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       # taz.de -- Flüchtlingspolitik in Griechenland: Ärzte vermissen 1.000 Geflüchtete
       
       > Ärzte ohne Grenzen kann fast 1.000 Menschen auf Lesbos nicht mehr finden.
       > Die Regierung bestreitet, Flüchtende illegal aufs Meer zu drängen.
       
   IMG Bild: Menschen versuchen über das Ägäische Meer die griechische Küste zu erreichen
       
       Berlin taz | Fast 1.000 Geflüchtete sind in den vergangenen zehn Monaten
       auf der Ägäis-Insel Lesbos verschwunden. Das berichtete die
       Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (ÄoG) am Freitag. „Wir versorgen seit
       Juni 2022 mit Booten auf Lesbos ankommende Menschen medizinisch. Seitdem
       konnten wir etwa 940 Menschen nicht wieder auffinden“, sagt Nihal Osman,
       die Projektkoordinatorin von ÄoG auf Lesbos.
       
       Die Teams der Hilfsorganisation werden alarmiert, wenn Migrant*innen auf
       Lesbos ankommen und medizinische Hilfe benötigen. Dabei hätten
       Patient*innen berichtet, bei früheren Versuchen, Griechenland zu
       erreichen, gewaltsam abgefangen und aufs Meer zurückgedrängt worden zu
       sein.
       
       Seit etwa 2014 ist bekannt, dass Griechenland ankommende Schutzsuchende
       illegal und mit Gewalt in die Türkei oder in internationale Gewässer
       zurückdrängt. Ab 2020 hat sich die Intensität und die Gewalt der
       sogenannten Pushbacks stark verschärft, es gab immer wieder Todesfälle.
       Auch die EU-Grenzschutzagentur Frontex war in die Maßnahmen verstrickt. Die
       griechische Regierung streitet dies trotz erdrückender Belege bis heute ab.
       
       In der vergangenen Woche [1][präsentierte die New York Times (NYT) erstmals
       ein Video,] das zeigt, wie Asylsuchende, darunter kleine Kinder, von der
       griechischen Küstenwache zusammengetrieben, auf das Meer gebracht und auf
       einem Floß ausgesetzt werden.
       
       „Wir haben die griechischen Behörden aufgefordert, diesen Vorfall
       vollständig und unabhängig zu untersuchen“, sagte die EU-Innenkommissarin
       Ylva Johansson. Die NYT hatte berichtet, dass das Boot, mit dem die
       Migrant*innen auf dem Meer ausgesetzt wurden, durch EU-Mittel finanziert
       sei. Die EU könne nicht ausschließen, dass EU-Gelder für die illegalen
       Abschiebungen benutzt würden, hieß es dazu vonseiten der Kommission.
       
       Am Mittwoch wurde [2][der gerade wieder gewählte griechische
       Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis] zu den Enthüllungen vom
       US-Nachrichtensender CNN befragt. Während das NYT-Video im Hintergrund
       lief, behauptete Mitsotakis erneut, dass seine Regierung keine Pushbacks
       durchführe.
       
       ## Essensausgabe im Flüchtlingslager gestoppt
       
       Bereits am 17. Mai hatten die griechischen Behörden die Essensausgabe für
       einen Teil der Bewohner:innen der beiden Flüchtlingslager auf der Insel
       Lesbos eingestellt. Die Behörden kündigten an, die Menschen von der Insel
       vertreiben zu wollen, berichtet Ärzte ohne Grenzen.
       
       „Das Ministerium setzt eine Reduktion der Lebensmittel als Druckmittel ein,
       um die Menschen zu zwingen, die Einrichtung zu verlassen“, sagt die
       ÄoG-Koordinatorin Nihal Osman. Nach taz-Informationen sind rund 500 der
       etwa 2.300 dort Untergebrachten davon betroffen. Sie sind auf
       Lebensmittelverteilung von Hilfsorganisationen angewiesen.
       
       [3][Die EU plant, Asylverfahren künftig in Lagern direkt an den
       Außengrenzen zu konzentrieren]. Griechenland ist eines der Länder, in denen
       dies bereits in einer Vorform praktiziert wird. [4][Die Ampel hat
       Zustimmung dazu signalisiert], das Verfahren EU-weit zur Regel zu erheben.
       
       ## Jurist:innen gegen Verschärfungen des Flüchtlingsrechts
       
       Am Freitag [5][wandten sich deshalb rund 700 Jurist:innen in einem vom
       Republikanischen Anwaltsverein initiierten Schreiben] an die
       Regierungsparteien. „Wir stehen in diesen Tagen vor den massivsten
       Verschärfungen des Flüchtlingsrechts seit Jahrzehnten“, heißt es darin. Die
       EU-Pläne würden einen „Zustand der Rechtlosigkeit statuieren“. Es drohe
       massenhafte Internierung. „Wir fordern die Bundesregierung und die
       verantwortlichen Politiker*innen auf, sich auf Verfassung und
       Menschenrechte zu besinnen, anstatt in einer aufgeladenen Debatte tragende
       Grundpfeiler des Rechtsstaates über Bord zu werfen“, so der offene Brief.
       
       26 May 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.nytimes.com/2023/05/19/world/europe/greece-migrants-abandoned.html
   DIR [2] /Parlamentswahl-in-Griechenland/!5935819
   DIR [3] /Gefluechtete-an-EU-Aussengrenzen/!5935339
   DIR [4] /Fluechtlingsgipfel-im-Kanzleramt/!5933919
   DIR [5] https://www.rav.de/publikationen/mitteilungen/mitteilung/das-recht-auf-schutz-darf-nicht-abgeschafft-werden-949
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Jakob
       
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