URI: 
       # taz.de -- Parlamentswahl in Griechenland: Mitsotakis deklassiert die Linke
       
       > Mit riesigem Vorsprung gewinnt der konservative Premier Kyriakos
       > Mitsotakis. Nun setzt er auf Neuwahlen, um weiter allein regieren zu
       > können.
       
   IMG Bild: Affären und Skandale haben ihm nichts anhaben können: Kyriakos Mitsotakis ist der große Wahlsieger
       
       Athen taz | Als Kyriakos Mitsotakis am späten Sonntagabend von einem
       „politischen Erdbeben“ sprach, war das keine Übertreibung. Mit einem
       haushohen Vorsprung [1][hat die Nea Dimokratia des konservativen
       griechischen Ministerpräsidenten die Parlamentswahl in Griechenland
       gewonnen]. Die linke Syriza seines Vorgängers Alexis Tsipras wurde
       unerwartet heftig deklassiert. „Ganz Griechenland trägt heute die blaue
       Farbe“, schwärmte Mitsotakis in Anspielung auf die Parteifarbe der Nea
       Dimokratia. Auch wenn es kurios klingt: Nun strebt er schnelle Neuwahlen
       an.
       
       Nach Auszählung fast aller Stimmen kommt die Nea Dimokratia auf 40,8
       Prozent der Stimmen. Damit übertraf sie um rund einen Prozentpunkt ihr
       bereits hervorragendes Ergebnis bei der Parlamentswahl 2019. Noch
       entscheidender für Mitsotakis ist jedoch der Absturz der politischen
       Konkurrenz. Denn die zweitplatzierte Syriza, die vor vier Jahren noch 31,5
       Prozent erreichte, brach dramatisch ein. Sie kommt jetzt nur noch auf 20,1
       Prozent der Stimmen. Im neuen Parlament wird sie gegenüber der
       Mitsotakis-Partei nicht mal auf die Hälfte der Abgeordneten kommen.
       
       „Die Bürger wollen eine starke Regierung“, sagte Mitsotakis. Er sei „stolz
       und gerührt“. Der 55-jährige ehemalige Bankmanager, Spross einer der
       mächtigsten Politdynastien in Griechenland, wertete das Wahlergebnis als
       Auftrag der Bürger:innen, allein weiter zu regieren. Da bei dieser Wahl
       jedoch einmalig das reine Verhältniswahlrecht angewendet wurde, reicht sein
       Wahlerfolg dafür nicht aus. Die Nea Dimokratia kommt nur auf 146 der
       insgesamt 300 Sitze. Deswegen kündigte Mitsotakis schnelle Neuwahlen an.
       Bereits am 25. Juni oder am 2. Juli könnte der nächste Urnengang anstehen.
       Dann gilt wieder das alte Wahlrecht, das der stärksten Partei einen Bonus
       von bis zu 50 Mandaten beschert.
       
       ## Debakel für Syriza
       
       Völlig versagt haben – mal wieder – die griechischen Demoskop:innen. In all
       ihren Umfragen hatten sie ein weitaus engeres Rennen prognostiziert. Schon
       bei den vergangenen Wahlen hatten die Meinungsforschungsinstitute
       gravierend falsch gelegen – allerdings stets zulasten von Syriza, die sie
       stets unterbewertet hatten. Diesmal war es genau umgekehrt. In den letzten
       Umfragen rangierte die Partei noch zwischen 28,1 und 30,3 Prozent, die Nea
       Dimokratia zwischen 35,4 und 38 Prozent. Selbst bei den ersten Exitpolls
       nach Schließung der Wahllokale um 19 Uhr sahen sie Syriza noch weitaus
       stärker, nämlich zwischen 25 und 29 Prozent. Tatsächlich waren es noch weit
       weniger.
       
       Für Syriza ist der Wahlausgang ein absolutes Debakel. Nur noch 1,18
       Millionen Wähler:innen stimmten für die Partei, die von 2015 bis 2019
       die Geschicke Griechenlands bestimmt hatte. Das sind 600.000 weniger als
       beim letzten Mal. Die Nea Dimokratia behielt dabei in allen
       Wähler:innengruppen die Oberhand. Sogar bei den Jungwähler:innenn
       im Alter von 17 bis 24 Jahren lag die ND mit 31,5 Prozent der Stimmen vor
       ihrer Herausfordererin mit 28,8 Prozent.
       
       Dabei war die Schwester der deutschen Linkspartei zuversichtlich in die
       Wahlen gegangen. Ob die miserable Pandemie-Bilanz der Regierung Mitsotakis
       mit knapp 37.000 Corona-Toten bei gut zehn Millionen Einwohner:innen, ein
       ausgewachsener Abhörskandal mit einem Lauschangriff auf mutmaßlich mehr als
       einhundert Politiker:innen, Unternehmer:innen, Journalist:innen und
       Militärangehörige, ferner die allein im vorigen Jahr um 7,4 Prozent
       [2][geschrumpfte Kaufkraft der Verbraucher:innen] sowie die chronische
       Vetternwirtschaft und Korruption oder das verheerende Zugunglück im
       zentralgriechischen Tempital mit 57 Toten: Es hätte eigentlich genug Gründe
       für die Wähler:innen gegeben, die Nea Dimokratia abzustrafen. Doch
       stattdessen kehrten sie Syriza den Rücken.
       
       Als einer der Gründe gilt, dass Syriza einen hauptsächlich auf die Fehler
       und Versäumnisse der Regierung Mitsotakis zielenden Konfrontationskurs
       fuhr, ohne ihr ein eigenes überzeugendes Programm entgegensetzen zu können.
       Syriza konnte vor allem nicht die Frage klären, wie die Finanzierung der
       von ihr angestrebten Mehrausgaben des Staates solide gesichert werden kann.
       Wenige Tage vor dem Urnengang sorgte zudem eine Äußerung von Ex-Arbeits-
       und Sozialminister Georgios Katrougalos (Syriza) bei den Freiberuflern und
       Selbstständigen in Griechenland für Verwirrung, wonach eine
       Syriza-Regierung deren Sozialbeiträge wieder stark anheben würde. Ein
       „Eigentor in letzter Minute“, wie Athener Polit-Analysten unisono befanden.
       
       Ferner vermochte es Syriza-Frontmann Tsipras nicht, den Wähler:innen
       mögliche Koalitionspartner zu zeigen, mit denen er Mitsotakis hätte ablösen
       können. Konkret sprach sich Tsipras zwar immer wieder für eine „Koalition
       der fortschrittlichen Kräfte“ aus, um der Regierung Mitsotakis, der
       „übelsten Regierung der Rechten, die Griechenland je hatte“ (O-Ton
       Tsipras), ein Ende zu setzen. Aber sowohl die sozialdemokratische Pasok als
       auch MeRA 25, die Partei von Yanis Varoufakis, erteilten ihm eine schroffe
       Absage. Und die traditionskommunistische KKE steht ohnehin lieber stets
       außen vor.
       
       Im Syriza-Lager am Athener Klafthmonos-Platz herrschte bereits kurz nach
       Bekanntgabe der ersten Stimmenauszählungen Friedhofsstimmung. Angesichts
       der schweren Niederlage ließ sich Tsipras nicht bei den wenigen
       Anhänger:innen blicken, sondern blieb lieber in der Parteizentrale.
       Auch dort trat er nicht vor die Presse, sondern sendete nur eine
       einminütige Videobotschaft aus dem Haus. „Bei Wahlen gibt es sowohl Siege
       als auch Niederlagen“, teilte er mit. „Unsere kollektiven Gremien werden
       sofort einberufen, um die Wahlergebnisse zu bewerten“, kündigte Tsipras an.
       Noch sei der Wahlzyklus nicht abgeschlossen. „Wir müssen sofort alle
       notwendigen Änderungen vornehmen, um im nächsten und entscheidenden
       Wahlkampf die besten Voraussetzungen zu schaffen.“
       
       ## Varoufakis abgestürzt
       
       Der zweite große Wahlverlierer ist Yanis Varoufakis, der einstige
       Weggefährte von Alexis Tsipras. Der eigenwillige Wirtschaftswissenschaftler
       mit dem Popstarflair, der nach der Kapitulation der Syriza-Regierung vor
       der Eurogruppe im Juli 2015 als Finanzminister zurücktrat und zum
       politischen Gegner von Tsipras mutierte, war fest davon ausgegangen, dass
       seine Partei MeRA25 gestärkt im neuen Parlament vertreten sein würde. Sein
       Optimismus speiste sich nicht zuletzt daraus, dass er diesmal ein Bündnis
       mit den Resten der linksradikalen und EU-feindlichen Laiki Enotita
       („Volkseinheit“), einer anderen Abspaltung von Syriza, eingegangen war. Und
       alle Umfragen schienen ihm recht zu geben. Im taz-Interview vor knapp zwei
       Wochen hatte Varoufakis noch getönt: „Wir wollen regieren.“
       
       Doch stattdessen scheiterte seine „Allianz für den Bruch“ krachend. Bei der
       Wahl 2019 war MeRA25 noch auf 3,4 Prozent gekommen, nun stürzte sie auf 2,6
       Prozent ab und scheiterte damit an der in Griechenland geltenden
       Dreiprozenthürde. Von einem „unglaublichen Tsunami des Konservatismus“
       sprach Varoufakis am Wahlabend sichtlich schockiert. „Die Erdoğanisierung
       und Orbánisierung Griechenlands ist nun abgeschlossen“, sagte er zu seinen
       tief frustrierten Anhänger:innen, die sich in der Nähe der U-Bahn-Station
       in Panepistimio gegenüber der Athener Wirtschaftsuniversität versammelt
       hatten.
       
       Einen kleinen Überraschungserfolg konnte demgegenüber eine weitere frühere
       Syriza-Politikerin verbuchen: die ehemalige Parlamentspräsidentin Zoi
       Konstantopoulou. Die griechische Variante von Sahra Wagenknecht konnte sich
       mit ihrer linksnationalistischen Partei Plefsi Eleftherias („Kurs der
       Freiheit“) von 1,5 auf 2,9 Prozent steigern – was, wenn auch knapp,
       allerdings auch nicht zum Einzug ins Parlament reichte.
       
       Neben der Nea Dimokratia können sich die Pasok und die KKE als
       Gewinnerinnen der Wahl sehen. Die Pasok, die jahrzehntelang die griechische
       Politik maßgeblich bestimmt, jedoch mit der Eurokrise ihren Status als
       Volkspartei verloren hatte, steigerte ihren Stimmenanteil von 8,1 auf knapp
       11,5 Prozent. Der Zuspruch für die KKE, die ideologisch mit der DKP in
       Deutschland vergleichbar ist und für eine prinzipielle
       Fundamentalopposition gegenüber allen anderen Parteien steht, wuchs von 5,3
       auf 7,2 Prozent an. Bei beiden Parteien herrschte am Wahlabend
       Hochstimmung.
       
       Das Abschneiden seiner Partei sei eine „hoffnungsvolle Botschaft“ und zeige
       eine neue Dynamik im Kampf „gegen Monopole, Kapital und Kapitalismus“,
       sagte der KKE-Generalsekretär Dimitris Koutsoumpas. Der Pasok-Chef Nikos
       Androulakis, der sich von seinen Anhänger:innen vor der Parteizentrale
       im Athener Stadtteil Excharia feiern ließ, verkündete: „Wir greifen den
       Faden der Geschichte wieder auf.“ Das Wahlergebnis sei ein „großer
       Schritt“, um die Pasok wieder zur zweitstärksten Partei in Griechenland zu
       machen. Das sei das Ziel bei den voraussichtlichen Neuwahlen im Sommer.
       
       ## Grüne chancenlos
       
       Zu den Parlamentswahlen traten insgesamt 27 Parteien, 8 Wahlbündnisse und
       ein Einzelkandidat an. [3][Nicht zugelassen hatte] der Arios Pagos, der
       Oberste Gerichtshof, die Ethniko Komma-Ellines, eine Abspaltung der
       inzwischen verbotenen neofaschistischen Partei Chrysi Avgi. Davon
       profitiert hat zum einen die extrem rechte Elliniki Lysi, die sich von 3,7
       auf 4,5 Prozent steigern konnte und damit den Wiedereinzug ins Parlament
       schaffte. Zum anderen gingen die Stimmen von ganz rechts zu der
       nationalistischen und ultrareligiösen Partei NIKH, die von Teilen des
       orthodoxen Klerus unterstützt wurde und mit 2,9 Prozent nur denkbar knapp
       den Sprung über die Dreiprozenthürde verfehlt hat.
       
       Ebenfalls nicht zugelassen wurde aus formalen Gründen das Wahlbündnis Grün
       & Lila, in dem sich unter anderem Volt, die Piratenpartei, die Partei für
       Tiere und eine Abspaltung der Grünen zusammengeschlossen hatten. Die
       griechischen Grünen, die sich mit einer anderen ökologischen Partei zu
       einem Wahlbündnis zusammengeschlossen hatten, durften zwar kandidieren,
       erhielten jedoch nur 0,6 Prozent der Stimmen. Bei der Parlamentswahl 2019
       waren sie noch auf den Wahllisten von Syriza angetreten. Außerdem
       kandidierte noch die Grüne Bewegung, die auf 0,25 Prozent kam. In Hellas
       ist das politische Umweltspektrum kaum weniger gespalten als das linke,
       bewegt sich in der Wähler:innengunst aber auf weitaus niedrigerem
       Niveau.
       
       22 May 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Wahlergebnis-in-Griechenland/!5935822
   DIR [2] /Tag-der-Arbeit-in-Griechenland/!5928436
   DIR [3] /Rechtsradikale-in-Griechenland/!5927824
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ferry Batzoglou
   DIR Pascal Beucker
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Krise in Griechenland
   DIR Griechenland
   DIR Kyriakos Mitsotakis
   DIR Alexis Tsipras
   DIR Syriza
   DIR Pasok
   DIR Yanis Varoufakis
   DIR Nea Dimokratia
   DIR Griechenland
   DIR Griechenland
   DIR Griechenland
   DIR Griechenland
   DIR Türkei
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Parlamentswahlen in Griechenland: Erstarken des rechten Rands
       
       Die konservative Nea Demokratia hat die Parlamentswahlen gewonnen – trotz
       Stimmenverlusten. Aber der Preis dafür ist hoch.
       
   DIR Wahlen in Griechenland: Triumph und Waterloo
       
       Mitsotakis' Regierungspartei triumphiert, die ehemalige linke
       Hoffnungsträgerin Syriza geht baden. Alexis Tsipras muss jetzt die
       Reißleine ziehen.
       
   DIR Syriza vor der Wahl in Griechenland: Links ist die Hoffnung
       
       Griechenlands linke Partei Syriza saß nun vier Jahre in der Opposition. Am
       Sonntag hofft sie auf den Wahlsieg. Doch noch ist offen, wer vorne liegt.
       
   DIR Parlamentswahl in Griechenland: So stimmt die Jugend
       
       In Griechenland dürfen nun auch Jugendliche mit 16 Jahren wählen. Sieben
       Erstwähler*innen haben der taz erzählt, für wen sie stimmen wollen – und
       warum.
       
   DIR Griechischer Politiker Varoufakis zu Wahlen: „Wir Linken zerfleischen uns“
       
       Der kleinste gemeinsame Nenner der Wahlen in Bremen und Griechenland? Der
       griechische Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis und seine paneuropäische
       Partei.