinn ist, denn bei beidem handelt es sich um ein Zerrbild.
       Sowohl die eine Strömung als auch die andere hat es immer gegeben. Doch ihr
       Verhältnis hat sich umgekehrt.
       
       Die Wende in den Niederlanden kam mit Pim Fortuyn, dem flamboyanten
       Volkstribun, der 2001 eine Anti-Zuwanderungs-Agenda mit Kritik an der
       multikulturellen Gesellschaft und der etablierten Politik verband. Nach
       seiner Ermordung 2002 spitzte Geert Wilders mit seiner Partij voor de
       Vrijheid die xenophoben Ausfälle zu. Wie Fortuyn inszenierte er sich als
       Anwalt der kleinen Leute. Mitte der 2010er Jahre tauchte dann Forum voor
       Democratie auf, das sich, ähnlich der AfD in Deutschland, zunächst als
       wirtschaftsliberal-konservative Partei gab. Nach einer Radikalisierung im
       Schnelldurchgang ist Forum heute fest im Alt-Right- und Verschwörungsmilieu
       verwurzelt.
       
       ## Wut aufs Finanzamt
       
       Bei Harma Kempinga zu Hause wurde früher, wie häufig im armen,
       strukturschwachen Osten der Provinz Groningen, strikt kommunistisch
       gewählt. Dennoch erwog auch sie vor einigen Jahren, ihre Stimme Geert
       Wilders zu geben. Sie dachte, er setze sich für Leute wie sie ein. Sie
       wählte ihn dann doch nicht. „Das, was er über ausländische Menschen sagt,
       ist mir zu extrem. Er ist mir unheimlich“, sagt sie. Dass die BBB auf
       diese Rhetorik verzichtet, macht die Partei für sie überzeugender.
       
       Kempinga ist eine herzliche, lebensfrohe Frau. Überall, wo sie die Post
       zustellt, wird sie freudig begrüßt. Die große Wut, die in Gesprächen in ihr
       hochkocht, hat mit den Ursachen zu tun, warum ihre Familie überhaupt in
       diese missliche Lage geriet. Mitte der Nullerjahre unterlief jemandem beim
       niederländischen Finanzamt ein folgenschwerer Fehler.
       
       Kempinga konzentrierte sich damals auf die Betreuung ihrer Kinder, vor
       allem der Zwillinge, die wegen ihrer Hyperaktivität mehr Aufmerksamkeit
       brauchten. Doch aus den 3.000 Euro jährlich, die sie mit Minijobs zum
       Familieneinkommen beisteuerte, wurden durch eine Unachtsamkeit der Behörden
       30.000 Euro – ein Finanzbeamter hängte eine Null zu viel an die Summe.
       
       Die Konsequenz: Harma Kempinga sollte jahrelang empfangene Zulagen für
       Miete und Krankenversicherung zurückzahlen. Das Paar versuchte rechtlich
       dagegen vorzugehen, doch es scheiterte. Ein absurder Vorgang, der nur so zu
       erklären ist, dass das Finanzamt zu jener Zeit überall Betrugsversuche von
       Leistungsempfänger:innen witterte.
       
       Mit Bußgeldern und Kosten für Gerichtsvollzieher türmten sich die
       Forderungen schnell zu 20.000 Euro auf und wuchsen weiter an. Zehn Jahre
       lang musste die Familie mit 80 Euro pro Woche auskommen, erzählt Kempinga.
       Der Gang zur Tafel wurde zum Alltag. Genauso wie die Einschränkungen: Sie
       wollten ihren Kindern Vollkornbrot geben, doch das Geld reichte nur für
       Weißbrot.
       
       „Als Familie macht dich das kaputt. Ich bin stolz darauf, dass wir noch
       zusammen sind.“ Einzig durch das Kindergeld gab es „die Möglichkeit, mal
       etwas Schönes mit den Kindern zu machen“, erinnert sich Harma Kempinga. Der
       Fall der Familie schlug Wellen in den Niederlanden.
       
       Was man damals nicht wusste: Das Finanzamt beschuldigte über Jahre hinweg
       auch mehr als 20.000 Empfänger:innen von Betreuungsgeld
       fälschlicherweise des Sozialbetrugs. Auffallend viele der vor allem
       migrantischen Eltern hatten eine doppelte Staatsbürgerschaft. Und wie die
       Kempingas mussten auch sie Beträge zurückzahlen, die ihre Möglichkeiten
       weit überstiegen.
       
       Zahlreiche Familien und Existenzen zerbrachen daran. [2][2021 trat die
       Regierung deswegen zurück]. Seither wird die „Zuschlagaffäre“ immer
       erwähnt, wenn es um Erklärungen dafür geht, dass die Regierung, die nach
       den Wahlen in gleicher Konstellation wieder an die Macht kam, so über die
       Maßen unbeliebt ist.
       
       ## Ein Denkzettel für die Regierung
       
       Die Kempingas lernten schließlich über eine TV-Reportage einen Mann kennen,
       der ihnen mit mehreren Schenkungen aus den Schulden half. Kempinga erinnert
       sich heute vor allem an das Gefühl von Ohnmacht gegenüber den Behörden –
       daher auch ihre Wut auf „Den Haag“.
       
       Hinter dem Wunsch, der Regierung einen Denkzettel zu verpassen, steckt aber
       oft auch ein regional verbreitetes Ressentiment. Es ist ein Aufbegehren der
       Peripherie, jener Teile der Niederlande, die man selbst im Nachbarland
       Deutschland kaum wahrnimmt, gegen die urbane Agglomeration im Westen – die
       „Randstad“, wie der Ballungsraum Amsterdam, Rotterdam, Den Haag und Utrecht
       auf Niederländisch genannt wird.
       
       Hier wohnen und arbeiten die meisten Menschen, hier werden Entscheidungen
       getroffen, hier sitzt das Geld. Wenn auf dem „platteland“, der Provinz
       also, über „den Westen“ gesprochen wird, geschieht das oft mit dem Gefühl,
       nicht mehr als ein Anhängsel zu sein.
       
       In der Region Groningen kommt noch ein wesentlicher Faktor dazu: Seit dort
       1959 das größte Erdgasfeld Europas entdeckt wurde, spülte das Gas mehr als
       420 Milliarden Euro in die Staatskasse. Auch Deutschland gehörte bis vor
       Kurzem zu den Exportländern. Vor Ort aber sorgten die Gasbohrungen für
       zahlreiche Erdbeben. Keine Katastrophen wie in der Türkei, Syrien oder
       Haiti, aber stark genug, um Häuser ernsthaft zu beschädigen und eine
       permanente Unsicherheit unter jenen zu verbreiten, die hier wohnen und die
       über die Verschleppung Zehntausender Reparaturfälle klagen.
       
       Lange schenkte man dem im Westen des Landes kaum Beachtung. Wenn
       Journalist:innen über einsturzgefährdete Häuser und die Sorgen ihrer
       Bewohner:innen berichteten, hieß es, in Groningen dramatisiere man die
       Sache wohl. Erst nach jahrelangen Protesten hat die Regierung den Ernst der
       Lage erkannt und die Gasförderung weitgehend beendet.
       
       Eine Enquetekommission präsentierte Anfang des Jahres einen vernichtenden
       Report. Die Regierung, heißt es, habe die Interessen der Groninger
       Bevölkerung systematisch negiert und die Aussicht auf Gewinne permanent
       über die Sicherheit vor Ort gestellt. Fazit: „Ein beispielloses
       Systemversagen.“
       
       ## Hügel, Wald, Wiese
       
       In Tubbergen, knapp 90 Kilometer westlich von Osnabrück, ist der Unmut
       anders begründet. Die Kommune, eine Ansammlung von Dörfern und Weilern mit
       insgesamt gut 20.000 Menschen, ist stark agrarisch geprägt. Hier sind die
       Bäuer:innen die Kernklientel der BBB. Erst 20 Jahre ist es her, dass
       Tubbergen, in der Region Twente, am Rand der Provinz Overijssel gelegen, zu
       80 Prozent christdemokratisch wählte. Die BBB holte hier am 15. März knapp
       59 Prozent der Stimmen, so viel wie nirgendwo sonst.
       
       Am schnellsten gelangt man über die A1 nach Tubbergen. Die Autobahn, die
       bei Amsterdam beginnt, verbindet die beiden ungleichen Teile dieses Landes,
       den urbanen Westen und den ländlichen Osten. Auf der Strecke: Hügel, Wald,
       Wiese. Viel Natur ist es nicht, doch in einem Land, wo man fast immer von
       irgendwo Autos rauschen hört oder ein Zug noch die abgelegenste Szenerie
       durchkreuzt, fühlt man sich fast, als dringe man tief in die Wildnis vor.
       Die Gegend erinnert an ein Lied, das vor zwei Jahren überall im Radio lief
       und mit der Zeile anfing: „Sie nennen es das Ende der Welt, doch eigentlich
       ist es gar nicht so weit weg.“
       
       Es nieselt in Tubbergen an diesem Apriltag. Trotzdem grüßt sich freundlich,
       wer sich in der properen Einkaufsstraße begegnet. Vor allen Geschäften
       klingt aus Lautsprechern das Gleiche, eklektische Einkaufsradio.
       Kirmestechno. „I love Rock ’n’ Roll“. „Three little birds“. Eine 30-jährige
       Bauerntochter hat BBB gewählt, weil ihr Vater einen Hof betreibt, wie sie
       erzählt. Ein Bauarbeiter, der mit seiner Frau vom Einkaufen kommt, wollte
       mit seiner Stimme eher „der Regierung einen Tritt geben, damit der Laden in
       Bewegung kommt“. Das Ergebnis sei ein mehr als deutliches Signal. „Seitdem
       haben sie wohl nicht so gut geschlafen.“
       
       Ganz hervorragend hingegen schläft in letzter Zeit Carla Evers. Die
       Spitzenkandidatin der BBB in der Provinz Overijssel wohnt in Hezingen,
       einem 200-Seelen-Dorf in der Nähe von Tubbergen. Carla Evers betreibt hier
       mit ihrem Mann Erwin einen Geflügelhof. Um das Gelände zu betreten, müssen
       Besucher:innen über Matten laufen, sodass sie keine Vogelgrippeerreger
       hineintragen können.
       
       ## Verteidigung des agrarischen Sektors
       
       Die Spitzenkandidatin, die in diesem Jahr 60 wird, doch um einiges jünger
       wirkt, stieg erst vor einem Jahr in die Politik ein. Bevor sie ihren Mann
       kennenlernte, arbeitete sie als Maklerin. Nun aber, als Bäuerin, ist sie
       mit dem Kerngeschäft der BBB eng verbunden. Das bedeutet, den agrarischen
       Sektor zu verteidigen gegen vermeintlich überflüssige, jedenfalls als zu
       zahlreich wahrgenommene Regeln aus Den Haag.
       
       Verschärft hat sich dieser Konflikt 2019, als die Regierung beschloss, den
       landwirtschaftlichen Stickstoffausstoß zu senken. 2022 eskalierte er dann,
       nachdem Den Haag ankündigte, Höfe mit hohen Emissionen aufzukaufen und
       notfalls zu enteignen. Als die Landwirt:innen mit ihren Traktoren auf
       die Straßen rollten, sympathisierten viele mit ihnen.
       
       Worum gestritten wird, kann man von Evers’ Fenster aus sehen: Eines der
       Naturgebiete, die laut EU-Habitat-Richtlinie vor zu viel Stickstoff
       geschützt werden müssen, grenzt an ihr Grundstück. Die Auseinandersetzung
       mit den Behörden darüber ist ihr bestens vertraut.
       
       Irgendwann wurde die Agrar-Branchenorganisation LTO auf sie aufmerksam,
       einige Jahre saß sie im Provinzvorstand. „Dort bekam ich den Eindruck, dass
       die Behörden nur senden, den Menschen aber nicht richtig zuhören. Und die
       LTO setzte sich nicht genug für die Bäuer:innen ein.“ Sie gab ihre
       Tätigkeit auf und ging schließlich selbst in die Politik.
       
       Zu dieser Zeit, 2021, nahm die BBB erstmals an Parlamentswahlen teil und
       gewann ihren ersten Sitz in Den Haag. Zur VVD, der liberal-rechten
       Regierungspartei, die sie früher gewählt hatte, war Evers inzwischen auf
       Abstand gegangen. Wie eigentlich zur gesamten etablierten Politik. „Ich
       hatte sehr stark den Eindruck, dass die Leute nicht ernst genommen werden.“
       Was sie besonders frustrierend fand: dass Menschen in den Städten ihrem
       Berufsstand pauschal die Schuld an der Klimakrise geben. So nahm sie es
       jedenfalls wahr.
       
       ## Wer tut was für die Umwelt?
       
       „Natürlich können Bäuer:innen ihre Emissionen reduzieren. Aber manchmal
       frage ich Leute, was sie selbst für die Umwelt tun. ‚Ich esse zweimal pro
       Woche kein Fleisch‘, sagen sie dann. Aber sie fahren drei Mal jährlich in
       Urlaub. Wenn ich dann frage: ‚Mit dem Fahrrad?‘, sind sie irritiert. ‚Du
       findest also, Bauernhöfe müssen verschwinden, aber fliegst zum
       Junggesellenabschied nach Mailand?‘, bohre ich weiter. Die Antwort ist oft:
       ‚Ist das jetzt auch schon nicht mehr möglich?‘“
       
       Was die Spitzenkandidatin hier anspricht, ist symptomatisch für die tiefe
       Kluft, die sich durch das Land zieht. Hier der urbane Westen, dort der
       periphere Osten, hier die internationale Ausrichtung, dort die Besinnung
       auf den Boden der Tradition und übersichtliche Verhältnisse, gemütlich,
       etwas behäbig, nicht ohne Selbstbewusstsein. Auf der Website der BBB
       schreibt die Spitzenkandidatin Carla Evers, dass sie nach ihrer Ausbildung
       in Den Haag „so schnell wie möglich wieder zurück in den Osten“ wollte.
       Warum? „Das Dörfliche. Platz haben. Einander kennen“, sagt sie. „Der Osten
       ist ein Gefühl.“
       
       Wieder kommt einem dieses Lied in den Sinn. „De overkant“, so heißt es,
       „Die andere Seite“, von einem Duo namens Suzan & Freek. Eine Ode an ein
       Dorf, in dem es nichts zu erleben gibt, nur eine Kneipe und eine Kirche, wo
       man jeden Nachnamen kennt, jeden Platz und das Fahrrad unabgeschlossen am
       Weg stehen lassen kann. Der Refrain: „Es ist still hier auf der anderen
       Seite, aber hier komm ich her.“
       
       Im Coronasommer 2021 traf das Lied den Nerv der Zeit. Selbstkritisch
       blickten viele Niederländer auf die eigenen Konsummuster und den hektischen
       Arbeitsalltag, sehnten sich nach Zeit und Ruhe, nach Authentizität. Urlaub
       im eigenen Land wurde, wenn auch notgedrungen, zu einem Hype.
       
       Auf das Lied angesprochen, lacht Evers. „In meiner Zeit als Maklerin war
       der Vater von Suzan, der Sängerin, mein Kollege.“ Mit dem Text kann sie
       sich vollkommen identifizieren. Für das, was er beschreibt, gibt es im
       Osten der Niederlande einen Begriff, den man in der Region Twente
       „Noaberschap“, Nachbarschaft, nennt. Der Begriff bezeichnet mehr als nur
       zufällige räumliche Nachbarschaft, sondern darüber hinaus: füreinander
       einzustehen, in jeder Lebenslage. „Früher war man darauf hier draußen
       einfach angewiesen. Man schaffte etwa Maschinen zusammen an“, erklärt
       Evers. „Als wir heirateten, nahmen sich unsere Nachbarn eine Woche Urlaub,
       um alles vorzubereiten.“
       
       ## In der Provinz rennt die BBB offene Türen ein
       
       Die BBB hat dieses Prinzip zu einem ihrer Kernwerte erhoben. „Die anderen
       sind: Menschen so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden will,
       Authentizität und Professionalität“, zählt Evers auf. In der Provinz, wo
       die Infrastruktur abgebaut wird und man sich vom „Westen“ permanent
       vernachlässigt fühlt, rennt die Partei damit offene Türen ein. Und in einer
       Gesellschaft, deren Abstand zum politischen Establishment rasant wächst.
       
       Laut einer Umfrage vom vergangenen Herbst vertrauen 67 Prozent der
       Befragten der Politik „wenig oder sehr wenig“ – ein neuer Tiefstwert nach
       den 61 Prozent im Vorjahr. Das Misstrauen gegenüber Premier Mark Rutte
       stieg im gleichen Zeitraum von 56 auf 67 Prozent.
       
       René Cuperus, ein bekannter Politologe, sieht all dies als Anzeichen für
       einen Aufstand der Provinz gegen die Städte. „Es sind zwei unterschiedliche
       Welten. Es herrscht beinahe Segregation. Genau wie der Brexit ein Aufstand
       gegen London war und die Peripherie in Frankreich gegen Paris
       demonstriert“, sagte er in einem Gespräch mit der wochentaz im Herbst 2022.
       Er ist Mitverfasser der Studie „Atlas der abgehängten Niederlande“, in der
       er die Vertrauenskrise von Politik und Regierung vor Ort untersucht. Fazit:
       „Große Teile des Landes, gerade in der Provinz, fühlen sich nicht mehr
       repräsentiert.“
       
       Cuperus begründet diese Entwicklung damit, dass sich der Versorgungsstaat
       in eine Effizienzgesellschaft verwandelt habe. Wie zuletzt während der
       Coronapandemie gesehen, habe diese keine Pufferzonen mehr. Dazu komme der
       Abbau von Infrastruktur, Schulen und Arztpraxen, die schließen, Buslinien,
       die gestrichen werden, und die rigorose Austeritätspolitik.
       
       Untersuchungen der Plattform Follow The Money bestätigen Cuperus. Demnach
       wurden zwischen 1997 und 2021 insgesamt 1.410 Grundschulen im Land
       geschlossen – fast jede fünfte. In 178 Dörfern gibt es keine Grundschule
       mehr. In der nördlichen Provinz Friesland sank die Zahl der
       Polizeistationen seit den 80er Jahren um zwei Drittel, im dichtbevölkerten
       Süd-Holland dagegen wurde nur gut ein Viertel der Wachen geschlossen.
       
       ## „Blau-Weiß-Rot, Land in Not“
       
       Die umgedrehte niederländische Fahne, die seit den Agrarprotesten im Sommer
       2022 monatelang überall auf dem Land im Wind wehte und sich heute noch an
       mancher Straße in der Provinz findet, war auch eine Antwort auf diese
       Entwicklungen. Die Parole „Blau-Weiß-Rot, Land in Not“ wurde der Seefahrt
       entlehnt, wo eine solche Fahne nach einem Unglücksfall entsprechend „Schiff
       in Not“ bedeutete. Nun richteten sich die Proteste gegen einen Staat, der
       sich angeblich von seinen Bürger:innen abgewandt hatte. „Die Botschaft
       ist wie bei den Gelbwesten: ‚Wir lassen uns nicht länger verarschen!‘“,
       konstatiert Cuperus.
       
       Tatsächlich ist auch in den Niederlanden eine vage und damit politisch
       schwer einzuordnende Protestbewegung von Menschen entstanden, die sich
       „abgehängt“ fühlen. Insofern ähnelt sie der Gelbwesten-Bewegung, wenn auch
       bisher mit geringerem Eskalationspotenzial. Auch an die USA lässt die
       Spaltung denken, die nicht nur eine inhaltliche, sondern auch eine
       geografische ist.
       
       Doch die BBB ist keinesfalls eine trumpistische Partei. Fraglos ist sie
       konservativ mit sozialer Agenda und im ländlichen Milieu verhaftet, doch
       weder trifft man auf völkische Ideen noch auf rassistische Rhetorik.
       Erschrockene Reaktionen in Deutschland, ob da nun urplötzlich eine Art
       niederländische AfD entstanden wäre, sind entsprechend unbegründet.
       
       In Den Haag diskutierte Anfang April das Parlament darüber, wie mit dem
       Erdrutschsieg der BBB umzugehen ist, die Opposition sprach der Regierung
       das Misstrauen aus. Wie lange sich die angeschlagene Koalition noch im
       Sattel hält, steht in den Sternen. In den Provinzen, also etwa Nord-Holland
       (Amsterdam), Limburg (Maastricht) oder Brabant (Eindhoven), wird derzeit
       darüber verhandelt, wer dort künftig regiert. Unter Ausschluss der
       Öffentlichkeit, doch klar ist: Die BBB drängt an die Macht. Die Provinzen
       nehmen damit vorweg, was 2025 auch landesweit passieren könnte.
       
       Damit ist die Peripherie zur politischen Arena in den Niederlanden
       geworden, zum Ort, an dem sich die nähere Zukunft dieses Landes mit
       entscheiden wird. Die Achterhoek zum Beispiel. Mehr Provinz passt nicht in
       einen Namen, denn übersetzt bedeutet das so viel wie „hinterste Ecke“.
       Genau dort liegt diese Gegend auch, die in etwa der historischen Grafschaft
       Zutphen entspricht: zwischen Arnheim und Nordrhein-Westfalen.
       
       ## Die Superbauern
       
       An einem frühen Freitagabend fährt dort ein Bus von Vorden, gut 7.000
       Einwohner:innen, nach Doetinchem, mit 55.000 Einwohner:innen das
       Zentrum der Region. In den Weiden stehen noch die überdimensionierten
       Wahlschilder der BBB.
       
       Menschen in blau-weiß gestreifter Kleidung steigen in den Bus: Fans des
       Fußball-Clubs BV De Graafschap, bekannt als „der Stolz der Achterhoek“,
       oder auch als „Superboeren“, Superbauern. Der Zweitligist ist regional
       stark verwurzelt.
       
       In der Kantine der Superbauern sitzen zwei, die immer hier sind: Monique
       Stortelder und Frank Stinissen. Beide haben vor drei Wochen die
       Bauern-Bürger-Bewegung gewählt. Stortelder ist Ende 40. Sie arbeitet bei
       einer Agentur, die landwirtschaftliches Personal bis über die deutsche
       Grenze vermittelt, und ist für die Social-Media-Kanäle des Fanclubs
       zuständig. Auf ihrem Telefon zeigt sie Fotos eines Auswärtsspiels vor zwei
       Jahren. Damals brachten 150 Traktoren das Team bis zur Autobahn.
       
       Stortelder berichtet, wie regionaler Stolz und Fußball hier
       zueinanderfinden. Sie erzählt von einem Phänomen, das sich seit der
       Pandemie zeigt: Immer mehr Menschen aus dem Westen der Niederlande würden
       hier Häuser kaufen, sagt sie. „Für junge Leute von hier wird es darum sehr
       schwer, in der Region ein Haus zu finden. Die Städter:innen überbieten
       sie einfach.“
       
       Im Westen ist es deshalb seit ein paar Jahren kaum noch möglich, als
       Normalverdiener:in ein Haus zu erstehen. Die Wohnungsnot im Land ist
       dramatisch, doch der Neubau stockt, weil auch dabei Stickstoff ausgestoßen
       wird, dessen Freisetzung das Land reduzieren muss.
       
       ## „Wir haben genug!“
       
       Stinissen, Anfang 50 und im Vorstand des Fanclubs, kann man als
       Protestwähler beschreiben, dem es um menschliche Werte geht. „Es ging mir
       nicht nur um die Bäuer:innen, sondern allgemein um die Frage, wie Menschen
       hier behandelt werden. So etwas geht doch nicht!“, empört er sich. „Was hat
       die Regierung nicht alles angerichtet, in Groningen oder beim
       Kindergeldskandal! Meine Stimme war eher als Statement gedacht: Wir haben
       genug!“ Auf seinem rechten Unterarm hat Stinissen die Namen seiner Kinder
       tätowiert. Links, auf dem Bizeps, prangt eine große Achterhoek-Fahne mit
       dem Club-Slogan im Dialekt: „Zusammen rangehen für immer!“
       
       Um kurz nach sechs Uhr, vor dem Anpfiff, scheint es, als sei die ganze
       Achterhoek zusammengekommen, um die Superbauern zu unterstützen. Der
       Spitzname des Clubs ist auch der Ehrentitel der gleichnamigen
       Fanvereinigung. „Bauern, das ist natürlich eine Zuschreibung von außen, ein
       negativer Ausdruck“, sagt Hans Boesberg, der Vorsitzende. „Die Leute aus
       der Randstad beschimpfen dich so. Sie fühlen sich überlegen. Der Bauer, das
       ist doch ein dummer Typ, der nach Scheiße stinkt. ‚Superbauern‘ ist eine
       Reaktion darauf: ‚Kommt doch her, wenn ihr euch traut!‘“
       
       Gerade im Fußball zeigt sich die Arroganz, die dem Blick in die östliche
       Landeshälfte oft innewohnt. Als Boeren werden Teams von dort ständig
       bedacht. Für nicht wenige Amsterdamer beginnt das Bauernland sogar gleich
       hinter der Stadtgrenze.
       
       Hans Boesberg schlägt eine Zeitung auf, der Vereinsvorsitzende weist auf
       zwei Artikel hin. Der erste erklärt, dass in der Hauptstadtregion auf die
       gleiche Einwohnerzahl fünfmal mehr Polizeibeamte kommen als hier, im Osten
       der Provinz Gelderland. Der zweite fürchtet um die beliebten Osterfeuer,
       die wegen ihres Stickstoffausstoßes in der Diskussion sind. Er beginnt mit
       einer Frage: „Drehen kleinliche Den Haager Regeln der geschätzten Tradition
       im Osten und Norden des Landes den Hals um?“
       
       Boesberg sagt: „Die Leute identifizieren sich nicht mit den Bäuer:innen,
       weil sie sie so sympathisch finden, sondern weil sie sich wehren.“
       
       Auf dem Fußballfeld ringt De Graafschap an diesem Abend Almelo, einen
       Kleinstadtclub, nieder. Das Vijverberg-Stadion bebt. Wie es hier der Brauch
       ist, läuft nach dem Match jemand, eine riesige Achterhoek-Fahne schwenkend,
       über den Platz. Die Superbauern strömen in die Nahverkehrszüge, fahren
       zurück in die Dörfer. Für den Moment sind sie stolz auf ihre Heimatregion.
       
       4 Jun 2023
       
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