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       # taz.de -- Kirchenasyl in Deutschland: Engagiert in der Grauzone
       
       > Häufig kann Kirchenasyl bei Härtefällen eine Abschiebung verhindern.
       > Dabei stoßen engagierte Helfer*innen immer wieder an Grenzen.
       
   IMG Bild: Wenn in Härtefällen alle rechtlichen Mittel ausgeschöpft sind, hilft Kirchenasyl immer wieder
       
       Berlin taz | An einem Novembertag 1984 stehen auf einmal Polizisten im
       Vorgarten der St. Stephanus-Gemeinde in Hamburg-Eimsbüttel. Sie sind in
       großer Besetzung angerückt, um hier eine Mutter und ihre zwei Kinder
       abzuholen: Die Familie Alviola soll auf die Philippinen abgeschoben werden.
       
       Susan Alviola und ihre Kinder ziehen sich in den Altarraum der Kirche
       zurück. Die Polizei dringt ein und trägt die Familie raus. Die damals
       14-jährige Tochter Clarizze erinnert sich heute daran, sich mit Händen und
       Füßen gewehrt zu haben, sie verliert ihre Brille und einen Schuh im
       Kirchenschiff. Dann geht alles ganz schnell: Nach kurzer Abschiebehaft wird
       die Familie nach Manila gebracht.
       
       Damit endete einer der ersten Fälle von [1][Kirchenasyl in Deutschland.]
       Pastor Thomas Heß sagt heute: „Wir hatten damals keinen Fahrplan. Wir
       wussten theoretisch, wie Kirchenasyl aussehen könnte, aber praktisch hatten
       wir keine Erfahrung.“ Für die Gemeinde St. Stephanus in Hamburg, die als
       politisch engagierte und linke Gemeinde bekannt ist, war es trotzdem
       selbstverständlich, hier einzuspringen.
       
       Als die Familie einige Wochen zuvor aufgenommen wurde, sollte einfach Zeit
       zum Aushandeln einer Lösung gewonnen werden. Clarizze erinnert sich daran,
       während des Kirchenasyls ständig angespannt gewesen zu sein. Die Familie
       war im Gemeindehaus nie alleine: Zu jeder Tages- und Nachtzeit waren
       Menschen vor Ort, die kochten oder die Mutter bei Besorgungen begleiteten.
       
       Damit wollten sie verhindern, dass die Familie ohne Zeugen und Gegenwehr
       abgeholt werden kann. Die Polizisten kamen, während Thomas Heß mit einem
       Staatsrat in einem Café saß – vorgeblich zu einem Gespräch über eine
       mögliche Lösung verabredet. Der Pastor vermutet, dass er auswärts sein
       sollte, während die Polizei anrückte.
       
       ## 98 Prozent der Kirchenasylfälle sind erfolgreich
       
       Ganz bewusst bemühte sich die Gemeinde lange um Öffentlichkeit. Nichts
       sollte im Verborgenen stattfinden, um durch den öffentlichen Druck die
       erneute Prüfung des Falles zu erzwingen. „Dass unser Kirchenasyl so
       konfrontativ war, hat die Verantwortlichen in der Behörde vermutlich
       geärgert“, sagt Heß.
       
       Seitdem hat [2][die Kirchenasylbewegung viel Erfahrung] gesammelt: In
       diesem Jahr begeht sie ihr vierzigstes Jubiläum. Nach eigenen Angaben
       wurden seit 1996 mindestens 13.469 Gäste im Kirchenasyl beherbergt. Als
       2013 eine Gruppe Geflüchteter aus Lampedusa in Hamburg in der Sankt
       Pauli-Kirche aufgenommen wird, sind 80 Fälle verzeichnet.
       
       Zwei Jahre später, 2015, geht es [3][schon um 620 Fälle]. Im gleichen Jahr
       kommt es zu einer Vereinbarung zwischen Innenministerium, Bamf und
       Kirchen. Gemeinden und Gemeinschaften, die Kirchenasyl aussprechen, haben
       jetzt die Möglichkeit, in Härtefalldossiers die Gründe für die Gewährung
       von Kirchenasyl darzulegen und damit eine erneute Prüfung der Fälle zu
       erwirken.
       
       Pastorin Dietlind Jochims, Flüchtlingsbeauftragte der Nordkirche, sagt:
       „Wir wissen zurzeit von 425 aktiven Kirchenasylen mit mindestens 685
       Personen, davon sind etwa 156 Kinder.“ Beim Großteil geht es um sogenannte
       Dublin-Fälle. Den Menschen droht die Rückführung in einen EU-Staat.
       
       In solchen Fällen hilft es häufig, Zeit zu gewinnen. Denn die Behörden
       haben meist nur 6, in Ausnahmefällen 18 Monate Zeit, um die Menschen
       abzuschieben. Mit den Härtefalldossiers wollen die Kirchen erwirken, dass
       sich die Behörden in dieser Zeit entscheiden, den Asylantrag neu zu prüfen
       – etwa wenn bei der Abschiebung Menschenrechtsverletzungen drohen. Zu der
       Prüfung kommt es in der Frist jedoch nicht immer. Wenn die Flüchtlinge die
       [4][Zeit im Kirchenasyl „absitzen“], ist der Staat aber gezwungen, den
       Asylantrag zu bearbeiten.
       
       Szenen, in denen Menschen mit Gewalt aus dem Kirchenasyl entfernt werden,
       wie im Fall der Familie Alviola, gibt es heute selten. Inzwischen sind 98
       Prozent der Kirchenasyle erfolgreich. Sie verhindern eine Abschiebung oder
       erreichen mindestens eine Duldung.
       
       ## Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen
       
       Trotzdem bleibt das [5][Kirchenasyl rechtlich eine Grauzone]. Wer in der
       Bundesrepublik Kirchenasyl gewährt, setzt sich über die Entscheidung des
       Staats hinweg, der nach geltendem Recht einen negativen Asylbescheid
       ausgesprochen hat. Immer wieder kommt es in einigen Bundesländern, zuletzt
       in Bayern, auch zu Anklagen gegen die Helfer*innen, wie in dem Fall der
       Äbtissin Mechthild Thürmer, die der Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt in
       drei Fällen angeklagt wurde. Das Verfahren wurde eingestellt.
       
       Setzen sich die Kirchen über den Rechtsstaat hinweg? „Kein System, kein
       Staat ist perfekt“, entgegnet Dietlind Jochims. „Wir möchten mit dem Schutz
       in besonderen Härtefällen dem Rechtsstaat zu Entscheidungen verhelfen, die
       seinen eigenen humanitären Standards und internationalen Verpflichtungen
       besser entsprechen.“
       
       Sie sieht eine der Aufgaben der Kirchen darin, für die Wahrung der
       Menschenrechte und die Achtung der Menschenwürde einzutreten. „Eine
       Kriminalisierung dieses Einsatzes für Menschen halte ich für schädlich für
       den Rechtsstaat und einen europäischen Raum von Sicherheit und Recht.“
       
       ## Gründung von Hoffnungsgrund e.V.
       
       Das Kirchenasyl sei die [6][Ultima Ratio zur Verhinderung drohender
       Menschenrechtsverletzungen], so die Evangelische Kirche von Westfalen. Ob
       Gemeinden oder Gemeinschaften Kirchenasyl anbieten, hängt letztendlich vom
       Engagement der Kirchenvertreter vor Ort ab, wie zum Beispiel dem Verein
       Hoffnungsgrund e. V. Gegründet wurde er 2014 von Lexa Harloff-Düring und
       Jonathan Düring. Sie waren von Medienberichten über die Arbeitsweise der
       Hamburger Ausländerbehörde schockiert: „Da haben wir zu uns gesagt – jetzt
       schauen wir, dass wir die Möglichkeit finden, Menschen, die Rast brauchen,
       zu begleiten“, sagt Lexa Harloff-Düring.
       
       Die beiden machen sich auf die Suche nach einem geeigneten Grundstück.
       Fündig werden sie in der Kirchengemeinde Sandesneben in Schleswig-Holstein.
       Die Gemeinde bietet ihnen ein leer stehendes Pastorat an, das sie anmieten.
       Der norddeutsche Backsteinbau von 1890 mit riesigem Garten wird von der
       Gemeinde hergerichtet, dann zieht das Ehepaar ein.
       
       Seitdem haben sie dort ungefähr 140 von Abschiebung bedrohte Menschen
       beherbergt. Aus Somalia, der Türkei, aus Armenien oder Syrien. Finanziert
       wird das hauptsächlich durch Spenden. „Wir versuchen, so gut wir es können,
       für sie da zu sein. Es braucht einen angstfreien Raum, damit die Seele zur
       Ruhe kommen kann“, sagen die Dürings.
       
       ## Das gemeinsame Essen gibt den Familien Halt
       
       Mit 19 Menschen teilen sie gerade das Haus. Vier Familien mit Kindern, alle
       sind kurdischer Herkunft, aus Iran und aus der Türkei. „Wir bemühen uns,
       dass unsere Gäste ein möglichst ‚normales‘ Familienleben haben. Das macht
       es für sie besser erträglich. Am Anfang, als wir noch nicht so viele Gäste
       hier hatten, haben wir immer miteinander gekocht. Aber wir haben
       festgestellt, dass Essen in der Familie Halt und Identität in Zeiten geben
       kann, wo sonst alles unsicher ist und zu zerfließen droht“, erzählt Lexa
       Harloff-Düring. Im Haus gibt es genug Platz: Jede der drei Etagen hat eine
       Küche, jede Familie hat ihr eigenes Bad.
       
       „Ich gehe zweimal die Woche einkaufen. Ich bin jetzt darin gut geworden:
       So zweieinhalb Stunden brauche ich, um alle Essensbestellungen
       zusammenzustellen“, erzählt Jonathan Düring. Nicht immer kann er im
       ländlichen Raum alle gewünschten Dinge bekommen. Möglich ist der
       Großeinkauf wegen der Unterstützung der örtlichen Tafel, die das Projekt
       durch ihre Spenden entlastet.
       
       Bis auf die schulpflichtigen Kinder darf niemand der Gäste das Gelände
       verlassen, weil ihnen sonst jederzeit droht, aufgegriffen und abgeschoben
       zu werden. Aber es kommt viel Besuch: Geflüchtete aus den umliegenden
       Gemeinden kommen vorbei, um sich Beratung zu holen. Eine interkulturelle
       Kindergruppe trifft sich regelmäßig auf dem Gelände. Die Frauen haben meist
       im Haus zu tun, die Männer arbeiten tagsüber im Garten, auf dem kirchlichen
       Friedhof oder auf dem Kirchengelände.
       
       ## Freiwillige Hilfe im Krankheitsfall
       
       Meist geht es den Gästen um das Überstehen der Dublin-Zeit. Aber jeder Fall
       ist anders. Einige haben die Frist schon nach sechs Wochen überstanden, in
       anderen Fällen bleiben Familien aber auch achtzehn Monate hier. Eine Frau
       wurde schwanger und entband während ihrer Zeit im Kirchenasyl – eine
       Herausforderung, denn in dieser Situation [7][sind die Gäste nicht
       krankenversichert]. Helfen können freiwillig kirchliche Krankenhäuser,
       Ärztinnen und Ärzte, die kostenlos behandeln oder die Kirche, indem sie die
       Kosten der Behandlung trägt.
       
       Die meisten Gäste, die hier Zuflucht gefunden haben, dürfen in Deutschland
       bleiben. Besonders im Kopf blieb dem Ehepaar eine jesidische Familie mit
       zwei Kindern, die das [8][Massaker des „Islamischen Staates“] in ihrem
       Heimatort überlebte. Auf der Flucht über Bulgarien wurden sie im Gefängnis
       getrennt. Sie landeten in Bayern, von wo aus sie nach Bulgarien abgeschoben
       werden sollten. Um den Suizid der traumatisierten Mutter zu verhindern,
       flüchtete der Vater mit ihr und den Kindern vor der Polizei. Die Familie
       kam im Hoffnungsgrund e. V. unter. Heute lebt sie mit gesichertem
       Aufenthaltsstatus in Bayern. Der Vater hat eine feste Stelle, die Kinder
       sind gut in der Schule.
       
       Und die Familie Alviola? Sie erhält schließlich ein Visum für Kanada.
       Clarizze arbeitet dort heute ehrenamtlich mit Menschen ohne Papieren.
       
       Einfach ist es nicht immer, erzählen die Dürings noch: „An unsere Grenzen
       stoßen wir eigentlich täglich. Es ist oft schwer auszuhalten, nur begrenzt
       helfen zu können, bei den Folgen der Traumatisierung durch schlimme
       Fluchterfahrungen oder bei verzweifelter Angst vor Ablehnung und
       Abschiebung. Aber wenn es uns ganz schwer wird, dann schauen wir uns an und
       sagen uns ‚Wir sind hier für die Hoffnung zuständig‘ – und dann machen wir
       weiter.“
       
       7 Jun 2023
       
       ## LINKS
       
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