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       # taz.de -- Erdoğan, SPÖ und AfD: Von Federn und Verantwortung
       
       > Diese Woche ist sehr viel Mist passiert, an dem jeweils niemand so recht
       > Schuld sein wollte. Mindestens ein Hühnchen gibt es aber noch zu rupfen.
       
   IMG Bild: Hühnerfeder
       
       Es ist so: Ich bin ein ziemlich haariges Wesen. Und zu meiner Erschwernis
       kommt hinzu, dass ich schwarze Haare habe. „Da sind überall Haare von dir!“
       ist ein mir nicht unbekannter innerfamiliärer Vorwurf. Zum Glück habe ich
       seit einiger Zeit einen Hund, Frau Dr. Bohne, einen Jagdterrier. Sie hat
       auch überwiegend schwarze Haare, und das hat einen erfreulichen
       Nebeneffekt: An herumliegenden schwarzen Haaren in der Wohnung ist jetzt
       ausschließlich Frau Dr. Bohne schuld! Sie übernimmt jetzt dafür die volle
       Verantwortung, dafür kaufe ich ihr Futter. Verantwortung gegen Futter, so
       lautet der Deal. Das ist wie bei Beratern, Ministern oder sonstigen
       Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern: Sie werden bisweilen vor allem dafür
       bezahlt, dass man ihnen die Schuld zuschieben kann.
       
       Der türkische Präsident Erdoğan zum Beispiel ist gerade wiedergewählt
       worden, obwohl seine Bilanz nicht gerade rosig ist. [1][Allein die
       wirtschaftliche Lage: eine Katastrophe]. Die Inflation in der Türkei
       beträgt immer noch um die 40 Prozent. Und was macht Erdoğan? Tauscht zu
       Beginn seiner Regierungszeit einfach mal das komplette Kabinett aus. „Ist
       doch klar“, sagt Frau Dr. Bohne. „So zeigt er: ‚Für die Misere ist jemand
       verantwortlich – aber ich nicht, haha!‘ Das ist doch ein schlauer Move.
       Wetten, dass alte und neue Minister dafür sehr gut bezahlt werden,
       inklusive Beteiligung an schmierigen Arrangements?“
       
       Apropos schmierig: Ein [2][politisches Husarenstück] gab es diese Woche mal
       wieder in Österreich. Frau Dr. Bohne ist Wienerin, ich bin Wahl-Wiener, wir
       schauen mit durchaus liebevollem Schmäh auf dieses Land. Aber was die SPÖ
       jetzt hingelegt hat, verdient schon eine gehörige Portion Spott. Bei der
       Wahl eines Parteichefs – nach jahrelangem Streit und einer
       Mitgliederbefragung – wurden auf dem Parteitag die Ergebnisse der zwei
       Kandidaten vertauscht. Jemand kam offensichtlich mit dem Programm Excel
       nicht klar. Jedenfalls wurde zuerst ein Sieger verkündet, um ein paar Tage
       später bekannt zu geben: Huch, war doch andersrum, [3][der Verlierer ist
       der Gewinner]! Das, finden Frau Dr. Bohne und ich, riecht ausnahmsweise mal
       nicht nach Korruption, sondern nach völlig neue Maßstäbe setzender
       Blödheit. Verantwortlich gemacht wird dafür keiner so richtig. War halt ein
       Fehler, kann mal passieren …
       
       Massiv nach Verantwortlichen suchen hingegen Politiker derzeit für das
       [4][Erstarken der sogenannten Alternative für Deutschland]. Diese
       rechtspopulistische bis rechtsextreme Partei liegt Umfragen zufolge
       bundesweit bei 18 Prozent und damit gleichauf mit der SPD, in
       Ostdeutschland sogar bei beschämenden 32 Prozent. Die CDU findet, die
       Ampelkoalition sei schuld (zu viel Gendern und so). Die Regierung findet,
       die CDU sei schuld (zu viel Salonfähigmachen von rechtspopulistischem
       Gequatsche und so). „Jeder sucht nur das Haar in der Suppe!“, schimpft Frau
       Dr. Bohne. „Anstatt sich mal zu fragen, ob man nicht etwas grundsätzlich an
       der Suppe ändern sollte, damit sie mehr Menschen und Hunden schmeckt.“
       
       Manchmal verliert aber wirklich nur einer Haare. Wenn ein Staat ein Land
       angreift, einmarschiert, zerbombt, Menschen tötet und eine Katastrophe von
       ungeheuerlichem Ausmaß anrichtet, sind eben dieser Staat und seine
       Regierung schuld. Nach mehr als einem Jahr Krieg hat Russland diese Woche
       mutmaßlich [5][einen Staudamm gesprengt]. Zehntausende Menschen haben nun
       kein Trinkwasser mehr, die Umwelt wird durch die Flut massiv geschädigt.
       Trotzdem sagen Linke und Rechte in Deutschland gleichermaßen: Jetzt müsse
       man mit Russland verhandeln. „Nein!“, bellt Frau Dr. Bohne. „Da muss man
       sich nicht an einen Tisch setzen und darüber reden, dass doch irgendwie
       beide Seiten irgendwie Haare verlören!“
       
       Und zuletzt: Egal, wie man [6][zum EU-Asylkompromiss steht] – Frau Dr.
       Bohne und ich sind da unterschiedlicher Auffassung -, haben die Grünen
       ziemlich Haare verloren, pardon: Federn gelassen. Da wird, da sind wir uns
       beide sicher, in den nächsten Tagen noch das eine oder andere Hühnchen
       gerupft werden.
       
       10 Jun 2023
       
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