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       # taz.de -- Comic „Wilde Ökologie“: Aus Lust am Widerstand
       
       > Alessandro Pignocchi war Kognitionswissenschaftler, bevor er zum Comic
       > wechselte. Sein Auszug aus der „wilden Ökologie“ ist unwiderstehlich
       > radikal.
       
   IMG Bild: Zoologisch akkurat getuschte Blau- und Schwanzmeisen im Gespräch
       
       Sie kommen so zart daher und idyllisch, die Aquarelle von Alessandro
       Pignocchi. Und doch sind seine Comics radikal bis militant, dabei aber von
       einem unwiderstehlich dadaistisch-albernen Humor genährt.
       
       Der Bremer Kleinstverlag Golden Press hat in einem dem Original
       nachempfundenen Lettering eine Auswahl aus Pignocchis [1][gefeiertem
       dreibändigen] „Petit traité d’écologie sauvage“ (2018–2022) herausgebracht,
       Titel: „Kleiner Auszug aus der wilden Ökologie“. Vielleicht wäre „winziger
       Auszug“ noch treffender gewesen. Ansonsten aber ist die Übersetzung von
       Sebastian Stein tadellos.
       
       Pignocchi hat 2012 seine [2][verheißungsvolle akademische Karriere]
       abgebrochen und ist von der [3][Kognitionswissenschaft] ins Comic-Fach
       gewechselt. Auch ist er ein politischer Aktivist – mit anarchistischer
       Ausrichtung. Im Jahr 2018 war er zu den so genannten ZADisten von Lalande
       gestoßen, also den Besetzer*innen einer der „zu verteidigenden Zonen“
       (Zone à défendre, ZAD), hier: Feuchtwiesen und Weiden, die einem
       Flughafenbau hätten weichen sollen.
       
       In Frankreich bilden die ZADisten eine schlagkräftige dezentrale Bewegung.
       Wichtiger als die einzelnen Streitobjekte sei dabei die Lust am Widerstand
       selbst, hat Motivationsforscher Pignocchi [4][im Interview mit Radio
       Télévision Suisse kürzlich klargestellt]. Ganz ähnlich verortet sich auch
       das Anliegen seiner Comics noch vor dem im engeren Sinne Politischen. Sie
       dienen als Experimentierfeld, um den [5][Dualismus von Natur und Kultur zu
       beseitigen].
       
       ## Glückliche Welten
       
       Damit schließt er direkt an die anthropologischen Theorien von Philippe
       Descolas an. Gemeinsam [6][mit dem Collège-de-France-Prof] hat Pignocchi
       die 2019 vom Sender Arte mit dem Essay-Preis ausgezeichnete Schrift
       „Ethnographies des mondes à venir“ verfasst („Ethnografien der Welten der
       Zukunft“). In denen wird nicht mehr alles, was existiert, in warenförmige
       Ressourcen und ihre Besitzer eingeteilt. [7][Und diese glücklichen Welten]
       stehen allen klimaängstlichen Endzeitszenarios sehr fern.
       
       Comics verschieben gerne die Grenzen zwischen Menschen und Nichtmenschen.
       Letztere begabt Pignocchi mit Sprache, erstere mit einem animistischen
       Wirklichkeitsentwurf. Das führt dazu, dass zoologisch akkurat getuschte
       Blau- und Haubenmeisen durch blühende Obstbäume turnend beratschlagen, wie
       sie bei der kommenden Klimaschutz-Demo sich gegen die Polizei zur Wehr
       setzen könnten. In anderen Szenen sitzen stark schematisierte Politnasen in
       Fernsehstudios. TV-Duelle vor der Wahl.
       
       Humorlos erörtern zwei Kontrahenten die Frage, wie ein notwendiger und
       ritueller Kannibalismus in Frankreich verpflichtend einzuführen wäre. Per
       Leichenschmaus?
       
       Die groteske Leidenschaftslosigkeit der Debatte unterstreicht Pignocchi
       durch den Verzicht auf Bewegung. Lange Sequenzen bestreitet er mit einem
       einzigen, immer wieder kopierten Panel, in dem nur der Text sich jedes Mal
       ändert. Dieser Bruch mit Comic-Konventionen hat seltsame und komische
       erzählerische Effekte. Vor allem inszeniert er den scharfen Kontrast
       zwischen einer erstarrten menschlichen Welt und jener der Vögel, die
       ständig neue Perspektiven erproben.
       
       ## Befreit aus dem Käfig der Macht
       
       Pignocchi zeichnet keine Karikaturen. Zwar ähneln die Politiker*innen
       vage Angela Merkel, Wladimir Putin, Donald Trump, Emmanuel Macron oder
       Jean-Luc Mélenchon. Aber darauf kommt es kaum an: [8][Sie treten auf als
       Repräsentanten jener], die zu sehr ins kapitalistische System verstrickt
       sind, als dass sie eine Lösung der von ihm verursachten Katastrophen auch
       nur wollen könnten. Nicht böse sind sie. Aber befangen, gefangen, gelähmt.
       
       Der Comic befreit sie aus diesem Käfig der Macht. Er erlöst sie vom Zwang,
       zu herrschen: Friedlich werden sie schließlich bei einem etwas speziellen
       G20-Powwow in einer grünen Mulde zusammenhocken, um ihre Weltflucht zu
       planen. Und dank einer Gruppe duldsamer Haubentaucher kann dies vielleicht
       auch gelingen.
       
       8 Jun 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.liberation.fr/debats/2019/06/02/alessandro-pignocchi-la-zad-a-defendre_1731180/
   DIR [2] https://www.odilejacob.fr/catalogue/art-et-litterature/arts/oeuvre-dart-et-ses-intentions_9782738127143.php
   DIR [3] https://www.ernster.com/de/detail/ISBN-9783841787910/Pignocchi-Alessandro/Les-intentions-du-dessinateur
   DIR [4] https://www.rts.ch/info/culture/livres/11037675-alessandro-pignocchi-vole-dans-les-plumes-des-maitres-du-monde.html
   DIR [5] https://www.persee.fr/doc/hom_0439-4216_1995_num_35_134_369932
   DIR [6] https://www.college-de-france.fr/fr/personne/philippe-descola
   DIR [7] https://www.seuil.com/ouvrage/ethnographies-des-mondes-a-venir-philippe-descola/9782021473018
   DIR [8] http://puntish.blogspot.com/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Benno Schirrmeister
       
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