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       # taz.de -- Türk*innen in Deutschland: Warum Erdoğan so beliebt ist
       
       > Viele Türk*innen in Deutschland wählen konservativ. Das hat nicht nur
       > demografische Gründe, sondern hat auch mit Ausgeschlossensein zu tun.
       
   IMG Bild: Erdoğans Fans feiern in Duisburg-Marxloh am 14. Mai
       
       Im Ringen um die türkische Präsidentschaft läuft Amtsinhaber Recep Tayyip
       Erdoğan in Deutschland außer Konkurrenz. Zwar ging in der ersten Wahlrunde
       nur knapp die Hälfte der 1,5 Millionen Türk*innen in Deutschland
       überhaupt zur Wahl, doch die stimmten ganz überwiegend für den Amtsinhaber.
       [1][Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu] bekam nur ein knappes Drittel der
       Stimmen.
       
       Warum halten die [2][türkischen Wähler*innen in Deutschland so deutlich
       zu einem Autokraten], der die Demokratie in ihrem Herkunftsland
       systematisch demontiert und die dortige Wirtschaft ruiniert hat?
       
       Expert*innen verweisen als Erklärung insbesondere auf die
       [3][geografische und soziale Herkunft der türkischen Gastarbeiter], die in
       den 60er Jahren nach Deutschland geworben wurden. „Es sind vor allem
       Menschen aus dem konservativ-religiösen Unterschichtsmilieu vom Land
       gekommen“, sagt Yunus Ulusoy, Programmleiter bei der Stiftung Zentrum für
       Türkeistudien und Integrationsforschung.
       
       Er spricht von „mitgebrachten politischen und weltanschaulichen
       Überzeugungen“. Die habe die Gastarbeitergeneration auch an ihre Kinder und
       deren Kinder weitergegeben. Und wer konservativ ist, stimmt eben für
       Erdoğan.
       
       ## Nirgendwo so beliebt wie im Ruhrgebiet
       
       Das Gleiche zeigt sich in anderen Staaten, die einst
       Gastarbeiter*innen aus den ländlichen Regionen der Türkei anwarben. In
       Österreich und Belgien erhielt Erdoğan unter den Türk*innen sogar noch
       größere Stimmanteile als in Deutschland.
       
       Hacı-Halil Uslucan, Professor für Integrationsforschung an der Uni
       Duisburg-Essen, sagt: „In Großbritannien und den USA ist es genau
       andersherum. Nach dort gingen die westlich orientierten und akademisch
       gebildeten Schichten aus den Städten.“ Das zeigt sich an den
       Wahlergebnissen: 18 Prozent der Türk*innen in Großbritannien wählten
       Erdoğan, in den USA waren es sogar nur 16 Prozent.
       
       Ähnliches lässt sich teils auch innerhalb Deutschlands beobachten.
       Nirgendwo im Bundesgebiet erhielt Erdoğan im ersten Wahlgang so hohe
       Stimmenanteile wie unter den rund 500.000 türkischen Staatsbürger*innen
       im Ruhrgebiet, in Essen wählten ihn fast 80 Prozent. Die dortige
       Schwerindustrie hatte in den 60er Jahren besonders viele
       Bergarbeiter*innen aus den Schwarzmeer-Regionen der Türkei geworben.
       Dort erhält Erdoğan heute ähnlich hohe Stimmanteile wie im Ruhrgebiet.
       
       Ganz anders Berlin, wo rund 90.000 Menschen mit türkischem Pass leben. Viel
       Schwerindustrie gab es hier nie, die lange geteilte Großstadt zog andere
       Menschen an. Uslucan sagt: „Das türkische Milieu in Berlin ist kritischer,
       [4][viele kamen auch 2016 nach dem gescheiterten Putschversuch].“ Im ersten
       Wahlgang erhielt Erdoğan hier deutlich weniger Stimmen als im Rest
       Deutschlands. Für ihn und Kılıçdaroğlu stimmten jeweils rund 49 Prozent der
       Wahlberechtigten.
       
       ## Von der deutschen Mehrheitsgesellschaft entfremdet
       
       Zum sozialen, geografischen und demografischen Hintergrund der Türk*innen
       in Deutschland kommen noch weitere Faktoren, die die Zustimmung zu Erdoğan
       in die Höhe treiben. Etwa, dass die Wähler*innen in Deutschland vor
       vielen negativen Folgen von Erdoğans Politik abgeschirmt sind. „Repression,
       Wirtschaftskrise und Inflation in der Türkei treffen diese Leute einfach
       nicht“, sagt Uslucan. Auch das [5][Erdbeben im April und die katastrophalen
       Folgen] betreffen höchstens Verwandte.
       
       „Stattdessen sehen die Leute positive Veränderungen, etwa in den
       Konsulaten“, sagt Uslucan. „Dort wurden sie lange von der Elite von oben
       herab behandelt, geradezu erniedrigt.“ Das habe sich unter Erdoğan deutlich
       geändert, auch das Wählen selbst sei einfacher geworden.
       
       Erdoğans konservative Motive von Nationalstolz und Religion verfangen aber
       auch, weil viele Türk*innen sich von der deutschen Mehrheitsgesellschaft
       entfremdet fühlen. Das geht insbesondere auf die unseligen deutschen
       „Integrationsdebatten“ zurück, die, befeuert von konservativen deutschen
       Politiker*innen, seit Jahrzehnten Menschen aus muslimischen Ländern
       herabsetzten. „Auch der dritten Generation der Türken in Deutschland wird
       streitig gemacht, wirklich dazuzugehören“, fasst Ulusoy zusammen.
       
       Und Uslucan sagt: „In den Integrationsdebatten geht es fast immer in
       negativer Weise um Türken und Muslime. Und dann kommt ein Präsident, der
       sagt: Ihr gehört zu uns.“ Die Botschaft: Das Land, in dem ihr lebt, kümmert
       sich nicht um euch, aber wir schon. „Diese Umarmung wirkt.“
       
       25 May 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Frederik Eikmanns
       
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